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III

Die Leute um den See herum nannten den Herrn von Balk den Habicht. Nicht nur wegen seines glatten graubraunen Haares, das sich dicht an den schmalen Kopf legte, seiner scharfen, etwas schiefen Nase und seiner hellgrauen Augen, sondern weil auch in seinen Worten und Bewegungen das jäh Zustoßende war, das sie an dem Raubvogel kannten. Und vielleicht auch, weil sie im allgemeinen gut daran taten, ihre weiblichen Küchlein vor ihm zu verbergen.

Sein Vater hatte noch gelebt, als sei das Mittelalter eben angebrochen, immer zu Pferde, immer mit der Reitpeitsche, ein harter Herr, der für Peter den Großen schwärmte und der in seinem Alter wunderlich geworden war, von zwei entlaufenen Mönchen umgeben, die seinen Weinkeller austranken, für ihn beteten und von ihm geprügelt wurden, wenn der alte Geist über ihn kam.

Sein Sohn war Offizier geworden und ein großer Reiter, bis er seinen Beruf aufgegeben hatte und ein paar Jahre lang durch die Welt gezogen war. Man erzählte von ihm, daß er Mohammedaner geworden sei, daß er eine Sammlung von Skalpen besitze und in China eine Opiumhöhle geleitet habe. Doch hatte niemand seinen Harem noch seine Skalpe, noch seine Opiumpfeife gesehen.

Einen Monat nach dem Tode seines Vaters, der in einem Sarg gestorben war, zu dessen Füßen die beiden Mönche zwischen zerbrochenen Weinflaschen eingeschlafen waren, kehrte er zurück, jagte die jammernden Vaganten vom Hof, hielt Gericht über getreue und ungetreue Knechte und begann, den riesigen, verwahrlosten Besitz in eine Musterwirtschaft umzuwandeln, in der es immer noch an Wunderlichkeiten nicht mangelte, aber von der man ebenso Märchenhaftes erzählte wie von seinem Harem und seiner Opiumhöhle. Er hatte eine eigene Turbinenanlage und ein Orchideenhaus, eine Sonnenuhr und ein Bad aus karrarischem Marmor, einen Affen, der die Scharwerkerfrauen mit Pferdeäpfeln bewarf, und einen Papagei, der zu dem Landrat bei dessen erstem und letztem Besuch »Sie Idiot!« sagte.

Er heiratete eine Gräfin, die ihm keine Kinder gebar, die ihn bald für einen Wahnsinnigen hielt und die mit der teuer bezahlten Hilfe von dunklen Propheten und Teufelsbeschwörern alle Arten von Exorzismus an ihm vorzunehmen begann. Worauf er sie mit ihren Koffern auf einen Mistwagen setzte und zur nächsten Bahnstation fahren ließ.

Man sagte, daß er viele Kinder in den Dörfern der Umgegend habe, und manchmal sah man ihn auf einer Dorfstraße von seinem Sattel aus lange auf ein schmutziges und fast nacktes Kind niederblicken, mit ernstem, ja traurigem Gesicht, und dann still weiterreiten, ohne einen Gruß zu erwidern oder auch nur jemanden zu sehen, der in seinem Wege stand.

Die Kätner und Waldarbeiter, die seinen Vater wie den Teufel gefürchtet hatten, trugen zu ihm fast eine stille Liebe in ihren dumpfen Herzen. Auch er konnte zuschlagen, schnell und scharf wie der Habicht, aber er vergaß es ebenso schnell, und niemals geschah es aus Willkür oder Laune. Und es war kein Zweifel, daß er ein »Herr« war, der einzige im Kreise, der es nicht kraft des Gesetzes oder Amtes war, sondern aus sich heraus. Und er war kein geiziger Herr. Sie fischten auf seinem See und trieben ihre Kuh in seine Wälder. Sie deckten ihre Dächer mit seinem Rohr und brannten den Torf aus seinen Brüchen. Und fast ganz Sowirog baute seinen dünnen Roggen und seine Kartoffeln auf dem Lande, das er ihnen zur Pacht überließ.

