Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

VIII

Gina Jeromin war nun siebzehn Jahre alt und seit zwei Jahren in der Kreisstadt im Dienst. Sie hatte eine Reihe von Stellenangeboten gehabt, und Gotthold hätte gern gewollt, daß sie bei einem reichen Sägewerksbesitzer eintrete. Aber Gina hatte ihn hochmütig angesehen und gefragt, ob er vielleicht meine, daß sie Handlangerdienste für ihn tun solle. Dann hatte sie die Stelle bei Frau von Manteuffel angenommen, deren Mann das Infanteriebataillon der Stadt befehligte.

Sie war nur ein halbes Jahr in der Küche gewesen und dann Stubenmädchen geworden. Sie war schweigsam, gewandt, lautlos in ihren Bewegungen und hielt sich ganz für sich. Wenn Frau von Manteuffel einen Tee für die Damen des Bataillons und der Stadt gab, wies sie manchmal mit einer Kopfbewegung auf Gina hin, die die Tassen herumreichte, und sobald sie lautlos das Zimmer verlassen hatte, fragte sie ihre Damen, ob es nicht seltsam sei, was für Blumen in den elenden Walddörfern lebten.

Gina war in der Stadt nicht glücklich, wie Gotthold, und nicht unglücklich, wie Jons es manchmal war. Sie wartete ihre Zeit ab, und während des Wartens bereitete sie sich vor. Kein Wort und keine Bewegung auf einer Abendgesellschaft entging ihr, keine Einzelheit an Haartracht oder Kleidung, nicht, wie man die Hand zum Kusse reichte, und nicht, wie man von einer Speise nahm. Sie bewahrte Briefe und Einladungen, die man achtlos in den Papierkorb geworfen hatte, las sie hundertmal und erlernte jede Wendung, die ihr nützlich oder vornehm schien. Sie legte Lohn auf Lohn und Trinkgeld auf Trinkgeld. Sie verkaufte die Schokolade, die der Kaufmann ihr schenkte, an Mädchen aus Nachbarhäusern, etwas billiger und unter dem Vorwand, daß sie keine Süßigkeiten esse. Sie ging ab und zu zum Tanz, aber ohne einen Pfennig auszugeben, und sie ließ sich niemals nach Hause begleiten. Sie kaufte sich ein einziges Buch, das vom guten Ton in allen Lebenslagen handelte, lernte es fast auswendig und las jede Zeitung und Zeitschrift, die fortgelegt wurde, selbst das Militär-Wochenblatt.

Keines der Jerominkinder ging mit einer so stählernen und düsteren Entschlossenheit auf ihr Ziel zu wie sie.

Sie war sehr schön, von einer schweigsamen und gefährlichen Schönheit, und als sie im dritten Jahr ihre Entlassung erbat, erhielt sie sie friedlich und ohne viel Widerstreben. Es war Frau von Manteuffel nicht angenehm, daß junge Leutnants, die zum erstenmal ins Haus kamen, sich vor Gina im Flur verbeugten, unsicher, ob sie ein Mädchen oder eine Gesellschafterin sei. Sie verließ das Haus mit einem hervorragenden Zeugnis, einer Menge abgelegter und sehr gut erhaltener Kleider, einem kleinen Kapital und mit Kenntnissen, von denen in Sowirog sich niemand etwas hätte träumen lassen.

Sie bekam von Herrn von Manteuffel einen alten Koffer geschenkt, auf dem sie nur die Anfangsbuchstaben seines Namens erneuerte, ließ ihn auf der Bahn und ging zu Fuß nach Sowirog, wo sie, ohne das Dorf zu berühren, beim Meiler ankam.

Jakob sah seine Tochter verlegen an und strich einmal mit den Fingerspitzen vorsichtig über das feine Tuch ihrer Jacke. Sie gehe fort, sagte Gina, in die Reichshauptstadt. Hier sei ihr Zeugnis, und sie bitte ihren Vater um etwas Schriftliches, damit sie bei einer neuen Stellung als Minderjährige keine Schwierigkeiten bekomme. Sie nahm Tinte, Federhalter und ein Blatt Papier aus ihrer Handtasche und sah zu, wie Jakob mit seinen großen, geraden Buchstaben das Verlangte schrieb. Er hatte noch keine Frage gestellt. Seine Kinder waren so klug geworden, daß er sie nichts zu fragen hatte.

Erst als sie ihre Handtasche wieder geschlossen hatte und aus der Tür der Hütte auf den Meiler blickte, fragte er leise, was sie denn dort tun werde in der fremden Stadt, ganz fremd und allein. Sie werde in ein Hotel gehen, erwiderte Gina, in ein großes Hotel, wo Fürsten und Ausländer wohnten, und dann werde sie weiter sehen.

Jakob war niemals in einem Hotel gewesen, und er wußte nicht recht, als was sie dorthin gehen werde. Er wunderte sich nur, was für Kinder er hatte. Der Wald stand groß und schweigend da wie immer, etwas lichter geworden durch die Nonne und immer leerer, weil eines seiner Kinder nach dem andern von ihm fortging. Was sollte er zu seiner Tochter sprechen, die vom Meiler in die Hauptstadt ging, zu Fürsten und Menschen, die eine andere Sprache redeten? Er wußte von dieser Tochter nichts. Sie war immer gehorsam gewesen und still. Sie hatte ihm ein Paar Handschuhe zu Weihnachten gestrickt und sie auf seinen Platz gelegt. Er hatte sich gefreut, aber wenn er an ihr stolzes, kaltes Gesicht gedacht hatte, war ihm manchmal bei der Arbeit im Walde gewesen, als sei es ihm ohne diese Handschuhe wärmer. ›Kinder können so fremd sein wie Steine‹, dachte er. ›Man berührt sie mit der Hand, und es friert einen, als kämen sie tief aus der Erde herauf, wo der Frost eine Haut um sie gelegt hat. Und was aus dem Blut kommt, sollte doch warm sein ...‹ »Ich bin dir wohl kein guter Vater gewesen«, sagte er und verbarg seine schwarzen Hände unter der Tischplatte.