Und sie fühlten alle, daß er ein armer Herr war. Das Lächeln war selten auf seinem hageren Gesicht, und seine Augen waren wie Brunnen, aus denen man alle Freude geschöpft hatte. Er trank viel, aber nur die Unglücklichen trinken. Er hatte keine Gäste, keine Frau und keine Kinder. Er hatte viele Bücher, einen Affen und einen Papagei, der »Sie Idiot!« sagte.

Manchmal kam er zum Großvater Jeromin, der in seinen Diensten stand, und fuhr mit ihm zum Fischfang und zur Entenjagd. Dann sahen sie vom Dorfe aus am Abend auf der Insel vor Jeromins Rohrhütte ein Feuer brennen, und dann saßen sie dort bis zum Morgenlicht, den Rücken an die Hüttenwand gelehnt, und schwiegen oder sprachen.

»War es anders, Jeromin?« konnte dann Herr von Balk fragen. »Damals, vor siebzig oder achtzig Jahren?«

Und Michael schüttelte den Kopf. »Auch als der Prophet auf der Insel saß, die sie Patmos heißen, war es nicht anders, Herr. Unruhe war und Begehren, und Bathseba wusch sich auf dem Dach ihres Hauses. Krieg war, und Gott segnete die Waffen, einmal die der Amalekiter und ein andermal die der Franzosen oder der Moskowiter. Und nachher tanzten sie vor der Bundeslade, Frost und Hitze, Samen und Ernte, Sommer und Winter, Tag und Nacht. Anderes war nie, und anderes wird niemals sein.«

Herr von Balk seufzte und legte die Füße näher ans Feuer. »In Hongkong kannte ich einen Chinesen«, sagte er, »einen Sohn des Himmels, einen reichen und mächtigen Mann. Er kam manchmal zu mir und wollte nichts als still dasitzen und zusehen, wie ich in meinen Büchern las. ›Erfülle mein Leben!‹ sagte er einmal zu mir. ›Vieles ist euch kund in den weißen Ländern. Erfülle mein Leben, wie man einen Pfeifenkopf mit Opium füllt.‹ Aber ich konnte es nicht, und er ging wieder fort. Später hat er sich die Kehle durchgeschnitten, um sein Leben zu erfüllen.«

»Nicht sein Leben war leer, sondern er«, sagte Michael. »Auch Saul stürzte sich in sein Schwert.«

»Ach, Jeromin, deine alten Juden waren Heiden und ihr Jehova ein Baal wie andere Baale.«

»Das weiß ich nicht Herr, und mein Lehrer hat nichts davon gesagt. Sie erzählen ja, daß Sie viele Bücher haben, Herr, aber sind viele darunter, die so mächtig sind wie das Testament?«

»Nein, nicht viele, Jeromin, aber Bücher sind Bücher. Feuer verbrennt sie, Feuer löscht sie aus.«

»Viele Feuer waren in der Welt, Herr. Keines hat dies Buch verbrannt, keine Sintflut hat es ausgelöscht. Ein alter Mann, dessen Ohren schwach werden, braucht ein Buch, in dem Gott wie ein Donner ist.«

»Und was ist mit den Menschen, Jeromin? Viel hast du gesehen in deinen neunzig oder hundert Jahren. Ist etwas dran an ihnen?«

»So fragt der Versucher, Herr. Was weiß ich von den Fischen, und wie sollte ich etwas von den Menschen wissen? Mein Sohn ist gut und trägt Leid, meine Tochter ist hart und trägt mehr Leid. Ich weiß nicht, ob man mehr von den Menschen sagen kann.«

»Und deine Enkel, Jeromin?«

»Der Enkel trägt immer mehr als der Großvater, Herr, denn er hat noch Vater und Mutter zu tragen. Die Schuld wird nicht kleiner auf der Welt, Herr. Sie wird immer größer, und immer tragen die Kinder die Sünden der Väter. Und weißt du, Herr, wann der neue Christus kommen wird, der sie ihnen abnehmen wird?«

»Es wird keiner kommen, Jeromin.«

»Johannes sagt es, und Kiewitt sagt es. Er hat sich noch einmal taufen lassen für ihn.«

»Aber deine Enkel, Jeromin?«

»Was weiß ich von ihnen? Michael wird einen schweren Tod sterben und Friedrich einen leichten, und Gotthold wird sein wie Absalom. Jons wird größer werden als das Dorf, aber nur Christean wird in Frieden in die Grube fahren. Wen Gott liebhat, dem schneidet er die Sehnen durch.«

Der Herr von Balk rückte noch näher ans Feuer, weil ihn fröstelte.

»Und die Mädchen, Jeromin?«

Aber Michael schwieg. Er hörte nicht mehr. Erst nach einer langen Weile sagte er: »Wer ein Mädchen zu seiner Lust braucht, Herr, und nur zu seiner Lust, ist ein großer Sünder.«

»Was weißt du von der Lust?« erwiderte Balk finster. »Wer unterscheidet das Leid von der Lust?«

Dann sprachen sie nicht mehr. Herr von Balk wickelte sich in seinen Jagdmantel und schloß die Augen, aber Michael blieb sitzen, bis die Sterne verblaßten. Er brauchte keinen Schlaf mehr. Die Fische sprangen über dem stillen Wasser, und die Rohrdommel schrie wie ein Ertrinkender im Schilf. Er dachte nicht nach, nicht über seinen Herrn und nicht über Saul oder Absalom. Er ließ nur die Bilder an seinen geöffneten Augen vorüberziehen, die ungerufen kamen und wieder gingen. Schatten zuerst, wie auferstandene Tote, und es mochten die Unglücklichen sein, die von der Beresina zurückschlichen, oder auch andere aus späteren Kriegen. So viel Krieg war in der Welt gewesen, seit Gott ihm seinen lebendigen Odem eingeblasen hatte. Und dann Bilder mit klaren Umrissen, aber die Ferne war verschwunden, ein grauer oder bunter Nebel, in dem es sich rührte wie am ersten Schöpfungsmorgen ... Das Haus am See und das erste Ruder in seiner Hand ... der Vater, der auf einem Heufuder stand, und ein Regenbogen hob seine farbige Brücke über einer dunklen Wetterwand ... die Mutter mit einem schwarzen Tuch über der Stirn und einem Holzlöffel in der Hand ... Ein Netz, das er aus dem Wasser zog, und das Morgenlicht glänzte auf den feuchten Leibern der Fische, grün und grau und silbern ... Eine Seite der Fibel mit einem großen »H« vor anderen Buchstaben und die schwarze Halsbinde des Lehrers unter einem Gesicht, das von Narben bedeckt war, und der Name Smolensk, wo der Lehrer im Feuer gewesen war, ein dunkler, tönender Name, mit Feuersbrünsten über seinen Buchstaben und dem Klang von Trommeln in einer blutigen Nacht ...

Und Gesichter auf Gesichter, im Nebel wie an einer Schnur vorübergleitend, geradeaus blickend in das Kommende, aber das Kommende war drohend und verhüllt. Frau und Söhne, geliebte Söhne, aber nur einer war geblieben. Die anderen zogen vorbei, Blumen an der Mütze und am Helm, und kamen nicht wieder, wie die Brüder nicht wiedergekommen waren. Der König hatte sie gerufen, der Tod hatte sie behalten.

Er selbst vor einer Barrikade mit wehenden Fahnen, den Ladestock in der zitternden Hand ... und vor den Düppeler Schanzen und noch irgendwo, an einem Strom, der die Elbe hieß ... und überall Blut und Feuer und eine verhüllte Sonne, die brandig im Nebel stand ...

Und Ertrunkene und Erschlagene, deren offene Augen das Jenseits sahen ... den Mann, der getötet hatte und bei dem er saß, am erloschenen Herd, von der Mitternacht bis an den Morgen ... der alte Herr von Balk und der junge und Kinder, viele Kinder ... im Boot und auf dem Stoppelfeld, in der Wiege und in den kleinen Särgen ...

Und alles still wie vor dem Morgenwind. Kein Wort, kein Seufzer, kein Lied. Nur Bilder und Gesichter, lautlos wie Wolken, die über den Horizont stiegen und wieder versanken ... So viele Jahre, siebzig oder achtzig oder hundert ... dieselbe Sonne, dieselben Sterne und der Geruch von Wasser, Fischen und verwestem Schilf ... und nichts wissen, gar nichts. Nur lauschen und warten und immer dasselbe sehen. Gebrechlich das Ganze wie Eiszapfen oder wie Glas. Pfarrerworte, die verheißen, und ein zürnender, donnernder Gott in dem großen Buch. Aber Krieg und Blut und Hunger und Not wie vor dem ersten Bunde und eine Stimme: »Ich will bei euch sein bis an der Welt Ende.« Aber eine zweifelhafte Stimme, und wenn man aufstand, war sie nicht da. Nur das andre war da ... und alt wie Moses über dem gelobten Land ... alt und müde und allein ...