Sie hob etwas die Augenbrauen und schüttelte dann den Kopf. »Ich weiß nicht, Vater. Ich habe nicht nachgedacht darüber. Du hast mich nie geschlagen und mich nie verhöhnt, und beides hat die Mutter sehr gut gekonnt. Du warst nie da, Vater.«

»Nein«, sagte er, »ich war nie da. Ich saß am Meiler und euer Leben ging dahin. Das Holz verglüht, die Kohle bleibt.«

Sie nickte und stand auf.

»Ins Dorf gehst du wohl nicht mehr?«

»Nein, ich muß nun zurück. Leb wohl, Vater.«

Er hielt vorsichtig ihre Hand, weil die seinige noch voll Ruß war. »Du willst wohl nicht, daß ich dich segne, Tochter?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß noch nicht, was mir zukommt, Vater.«

Lange sah er ihr nach. ›Wer von uns weiß es?‹ dachte er. ›Man kann seinen Kindern nicht die Sehnen der Füße durchschneiden ...‹

In der Hauptstadt der Provinz stand Gotthold auf dem Bahnhof. Sie hatte ihm geschrieben, daß er sie abholen solle. Sie sah ihn gleich, weil er größer war als die anderen, aber es fiel ihr schwer, ihn zu erkennen. Niemals hatte man seinesgleichen gesehen im Dorf. Sie hatte gemeint, er werde aussehen, wie die Gehilfen in den Kaufläden am Sonntag aussehen, bunt und aufgebügelt, und sie blieb nun eine Weile im Schatten stehen, um ihn anzusehen. Er sah über die Menschen hinweg, als sei er sein Leben lang gereist und warte nun auf seinen Schlafwagenzug, während er mit einer höflichen Neugier auf diese kleinen Leute blickte, die aus der Provinz für ein paar Tage in die Stadt kamen. Einmal grüßte er jemanden, und auch das geschah höflich, ohne Hast, mit der gleichen Überlegenheit, mit der Herr von Manteuffel die Hand an die Mütze gelegt hatte, wenn einer der Kaufleute der Kreisstadt ihn gegrüßt hatte.

Sie wunderte sich sehr. Gotthold war erst vor einem Jahr in die Hauptstadt gezogen, wo er eine Stelle in einem großen Kaufhaus gefunden hatte, und sie dachte, wenn die Großstadt allein solche Wunder an einem Menschen bewirken könne, dann werde es nicht lange dauern, bis sie ihn eingeholt haben würde.

»O lala«, sagte er erstaunt, als sie im Vorbeigehen die Hand auf seinen Arm legte. »Sieh mal an, kleines Mädchen!« Und dann blickte er sie mit einem schnellen Blick vom Kopf bis zu den Füßen an und lächelte. »Das sind nun die häßlichen Entlein von Sowirog, Gina, die Frau Ilsebill auf ihrem friedlichen Dorfteich behalten wollte, nicht wahr?«

Sie lächelte flüchtig und fragte, ob er ihre Fahrkarte besorgt habe und wieviel Zeit sie noch hätte. Sie hätten über drei Stunden Zeit bis zum Nachtzug, und er hätte zwei Schlafwagenplätze für sie besorgt.

»Zwei?« fragte sie und blieb stehen.

Ja, natürlich, denn er begleite sie. Auch er habe seine Stelle gekündigt und verlange nach einem größeren Wirkungskreise. Oder schäme sie sich seiner etwa? Er werde ihr dort in der ersten Zeit manche Hilfe leisten können.

Er sah an der tiefen Falte zwischen ihren Augen, daß sie angestrengt nachdachte, aber dann nickte sie. Hilfe brauche sie nicht, erwiderte sie, und es sei gut so. Nur die Schlafwagenkarte könne er ruhig zurückgeben. Sie habe genug Nächte gewacht, um die Fahrt auszuhalten, und vorläufig sei sie noch dafür, den Pfennig zu ehren.

»Bon«, sagte er, »dann wirst du mir erlauben, sie dir zu schenken.« Und damit war sie einverstanden. ›Das kommt von der Mutter‹, dachte er mit einem spöttischen Lächeln. Wohin er sie nun führen solle.

Sie hatten ihren Koffer aufgegeben und standen auf der Bahnhofstreppe. Sie atmete tief die warme, staubige Luft ein und blickte mit glänzenden Augen auf die Lichter des großen Platzes. »Ich will nirgends hin«, erwiderte sie, »aber ich will Jons sehen.«

Er pfiff überrascht vor sich hin. »Den kleinen Heiligen? Habe ihn nie gesehen, aber wie du willst. Weißt du, wo er wohnt?«

Sie reichte ihm einen Zettel aus der Handtasche, und er winkte einer Droschke, aber sie wollte mit der Straßenbahn fahren, die hell und schimmernd auf ihren Schienen wartete.