Das steigende Licht fiel in seine hellen Augen und in die Falten um seinen Mund, aber er blieb noch sitzen, wie ein Blinder, dem der Tag wie die Nacht ist. Nur daß die Bilder langsam versanken und die Nähe wieder da war, die schwache Glut unter weißer Asche, der schlafende Herr mit dem bitteren Mund, der Tau auf den Gräsern an seiner Stirn.

Die Enten zogen schon mit hellem Klingeln über das Wasser, ein Reiher schrie, und das Schilf rührte sich im ersten Wind. Da stand er auf, legte Kien auf die Glut und setzte den Wasserkessel auf. Das Feuer war rot und schön, und er streckte die kalten Hände aus, um sie zu erwärmen. Die blauen Adern lagen wie ein dünnes Geflecht auf der matten Haut. Er brach ein Stück des schwarzen Brotes ab und aß es langsam. Worte aus dem großen Buch kamen ihm in den Sinn, wie sie immer bei ihm waren, und er murmelte sie leise vor sich hin: »Die Sonne gehet auf und gehet unter und läuft an ihren Ort, daß sie wieder daselbst aufgehe. Der Wind gehet gen Mittag, und kommt herum zur Mitternacht, und wieder herum an den Ort, da er anfing ...«

Die Flamme wurde größer und blasser, und Funken stiegen über seine Hände. Er stand so still wie einer der Bäume hinter der Hütte und sah zu, wie das graue Wasser im Kessel leise sich zu bewegen begann, ein Strom, der aufstieg und niedersank, und das Licht der Frühe fiel rötlich hinein.

Als die ersten Blasen auf die Oberfläche stiegen, weckte er den Schlafenden.

Nachmittags fuhren sie im Dorf ihren Roggen ein, und Herr von Balk ging von Feld zu Feld und ließ die Ähren durch seine Hände gleiten. Es waren dünne Ähren, aber er hatte den Sand nicht geschaffen, auf dem sie wuchsen.

Sie fuhren mit ihren Kühen ein, auf kleinen Wagen, um die die Kinder lärmten. Sie wußten, daß es zur Saat wieder nicht reichen würde, aber sie waren fröhlich, und Gogun, die Forke mit den Garben über sich, sang schon leise das Lied von der Zigeunerin. Es gab keinen Streit, und die Frauen, die weißen Kopftücher über die Augen gezogen, standen lachend auf den beladenen Wagen, deren Umrisse in der glühenden Sonne zitterten. Der Himmel war fast weiß, und das Gefieder der Schwalben blitzte in der kochenden Luft. Auf dem Felde der Daidas ging der kleine Jons neben der Kuh her und führte sie von Hocke zu Hocke.

Balk saß auf einem Grenzhügel und sah zu. Es war nicht das, daß es sein Land war, auf dem sie nun ernteten. Aber es war ihm schöner als die großen Schläge bei ihm, auf denen die Maschinen gingen. Es war dem Anfang der Erde noch näher. Wie zu Kains und Abels Zeiten. Und er liebte diese verlorenen Dörfer und die Menschen. Das Dorf war ihm der Anfang aller Geschichte und auch der Staaten. Korn und Zins kamen aus den Dörfern und das Blut der Söhne, mit denen der Staat seine Furchen düngte. So wie dieses lagen Tausende im Reich und über die ganze Erde hin, nicht alle so arm und dumpf, aber alle gehorsam und zu ihrem Opfer bereit. Es waren wohl die Könige, die die Geschichte schrieben, aber hier war der Saft, in den sie ihre Federn tauchten. Und nicht immer hatten sie mit Dank gelohnt. Der kleine Mann trug keine Krone, aber es war schön, ihm zuzusehen, wie er die Garben nahm und auf den Wagen legte. Abends würde er sich betrinken und Händel anfangen, aber seine Händel waren besser als die der Großen. Er las keine Bücher und er hatte keine Papageien, aber er stand näher bei den Erzvätern als seine Herren. Er hatte noch keine Fenster zwischen sich und die Sonne gesetzt.

Kinder kamen zu ihm und brachten ihm Kornblumen, und er nickte ihnen zu, in Gedanken verloren, und blieb sitzen, bis die Felder leer waren. Der Herbst würde kommen, und er war ein alter Mann, der sein Blut verstreut hatte in alle Welt. ›Lust‹, hatte Michael gesagt, aber er wußte nichts von dem bitteren Tropfen im Becher mit Wein. Nur wer viele Frauen erkannt hatte, wußte davon und daß die letzte so fern war wie die erste.

Er ging am Krug vorbei, bestellte das Erntebier vor Jeromins Haus und saß dann noch im Schulgarten bei den Bienen. Ob er meine, daß aus dem Schalksknecht etwas werden könne, fragte er. Vielleicht, erwiderte der Lehrer, aber sie rührten besser noch nicht daran. Ob er etwas dawider habe, daß er die Erziehung des Kindes übernehme, wenn es soweit sei? Ja, da hatte Stilling vieles dawider, alles sogar, und es würde wohl nicht recht sein von Herrn von Balk, wenn er ihm seine Lebensfrucht aus der Hand nähme.

Nein, das wollte er natürlich nicht, und er sah von der Seite in das alte Gesicht. So stände es also, und es verwundere ihn immer wieder, daß noch Gutes auf der Welt getan würde, allein um des Guten willen.

»Vielleicht ist es nicht deshalb, Herr von Balk«, sagte der Lehrer. »Sondern es ist um des Lichtes willen, und vom Lichte weiß man nie, ob es zum Guten oder zum Bösen gereichen wird. Aber dieses Haus, sehen Sie: es ist mir immer, als hätten schon Geschlechter das Dach abheben wollen, damit einer von ihnen aufsteige in das blaue Licht. Der Großvater, und der Vater, und die Frau, und unter den Kindern auch nicht Jons allein. Soviel Mühe wie in einem schweren Traum, Jahrzehnt auf Jahrzehnt, und nun scheint einem die Kraft gegeben. Niemand weiß, ob es ihm zum Segen sein wird, aber das Licht fragt nicht nach Segen. Es will scheinen und nichts weiter.

Früher, als ich jung war, galt es fast als Frevel. Daß ein Armer die Hand ausstreckte, nach solchen Gütern. Ihr Vater noch würde ihn in Ketten gelegt haben, wenn es nach ihm gegangen wäre. Aber nun ist es anders, oder es scheint wenigstens so. Mein Vater war ein Waldarbeiter, und am Anfang gingen sie um mich herum, als ob ich Harz an den Kleidern hätte.«

»Harz ist besser als Schmutz«, sagte Balk.

»Nun ja, wir wollen sehen. Noch weiß ich nichts, wo es hinaus will mit ihm, aber ich möchte ihm die Türe öffnen. Einmal möchte ich das noch tun in meinem Leben.«

Sie hatten einen Holztisch vor dem Jerominschen Hause über dem See aufgestellt, und Balk war der Hausherr. Es gab Kaffee, Kuchen und einen süßen Schnaps und nachher Bier. Gogun spielte auf der Ziehharmonika, und sie sangen. Es war wie in jedem Jahr, nur daß es diesmal eine Unterbrechung gab. Der Krugwirt Czwallinna schlug den Zapfen in das erste Faß und setzte sich dann an den Tisch. Er hatte schiefe Augen in einem gelblichen Gesicht, und sein Schnurrbart hing ihm lang und traurig über die Mundwinkel herab. Er sah aus wie einer der Tatern, die vor Zeiten mit Mord und Brand über das Dorf gekommen waren. Er war ein harter Gläubiger, und sie waren bald dahintergekommen, daß er nicht nach Geld, sondern nach Land trachtete. Bei ihm war Gotthold Jeromin seit seiner Einsegnung in der Lehre, und es schien, als lerne er dort noch andere Dinge als Zucker abwiegen und Peitschenstiele verkaufen. Die beiden Söhne des Krugwirtes, mit denselben schiefen Augen, nahmen sich seiner bei Tage und bei Nacht an.