Sie saß still auf ihrem Platz und blickte hinaus. Farbige Reklamen glühten auf den hohen Dächern, Wachspuppen lächelten hinter riesigen Schaufenstern, einmal donnerte das Eisen einer Brücke unter ihr, und sie sah dunkles Wasser und Schiffsmasten und Laternen, die sich in der Schwärze spiegelten. Ihre Hände waren feucht vor Erregung, und sie sah flüchtig zu Gotthold hinüber, der einer jungen Dame seinen Platz angeboten hatte und nun im Gang stand, eine Hand am Ledergriff, der an der Decke hing, und die andere auf der Lehne eines Sitzes. Sein Gesicht war fröhlich und von einer überlegenen Gelassenheit, aber Gina sah, daß er heimliche Blicke mit einer angemalten Schönheit tauschte. Nein, so billig wollte sie es nicht haben. Männer hatten wenig Stolz, und sie konnten niemals warten, bis ihre Stunde kam. Es war gut, daß er ihren Koffer tragen würde, aber dann würde sie sich allein auf den Weg machen. Geschwister waren eine mühsame Angelegenheit, und dieser Bruder hatte in der Kindheit manche Dinge getan, die in dem Buch über den guten Ton nicht aufgezeichnet waren.

Sie fanden mit einiger Mühe das Haus, in dem Jons wohnen sollte, und Gotthold sagte etwas von einer Wüste, in der die Heiligen mit Vorliebe lebten. Eine der langen Schwestern öffnete die Tür und blickte mit erstauntem Mißtrauen auf das gutgekleidete Paar. So, seine Geschwister? Wenig Ähnlichkeit, aber sie glaube, daß er zu Hause sei. Er sei immer zu Hause. Noch ein böser Blick auf Ginas unbewegte Schönheit, dann ging sie voran. Es roch nach kaltgewordenen Speisen, und aus allen Türen kam der Lärm einer wilden und unbotmäßigen Jugend. Hinter einem grünen Vorhang verschwand eine zweite lange, schwarzgekleidete Gestalt, Stimmen flüsterten aus dem Dunkel, und Gina fühlte plötzlich zu ihrem Erstaunen eine Welle von Mitleid und Liebe heiß und schnell über ihr Herz gehen.

Auf dem kleinen Tisch am offenen Fenster brannte die Petroleumlampe und beschien Bücher, Hefte und Zeichnungen und das helle Haar, in dem Jons seine beiden Hände vergraben hatte. Das Bauer mit dem Buchfinken war noch nicht zugedeckt, und der Vogel saß still in einer Ecke, den Kopf in die Dunkelheit gewendet, die hinter dem Fenster stand. Die Kammer war so sauber wie die eines alten Stiftfräuleins, das schmale Bett war schon aufgedeckt, der Lärm der Stadt ging nur wie ein leises Rauschen am Fenster vorbei. Eine stille, traurige Würde lag über dieser Gestalt des einsamen Kindes und seiner schweigenden Hingegebenheit, und sie dachten beide einen Augenblick lang an die Kammer im elterlichen Hause zurück, wo der Stern hinter dem Fensterkreuz geschienen hatte und wo Jons im Dunklen von den Wundern der Welt erzählt hatte, die ihm bei Herrn Stilling erschienen waren. Andre Wunder als die, die sie beide sich erwarteten, aber doch wahrscheinlich Wunder, nur mit Mühe und Fleiß zu enträtseln und ein Schweigen um sich ausbreitend, das so groß war wie das um ein Totenbett.

Gina ging zuerst an den Tisch, noch immer von einem Gefühl erfüllt, das ihr fremd war, und küßte den Bruder auf das helle Haar zwischen seinen Händen. »O ... Gina ...«, sagte Jons und sah sie wie eine Erscheinung an. »Und ... Gotthold ...«

Gotthold winkte mit den grauen Handschuhen.

Jons saß neben Gina auf dem Bett und fragte. Bis in die Hauptstadt? Ach, du lieber Gott ... und wie es zu Hause sei?

Sie sei nur am Meiler gewesen, um sich von Vater zu verabschieden. Merkwürdig, wie helle, klare Augen dieses Kind hatte, und wie schwer es war, ihren Blick auszuhalten.

»Ja, der Meiler ...«, sagte Jons leise und faltete die Hände wie sein Vater. »So allein ist er, so schrecklich allein ... und nun geht ihr auch fort.«

»Wir waren wohl nie bei ihm«, erwiderte Gina. »Weißt du nicht, daß zweierlei Blut in unserer Familie ist?«

Ja, Jons wußte es.

»Hör mal«, sagte Gotthold von der Lampe her, »was willst du eigentlich später mit diesem Kram anfangen, hm?«

»Oh, ich weiß noch nicht. Vielleicht werde ich einmal Arzt werden. Wahrscheinlich aber Pfarrer.«

»Soso. Lobe den Herrn, meine Seele, und so weiter. Gina sagt, daß sie eine Kirche bauen zu Hause, und alle Goguns, Daidas und Gonschors werden dein Haupt mit Öl salben.«

»Man muß nicht so sprechen«, sagte Jons leise.

»Muß man nicht? Nun, können es auch unterlassen. Aber in ein paar Jahren werde ich euch eine Glocke schenken, oder zwei. Die Jerominglocken, nicht wahr? Dann wird einer von uns auf der Kanzel stehen und der andere vom Turm rufen, Frau Ilsebill wird ihre harten Hände falten, und Herr Czwallinna wird Buße tun ... Was ist übrigens aus dem Geld geworden, Gina, das damals verschwand? Hat Korsanke keinen Täter gefunden?«

Sie sah ihn finster an. »Da du fortgingst, konnte er ihn nicht gut finden«, sagte sie, »aber es ist wohl besser, du schweigst hier davon.«

Gotthold pfiff lächelnd vor sich hin, und Jons hielt Ginas Hand mit beiden Händen. »Es ist nicht wahr, Schwester?« fragte er flüsternd.

»Laß es sein, Jons«, sagte sie. »Junge Männer sind so eitel und so dumm wie Pfauen.«

Ja, nun sollten sie essen fahren, meinte Gotthold und sah nach der Uhr. Sehr viel Zeit hätten sie nicht mehr. Ob er noch einen anderen Anzug habe? Aber Jons antwortete nicht. Er hängte die Decke über den Buchfinken, räumte seine Bücher und Hefte auf, stellte die Lampe zurück an die Wand und strich das Bett glatt, auf dem sie gesessen hatten.

»Auch dich hat die Mutter nicht verlassen«, sagte Gina nachdenklich. »Keiner von uns entgeht ihr ganz.«

Aber als sie aus der Kammer gehen wollten, stand Jumbo in der Tür. Hinter seinen Brillengläsern waren die Augen etwas traurig und etwas spöttisch wie immer, aber sie sahen sehr aufmerksam auf die beiden fremden Gesichter und dann auf Jons. »Wollte dich eben holen, Mönchlein, zu mir ... ist ein trauriger Abend, an dem man leicht zu viele Gläser füllt ... und sind dies deine Geschwister?«

Er stand ebenso ruhig da wie sonst. Jons hatte noch niemals gesehen, daß etwas ihn in Erstaunen setzte. Ja, erwiderte Jons verwirrt, das seien Gotthold und seine Schwester Gina. »Man nennt mich Jumbo«, sagte der Student, »und wir beide sind große Freunde, was bei Jons gar nicht so einfach ist.«

Oh, essen wollten sie gehen? Aber wäre es nicht schöner, sie kämen zu ihm? Er hätte ein großes Paket von Hause bekommen, und Restaurants seien widerlich. Fremde Menschen in Massen essen zu sehen, sei kein schöner Anblick, und Jons würde sicherlich ein Glas zerbrechen, »nicht wahr, Mönchlein?«

Ja, Gina wollte gern zu ihm kommen, und Gotthold begnügte sich damit, leise die Schultern zu heben. »Was ist er?« fragte er leise in dem dunklen Gang. »Student? Soso, Jurist ... na meinetwegen.«

Es war so behaglich bei Jumbo wie immer, und es war ein Wunder für Jons, wie schnell und geschickt er den Tisch deckte und alles herbeibrachte, was er bekommen hatte. Es gab sogar einen süßen Schnaps für Gina und dann für alle Bier, das unter der Wasserleitung stand. »Jons trinkt nicht«, sagte Jumbo. »Ich habe noch niemals einen so ordentlichen Menschen gesehen. Seid ihr alle so ordentlich?«

Gotthold fand es etwas formlos, wie dieser Knabe mit der Brille sich zu ihnen benahm, aber Gina nickte ihm zu. »Nicht alle«, sagte sie, »aber jeder trägt ein Stückchen Erbe mit sich ...«

Ja, er auch, meinte Jumbo, und sah sie nachdenklich an. Er trinke zum Beispiel etwas mehr, als nötig sei. Aber nur solange, bis die Welt ihm etwas heiter erscheine, ein heiteres Theater, wo nur auf den hintersten Sitzen ein paar Leute heimlich weinten.

»Und ist sie nicht heiter?« fragte Gina.

»Ach nein, mein liebes Fräulein, das ist sie nicht, ganz und gar nicht. Der liebe Gott hat sich da ein bißchen versehen, und Leute wie unser Jons müssen nun ihr ganzes Leben damit zubringen, den Menschen klarzumachen, daß es ein weises Versehen gewesen ist. Wenn er dabei bleibt, heißt das. Aber ich glaube nicht, daß er dabei bleiben wird. Ich denke, daß er Arzt werden wird wie ich, und die Ärzte behaupten nicht, daß dies die beste aller Welten sei.«

»Ich denke, Sie sind Jurist?« fragte Gotthold, so nachlässig, als sei er schon durch alle Fakultäten gegangen.

»Auch das, mein Lieber«, erwiderte Jumbo, »und ich war sogar schon Theologe. Mein Vater glaubt es sogar noch heute. Aber es sind schlechte Spaziergänger, die immer nur eine Straße marschieren. Die Wahrheit sitzt mal hier und mal da, auf einem Stein am Straßenrand, und wartet, daß wir ihr begegnen.«

»Ja, wenn Sie beide auf die Wahrheit warten ...«, und er sah spöttisch zu Jons hinüber. »Wir warten auf andre Dinge.«

»Wer ist ›wir‹?« fragte Gina.

»Oh, entschuldige ... Die Armen warten auf Geld, Herr Jumbo, und nicht auf die Wahrheit.«

»Soso ... tun sie das? Dieser Arme hier zum Beispiel«, und er legte die Hand um Jons' Schulter, »wartet nicht auf Geld, sondern auf die Gerechtigkeit. Das Recht in der Wüste und die Gerechtigkeit auf dem Acker, nicht wahr, Mönchlein?«

Jons nickte und sah seine Schwester an, aber sie blickte vor sich hin, mit der tiefen Falte zwischen den Augenbrauen, die er kannte.