Die Unterbrechung bestand darin, daß Balk dem langen Tataren winkte, kaum daß er sich gesetzt und seine Zigarre angezündet hatte. Ob er sein Buch da habe mit den Schulden, die die Kätner bei ihm hätten. Gogun ließ die Harmonika sinken, und es war so still wie in der Kirche.

Er brauche kein Buch dazu, sagte Czwallinna langsam. Er habe von seinem Vater einen guten Kopf geerbt.

Gottes Segen über seinen Vater, meinte Balk spöttisch, und er wünsche nun, die Zahlen zu hören. Michael Gogun zum Beispiel. Er zog sein eigenes Notizbuch hervor und setzte den Bleistift an. Wenn sein Kopf doch nicht so gut sei, werde Gogun ihm helfen.

»Achtundsiebzig Mark und vierunddreißig Pfennige«, sagte Czwallinna böse.

Balk schrieb, er schrieb die Seite voll, rechnete die Summe zusammen und stellte die Quittung aus. Dann nahm er das Geld aus der Brusttasche. »Unterschreiben Sie!« sagte er.

Der Krugwirt starrte unentschlossen auf die Geldscheine. Er brauche das wohl nicht, meinte er endlich.

Nein, das brauche er gewiß nicht, erwiderte Balk. Die Leute könnten sich auch in die Scheine teilen und ihm jeden Anteil selbst in die Hand zahlen. Es dauere nur länger, und ihm sei so, als hätten sie alle wenig Freude daran, sein Gesicht hier länger zu sehen, als es nötig sei.

»Wahrhaftigen Gott!« riefen die Frauen.

Czwallinna unterschrieb und nahm das Geld. Er möchte nämlich lieber, sagte Balk höflich, daß diese Leute seine Schuldner wären. Es bliebe in der Familie. Und nun nehme er an, daß Czwallinna nebst den Seinigen im Laden gebraucht werde.

»Steh' ich in finst'rer Mitternacht«, spielte Gogun langgezogen und teilnehmend auf seiner Harmonika.

»Nun, Jons Ehrenreich, du Majestätsbeleidiger«, sagte Balk, »war das ein richtiger Schalksknecht?«

»Ein Schalksknecht und ein Häscher«, erwiderte Jons ernst.

Dann eröffnete Balk mit Frau Marthe den Tanz. Er sah, daß ihre Augen nicht anders durch ihn hindurchsahen als sonst. Aber als sie dann neben Gogun und seiner Harmonika stehenblieben, sagte sie: »Vor wem tun Sie das? Vor sich, vor den Leuten oder vor mir?«

Eine Weile schwieg er, und seine Augenbrauen zogen sich zusammen. Aber dann antwortete er ruhig wie sonst: »Vor keinem von diesen, nicht einmal vor Ihnen. Sondern vor der Erde, die nicht tatarisch werden soll.«

»Aber von-Balksch soll sie werden.«

»Eine Närrin bist du«, sagte er böse und preßte die Hand um ihren Arm. »Weshalb ist er nicht mein Sohn, dein Ehrenreich?«

»Wenn er Ihr Sohn wäre«, erwiderte sie hart, »würde er nicht Ehrenreich heißen.«

Dann begann Balk zu trinken und mit den Mädchen zu tanzen. Der halbe Mond stand am Himmel, und es war dunkel genug für seine wilden Scherze. Erst als Jakob aus dem Wald kam, das Gesicht noch dunkel vom Rauch des Meilers, saß er still bei ihm und fragte ihn nach der Zukunft seines Jüngsten.

»Wer sieben Kinder hat, Herr«, sagte Jakob, »verlernt den Hochmut. Wenn eines hoch steigt, sinkt das andere tief. Aber man soll auch keinem Vogel die Flügel beschneiden außer den Hühnern.«

»Und den Habichten«, sagte Balk.

Er blieb noch sitzen, bis Goguns Frau den Stein in ihr Taschentuch band. Das Bier ging zur Neige, und sie lärmten schon. Im Schatten des Hauses sah er Michael stehen, den Erstgeborenen, und finster auf die Tanzenden blicken. »Was für Kinder du hast, Jakob ...«, sagte er.