Ja, und nun führen sie in die Hauptstadt, meinte Jumbo weiter. Es könne sein, daß das Geld dort auf der Straße liege, wenn auch meistens etwas sehr tief im Schmutz, aber die Gerechtigkeit sei am Meiler vielleicht noch eher zu finden als dort. Und das Fräulein suche sicherlich noch ganz etwas anderes, nicht wahr?

Ja, sagte Gina ohne Zögern, sie suche die Macht.

Jumbo nickte und stopfte sich nachdenklich eine kurze Pfeife. Soviel er von der Welt und der Schönheit wisse, werde sie wahrscheinlich am schnellsten von ihnen das Ziel erreichen. Ja, und doch hätte sie lieber eine Großbäuerin werden sollen ... für arme Eltern sei es immer leichter, wenn ihre Kinder keine Krone auf dem Kopfe trügen. Sie seien dann geneigt, sich eine aus Blech machen zu lassen und ein Rad zu schlagen, oder sich Asche auf das Haupt zu streuen.

»Nicht Frau Ilsebill!« sagte Gina hart.

Ja, Frau Ilsebill ... das sei auch nur ein Märchen, wenn auch ein weises Märchen ... aber wie es denn mit Vater Jakob stehe? So einiges wisse er ja auch von ihnen. Und er könne sich wohl denken, wie er um diese Stunde am Meiler sitze und in den leeren Wald blicke. Sieben Kinder ... aber manchmal seien auch sieben noch nicht genug, um das Brot für die letzten Tage zu backen. Sein Vater habe nur eines, nur ihn, und er wisse nicht einmal, daß sein Sohn nicht mehr Pfarrer werden wolle.

Sie hörten ihm schweigend zu, und es schien ihnen allen, als wisse er das meiste vom Leben, mehr als sie alle zusammen, eine freundliche, etwas traurige Wissenschaft, und als wisse er noch viel mehr, als was er ihnen hier erzähle.

Dann sah Gotthold nach der Uhr, und sie mußten aufbrechen. Jons wollte sie noch begleiten. »Wissen Sie, Fräulein Jeromin, was die Mächtigen am leichtesten verlernen?« fragte Jumbo noch in der Tür. »Das Lachen, Fräulein Jeromin. Und das ist wie im Märchen: man findet es niemals wieder.«

»Nun, Herr Jumbo«, sagte Gotthold leutselig, »schreiben Sie mir mal eine Ansichtskarte, wenn Sie alle Fakultäten durch sind, nicht wahr?«

Jumbo nickte, aber seine Augen waren ganz ernst. »Wenn ich bei meiner jetzigen bliebe, würde ich Sie wahrscheinlich wiedersehen«, erwiderte er. »Aber als Arzt ist es nicht wahrscheinlich, sehr wenig wahrscheinlich ...«

Erst auf der Straße schlug Gotthold mit den Handschuhen durch die Luft. »Ein ziemlich dreister Patron, dein Herr Jumbo«, sagte er zu Jons.

»So?« meinte Gina. »Ich denke, er ist nur ehrlich und klug.«

Noch einmal stand Jons unter dem hohen Glasdach und sah einem Zuge nach, aber es war nun ein vornehmer Zug, und die Räder der Maschine waren fast so hoch wie er selbst. Er sah Ginas Gesicht hinter einer Fensterscheibe versinken, und es sah aus, als schließe ein graues Wasser sich langsam und für alle Ewigkeit über ihrem Gesicht.

Während er langsam durch die schon leeren Straßen nach Hause ging, in schweren Gedanken und nicht ohne Angst in seinem Herzen, war Gina bis zur Mitternacht damit beschäftigt, die Einrichtungen eines Schlafwagenabteils bis in die geringsten Einzelheiten zu untersuchen. Sie war allein und hatte Zeit, und erst als sie entdeckt hatte, wie man das warme Wasser fließen lassen konnte und wie man die kleine Leiter aufstellen mußte, kleidete sie sich aus, legte sich nieder und sah noch eine Weile zu, wie die blassen Sterne vor dem Fenster standen und die dunklen Umrisse großer Bäume vorüberglitten. Es war nicht so wichtig, ob man lachen konnte oder nicht, dachte sie. Es würde wichtigere Dinge geben, und morgen würde sie damit beginnen, viel langsamer als Gotthold, aber auch auf einem richtigeren Wege.

In der Frühe zeigte sich, daß Gotthold schon eine Bekanntschaft gemacht hatte. Ein Mann in einem weiten, langen Mantel und einer Reisemütze und vielen Ringen an den Händen. Er hatte ein »Kommissionsgeschäft«, und er glaubte, Gotthold unterbringen zu können. Für weibliche Kundschaft wie geboren, meinte er mit höflichem Lächeln. Er verbarg sein Erstaunen nicht ganz, als er Gina erblickte, und bot ihr sofort seine Hilfe an. Er habe auch einen Schönheitssalon, als stiller Teilhaber, und sie könne sofort eintreten. Aber Gina dankte kühl, sie habe ihre eigenen Pläne. »Du würdest das besser lassen«, sagte sie leise, als sie schon durch die Vorstädte fuhren, aber Gotthold lächelte nachsichtig. »Kleine Unschuld vom Lande«, erwiderte er, »ich brauche ein Sprungbrett, nichts weiter.«

Er stieg mit dem Mann im Mantel am ersten Stadtbahnhof aus, bat Gina, ihm Nachricht zu geben, sobald sie eine Stellung habe, und verschwand im Gewühl, ohne sich einmal umzudrehen.