Er sattelte selbst sein Pferd, im Dunklen, auf Jeromins Hof, und ritt leise davon, am Ufer entlang. Der silberne Wagen stand schon im Zenit, und über dem Moor hingen die schweren Nebel. Am Ausgang des Dorfes, wo das Schilf mannshoch an die Straße stieß, stand eines der Mädchen und wartete, das Tuch über die Stirn gezogen. Er beugte sich hinunter und hob es vor sich auf den Sattel, aber sein Gesicht war traurig und grau wie auf dem Grunde eines tiefen Wassers.

Der Nebel reichte bis an die Ohren des Pferdes, und sie glitten wie auf einem Boot über weißes Wasser. Torfhaufen standen wie riesige Meiler an der Straße und wurden klein und kümmerlich, sobald sie sie erreichten. Die Sterne flimmerten, und mitunter schoß einer von ihnen aus der funkelnden Höhe herab, ein silberner Streifen, der im Nebel zu verzischen schien wie heißes Eisen im Wasser. Dann zitterte das Mädchen auf dem Sattel, als habe die stürzende Glut es berührt, aber Balks Hand, die es hielt, bewegte sich nicht. Ihr Kopftuch war herabgeglitten, und aus ihrem Haar stieg die Wärme der Sonne und der Geruch des Tages zwischen den Garben auf.

Am weißen Osthimmel stand schon ein roter Schein, als Balk sein Pferd besorgt hatte und über den verlassenen Hof zur Schloßtreppe ging. Einer der weißen Pfauen schrie im Park, und der Tau tropfte von den alten Eichen. Die Ställe und Insthäuser lagen noch schweigend, und in wunderbarer Reinheit standen alle Umrisse gegen das wachsende Licht. Das gemähte Gras auf den Parkwiesen duftete, und man konnte glauben, daß es der erste Morgen sei, der über diesem Lande aufstieg.

Balk öffnete alle Fenster in der großen Bibliothek und blickte über seine Bücher hin, die schweigend auf ihren Brettern standen, vom Schatten noch halb verhüllt, mit den gedämpften goldenen und silbernen Lichtern ihrer Einbände. Er sah die Rahmen der Bilder und die blaß schimmernden Gesichter zwischen ihnen, die viele Morgen erlebt hatten gleich diesem, Würde und Last eines alten Geschlechtes, ewige Wiederkehr derselben Liebe, desselben Hasses, derselben Kühle und Einsamkeit des Alters. Er fühlte die Härte des Ringes, die ihn umschloß, das Unentrinnbare alles Lebens, das zurückreichte in das Dunkel der Jahrhunderte und schauernd gebunden war an unendliche Zukunft. Nur der Tod schrieb mit dunklem Griffel seine stillen Zeichen, Einschnitt auf Einschnitt, wenn die Zeit gekommen war, aber das Gewebe spann sich weiter, Faden an Faden, und wenn man lauschte, konnte man das leise Surren hören, mit dem die Spule hin und wider glitt.

Nur Kinder bewahrten das Blut. Kein Buch, kein Gedanke, keine Tat. Nur Kinder. Aber sie durften nicht wie Vögel oder Wölfe sein, die in den Wäldern wohnen, sie mußten dasein, am Morgen, am Abend, und besonders in der Nacht, wenn die große Kühle und das große Schweigen von den Sternen fielen auf das verlassene Herz. Es war wenig Trost, sie im Staub der Straße zu wissen oder im Torfrauch der Hütten. Es war verschenktes Leben, und der Schenkende blieb mit leeren Händen.

Doch war die Ehe nicht gut für einen, der die Frauen darben ließ und verdarb. Der über Gott und die Welt lächelte, weil er traurig war über sie. Der über die Brücken aus Worten spottete, die man über die Spalten des Lebens schlug, über seine Grausamkeit, seine Willkür, seine völlige Sinnlosigkeit. Der nicht zulassen wollte, daß man vor die dumpfe Urangst aller Kreatur die gefärbten Bilder einer Zauberlaterne schob, die magischen Tröstungen der Jahrtausende, deren letztes Ziel kein anderes war als ein seliges Jenseits, um so seliger, je verfluchter der Gang des Diesseits war. Eines Diesseits, das heute genau so blutig und verrucht war wie vor zehntausend Jahren und nach abermals zehntausend Jahren ebenso sein würde, nur daß man die Worte noch geschickter setzen würde, um es zu verhüllen und es als eine Prüfung des Menschengeschlechtes hinzustellen, die Gott verhängt hatte. Dieser Gott, der mit seinen Prüfungen so wenig fertig wurde wie ein ungeschickter Lehrer. Der Hekatomben opferte, nur um zu sagen: »Nein, noch zehntausend Jahre.« Vor dem tausend Jahre wie ein Tag waren, aber der vergessen hatte, daß für seine Opfer ein Tag der Qual gleich tausend Jahren war.