Gina ließ ihren Koffer auf der Bahn, trank auf dem Bahnsteig eine Tasse Kaffee, sah in Gedanken jede Straße auf dem Stadtplan, den sie sich in der Kreisstadt besorgt hatte, so deutlich vor sich, als trüge sie ihn in der Hand, und ging langsam, ohne Angst oder Verwunderung zu zeigen, bis zu dem Hotel, bei dem sie zuerst anfragen wollte. Es war nicht eines der ersten, aber es erschien ihr trotzdem wie ein Schloß, und der Mann, der vor dem schimmernden Eingang hoheitsvoll stand, wie der Wächter vor einem Feenpalast.

Nein, es sei nichts zu machen, sagte er bedauernd wie ein großer Vater, nachdem er sie angehört hatte. Schade, denn sie würde in Schwarz sehr niedlich aussehen. Solle mal nebenan versuchen, wenn er sie der Konkurrenz auch nicht gönne. Beim drittenmal gelang es ihr. Der Portier führte sie selbst zum Eingang für Hotelangestellte, schob sie in eine Bürotür, sagte, da sei eine »Kleene vons Land« mit »'ner wohlgefällijen Schnute« und überließ sie dann mit einem väterlichen Nicken einem jungen Herrn, der seine Fingernägel feilte. Auch er war voller Teilnahme, die Gina vorsichtig erwiderte, und lange nach Mitternacht lag sie schon in einer glühendheißen Kammer unter dem Dach, mit schmerzenden Füßen und benommenem Kopf, aber zufrieden und ganz gewiß, daß sie auf der ersten Stufe stehe, auch wenn sie von dem Trinkgeld absah, das die amerikanische Familie ihr bei der Abreise in die Hand gedrückt hatte.

Zur selben Zeit hielt Gotthold, ziemlich betrunken, in einem nicht ganz sauberen Keller, eine Rede auf die Liebe und die Freundschaft, von Beifall und Johlen einer zahlreichen Gesellschaft begleitet, indes der Herr im Mantel einigen der bevorzugten Gäste lächelnd zublinzelte, mit dem Ausgang des Tages anscheinend ebenso zufrieden wie sein redseliger »Volontär«.

Die gleichen Sterne standen über dem dunklen Haus am Herzogsacker, derselbe leise Wind ging um sein Dach. Jons schlief in seinem schmalen Bett, und seine Brust hob und senkte sich ruhig in dem kühlen Luftzug, der durch die geöffneten Fenster hereinkam. Jumbo schloß mit einem leisen Seufzer das Bürgerliche Gesetzbuch, rauchte, auf der Fensterbank sitzend, noch eine kurze Pfeife, trank in kleinen Schlucken seinen Schlummerpunsch und dachte an das schöne Mädchen mit der scharfen Falte zwischen den Augenbrauen und den gefährlichen Windhund, der ihr Bruder war und den dieselbe Mutter geboren hatte, die Jons geboren hatte. ›Wenn der liebe Gott wüßte, was er alles vorhat mit seinen Menschenkindern‹, dachte er, ›dann könnte man ihm eine schöne Sache anhängen, und ich denke, daß das Bürgerliche Gesetzbuch nicht ganz ausreichen würde dazu ...‹

Die gleichen Sterne standen über dem Dorfe Sowirog, nur daß sie heller und klarer leuchteten und daß der Wind nach dem Wasser roch, von dem er kam. Frau Marthe lag allein in ihrer Kammer, die Hände über der Brust gefaltet, mit strengem Gesicht, und durch ihren Traum zog ein Schiff mit einem großen weißen Segel, hell und ruhig, aber unter dem Mast standen ihre Kinder in einem losen Kreise und starrten auf etwas nieder, das zwischen ihren Füßen liegen mußte. Sie bewegte sich unruhig, um zu erkennen, was es sei, aber es gelang ihr nicht. Immer sah eines der Kinder scheu über seine Schulter zurück und trat dann einen halben Schritt zur Seite, damit sie nicht sehen könne, was dort liege. Aber es war ihr, als könnte es ein Toter sein.

Zur gleichen Stunde lag Friedrich vor der Rohrhütte auf der Insel, den Kopf an die warmen Halme gelehnt, und blies ein Lied auf seiner Flöte, während ein Mädchen aus einem entfernten Dorf, fast noch ein Kind, ihn mit den Armen umschlungen hielt und den Kopf an seine Brust gelegt hatte. Ihre Augen blickten über das schwarze Wasser nach dem Walde, über dem die schmale Sichel des Mondes hing, und ihr helles Haar bewegte sich leise unter dem Hauch der Flöte, die Friedrich spielte.

Es war ein trauriges Lied, eine Folge klagender Töne, die von Stufe zu Stufe fielen, langsam, sich wiederholend, bis sie mit immer der gleichen bangen Frage endeten. Sie waren wie ein müder Regen, der auf einen Herbstwald fällt, von Blatt zu Blatt, oder wie ein Wind, der um die Schilfränder geht. Sie waren der einzige Laut in der großen schweigenden Nacht, und man konnte meinen, daß die Erde still vor sich hinspreche in ihnen, die umgebrochenen Äcker und die wachsenden Saaten, das immer Wiederkehrende und Vergehende, das doch ohne Freude war, weil es das Ewige war, Gehorsam und Verzicht, und nur der flüchtige Menschenfuß ging mit Lust und Klage über sie hin.

»Spiele nicht mehr«, bat sie, »das Herz tut mir weh.«

Er nahm die linke Hand von der Flöte und legte sie um ihre junge Brust, aber mit der rechten spielte er weiter, noch weniger Töne, noch mehr Traurigkeit. Nur einmal setzte er die Flöte ab, beugte sich über das Gesicht des Mädchens, das nun von Tränen überströmt war, und sagte: »Du mußt mich nicht hindern ... etwas wird leichter in mir, wenn ich spiele, und vielleicht ist es mein letzter Sommer ... manchmal fürchte ich mich vor der Nacht und denke, daß hinter der Hütte einer steht.«

»Keiner steht da«, sagte sie.

»Viele sagen, daß ich ein Zauberer bin«, fuhr er fort, »und daß ich eure Herzen bestricke. Und viele sind mir feind, daß ich so bin, wie ich bin. Aber ich kann nicht dafür ... vielleicht kann die Mutter dafür ... nimm nun dein Boot und fahre, damit keiner etwas merkt.«

Sie gehorchte stumm, und eine Weile hörte er zu, wie die leisen Ruderschläge verklangen. Das Wasser war schwarz, ein dunkler, gefährlicher Spiegel, und es fröstelte ihn, wie er die Bilder der Sterne in der grundlosen Tiefe sah. Und dann spielte er weiter, den Kopf zurückgelehnt, immerzu, indes der Tau in sein Haar fiel und der Mond hinter dem schwarzen Wald versank.

Auf dem Hügel hörten sie seine Flöte, noch als sie Äxte und Sägen auf die Schultern nahmen und zum Dorf hinunterstiegen. Sie standen noch eine Weile und hörten zu, von einem kühlen Hauch angerührt, und später sagten sie, daß sie noch niemals ein solches Lied gehört hätten. Finsternis lag über dem See, und aus dem Dunklen kamen die Töne wie die Stimme eines vergehenden Menschen. Manchmal wußten sie nicht, ob jemand sang oder ob es die Flöte war. Seltsame Kinder hatten die Jeromins, und wahrscheinlich komme es von der Frau, die eine Landfremde war.

Dann blieben nur Christean und der Pfarrer zurück. Sie saßen nebeneinander, aber sie schwiegen und hörten zu. Christean hatte den Kopf an die Balken hinter sich gelehnt und sah das Bild des Gekreuzigten, wie es immer klarer aus dem weißen Lindenholz heraustrat und wie jemand zu seinen Füßen eine Totenklage spielte. Maria war es wahrscheinlich, aber es konnte auch die Mutter sein. Ihr Haupt war verhüllt, und ihre weißen Hände bewegten sich leise auf dem schwarzen Holz. Er könnte nun aufhören, dachte er, sonst würden die Tiere im Schlaf stöhnen und die Fische nicht in die Netze gehen. So viel schweres Blut war in ihnen, und nun suchte es einen Ausweg aus dem zugeschlossenen Herzen, damit es langsam in das Moos tropfe. In ein Bildwerk, in ein Lied, in alle geschriebenen Bücher dieser Welt. Aber keiner sprach zum andern, jeder trug es für sich allein.

Auch der Pfarrer hörte zu. Er war müde und hatte den Kopf in beide Hände gestützt. Bach hätte so schreiben können, dachte er, in einer Kreuzesklage, als er schon blind geworden war und nur das andre sah, das Verborgene. Was für ein Land und was für eine Nacht ... da bauten sie nun an Gottes Haus, aber über dem See erklang die Stimme, daß alles eitel sei, Steine zerstreuen und Steine sammeln, Herzen und ferne sein vom Herzen. Eine Stimme, die alles wußte, das Vergangene und das Künftige, auch des Pfarrers großen Anfang und sein kleines Ende. Die menschliche Klage, die sich zu Gott aufhob und zu den Sternen, und immer wieder niederfiel, weil niemand ihr Antwort gab, ja, weil niemand sie hörte.

In dieser Stunde, als das Lied der Flöte über den See kam, wußte er, daß er niemals mehr glauben würde, niemals in alle Ewigkeit, und er fühlte den Schmerz wie ein Messer in seinem Herzen. Wenn es die Kreatur trieb, so zu klagen, ja, wenn das Ebenbild Gottes so vergeblich und schmerzlich zu den Sternen rief, nichts als ein einfacher Mensch, unter einem dunklen Dach geboren: wo war die Hand, die man ergreifen konnte, und wo der Mantel, unter dessen Saum man sich barg? Es war, als zerstreue dieses Lied die letzten Träume, als sei es das, was allein übriggeblieben sei von allen großartigen Visionen des Menschengeistes, von allen Hoffnungen und Täuschungen, und als säße dort, hinter dem dunklen Wasser, auf einem Hügel, um den die Winde gingen, der Mensch, vom Weibe geboren, der erste, den man aus dem Paradiese gestoßen hatte, oder der letzte, der den Weg des Menschen bis zu Ende ausgeschritten hatte und nun Abschied nahm von allem, was er die Liebe genannt hatte, oder das Leben, oder die Zukunft, oder die Ewigkeit.

Immer noch schienen die Sterne, und immer noch ging der Ruf der Flöte über den See, über das Dorf und den Kirchenhügel, bis auf das Moor hinaus. Manchmal trug ein leiser Wind ihn fort, und das Lied erstarb inmitten seiner Melodie, aber dann kam es wieder, und es war kaum zu merken, daß es fortgegangen war, weil jeder Ton ein Anfang sein konnte und jeder ein Ende.

»Horch«, flüsterte das Kind Erdmuthe, »das ist gar nicht er, der spielt. Kein Mensch kann so lange spielen. Das ist einer, der aus dem Wasser wieder aufgestanden ist und um geweihte Erde fleht ... angst ist mir, Michael, so angst ...«

Aber er legte ihre Wange an seine Brust, wo sein Herz schlug, und strich mit der Hand über ihre schmale Schulter. »Fürchte dich nicht«, sagte er. »Man sagt, daß der Tod nur spielt, wenn er keinen zu holen braucht, und vielleicht ist es der Tod. Aber er geht fort, solange noch der Tau fällt, damit niemand seine Spur erkennt.«

Der Morgenstern stand wie eine Lampe vor der Tür der Torfhütte, in der sie lagen, und hinter dem Walde riefen die Kraniche das erste Morgenrot an. Er konnte nun ihr Gesicht erkennen, das immer noch ein Kindergesicht war, und die großen, sanften Augen, die wie Brunnen unter ihm lagen. »Fürchte dich nicht«, sagte er noch einmal. »Noch ein Jahr. Und auch in der ›Armen Sünde‹ können wir glücklich sein.«

Sie strich mit der Hand durch sein dunkles Haar und versuchte zu lächeln. »Die Mutter«, begann sie, »die Mutter sieht dir nach, wenn du gehst, und sie sagt, Unglück ist über deinem Scheitel, und auch mich wird es begraben. Die Mutter weiß, was das Spinnrad singt, wenn sie den Faden spinnt ...«

Er setzte sich auf und blickte in das steigende Licht. »Und möchtest du lieber allein begraben werden? Ohne mich und mein Unglück?«

»Nein, Michael, nein ... aber sage ihm, daß er nicht mehr spielen soll, wenn du bei mir bist ... es wirft einen Zauber über meinen Leib ...«

Immer noch die gleichen Sterne, hoch über dem Meilerwald. Schwächer das Lied der Flöte, manchmal nur wie ein Hauch. Aber Träume haben dünne Wände, und ist der einsame Spieler nur aus seiner Mutter Blut, so daß Jakob keinen Teil haben sollte an der Mahnung seines Blutes? Er sah kein Segel, denn er hatte keine Schiffe gesehen in seiner Kindheit, aber er sah, daß der Meiler aufgetan war mit einem dunklen Tor, und Männer und Frauen standen davor. Sie standen so schweigend wie Marthes Gestalten um den Mast, aber sie blickten nicht über ihre Schultern zurück. Sie blickten in das dunkle Tor, aus dem die leise verwehte Melodie erklang. Sie standen ganz bewegungslos, den Kopf vorgeneigt, und eine ernste, schwere Trauer lag um ihre Stirnen. Doch konnte er keines ihrer Gesichter erkennen, und niemand sprach ein Wort. Der Wald rauschte wie im Regen, aber es fiel kein Regen, nur ein grauer Himmel war über ihm ausgespannt, schimmernd wie schmelzendes Metall.

Da rief eine Stimme aus dem Tor, eine starke und dunkle Stimme, und der erste der Männer trat gehorsam in das Tor, Jakob kannte die Stimme, aber er wußte nicht, von wem sie kam. Er kannte auch das Wort, aber sein Sinn war ihm fremd. Der erste der Männer trat so gehorsam an, als stehe er auf einem Appellplatz oder als seien sie alle im Wartezimmer eines Arztes und man mußte gehorchen, schnell und stumm, damit nichts von der Zeit verlorenginge. Er hatte noch kaum die dunkle Schwelle betreten, so war er schon fort, aufgelöst und in das Innere gesogen wie eine Wolke, die in ein Sturmtal fährt.

Und wieder rief die Stimme, und eine Frau ging hinein und verschwand. Aber keine Angst erfaßte die anderen. Sie standen noch alle, wie sie am Beginn gestanden hatten, bewegungslos, lauschend, mit vorgeneigter Stirn.

Sie gingen alle hinein und keiner sah zurück. Auch blieb das Tor, wie es gewesen war, nur daß aus der Kuppel des Meilers nun langsam eine dünne Säule hellen Rauches aufzusteigen begann, wie von einem Brandopfer. Die Stimme schwieg, die ferne Flöte war nicht mehr zu hören, und Jakob erwachte. Er starrte blind und schweren Herzens in das morgendliche Licht, und dann stand er schnell auf, um nach dem Meiler zu sehen. Aber der Meiler glühte, und kein Tor war zu sehen.

Später hieß es, daß Kiewitt in dieser Nacht ein Gesicht gesehen habe, aber niemand wußte, wer es aufgebracht hatte und was er gesehen haben sollte. Auch erhob sich eines der Bienenvölker aus Herrn Stillings Garten um die Morgenstunde, schwärmte in einer dunklen Wolke um den Schornstein seines Hauses und war waldeinwärts verschwunden, ehe der Lehrer die Leiter an das Haus gestellt hatte.


 << zurück weiter >>