Jeromin hatte sieben Kinder, helle und dunkle, und eines vielleicht würde doch seinem Alter zum Segen werden. Und alle sieben hatte diese Frau geboren, ohne Liebe wahrscheinlich. Aber sie glaubte nicht, daß sein Sohn Ehrenreich heißen könnte. Was wußte sie von der Ehre der Liebe?

Er wußte nicht, wie lange er so gestanden hatte, aber die Sonne mußte wohl aufgegangen sein, denn die obersten Reihen der Bücher begannen zu leuchten, und die Helme der alten Balks glühten rötlich auf. Er nahm ein kaltes Bad und machte sich selbst seinen Tee. »Otto ... Otto«, sagte der Papagei, »sei doch nicht komisch!«

Eine gespenstische Stimme, wie aus dem leeren Raum, als rufe jemand nach einem Fremden oder Verstorbenen. Balk hieß nicht Otto. Aber er trat doch an den Käfig und legte seine Finger an das warme Gefieder. Der große Schnabel fuhr zärtlich über seine Hand. »Treudeutsch allewege!« sagte die Stimme wie aus einem Grammophon, und nun mußte Balk doch lächeln. Die Stimme eines verschollenen Mannes aus einem verschollenen Bungalow, den er nie gesehen hatte, der wahrscheinlich einsamer gewesen war als er, ein Trinker wahrscheinlich und ein Sonderling, und hier war der einzige Nachhall seiner gewesenen Welt, ein blechernes Echo, das wie ein Geisterklang aus der Dschungel stieg.

Er reichte dem Vogel seinen Morgenzucker und trug ihn dann an der dünnen Kette auf die Terrasse. Die Sonne brannte schon in der Frühe, und in den Kübeln duftete die Datura betäubend. Aber es war überall das gleiche, dachte er, auf Sumatra oder hier. Überall das gleiche ...

Er rief dem Gärtner zu, daß sie ihm das zweite Pferd satteln sollten, und stand noch eine Weile auf den Treppenstufen, groß, hager, in den Schultern leise gebeugt. Es sah aus, als friere er, obwohl die Sonne auf seinem Haar lag.

Dann ging er auf dem Sand des Weges um das Haus herum.

»Freut euch des Lebens!« sagte der Papagei schneidend, aber Balk winkte nur mit der Hand.

Zwischen den Walddörfern laufen die Gerüchte so schnell wie im Urwald von Trommel zu Trommel. So erfuhr Balk schon an der Fohlenkoppel, daß sein Geld, das er gestern Czwallinna gegeben habe, noch in der Nacht gestohlen worden sei, daß der Krugwirt es wenigstens behaupte. Daß Korsanke schon im Dorf sei und alle verhöre. Daß Czwallinna seinen Schnurrbart raufe und den Herrn Rittmeister verfluche.

»Soso ...«, sagte Balk und ritt in Gedanken weiter.

Als er um die Mittagszeit ins Dorf kam, schloß Korsanke gerade sein Protokoll. Er hatte die drei obersten Knöpfe seines Uniformrockes geöffnet und den Helm neben sich auf die Bank vor dem Dorfkrug gestellt. »Alle Verdächtigen einwandfrei als betrunken festgestellt«, hatte er zum Schluß geschrieben. »Und schließt der Grad der Betrunkenheit die zu einem Einbruch notwendige Gewandtheit voll und ganz aus.«

»Nichts zu machen, Korsanke?«

»Zu Befehl, nein, Herr Rittmeister.«

Im halbdunklen Laden, wo Balk eine Hundekette kaufte, war nur Gotthold Jeromin, höflich, gewandt und zurückhaltend. »Nein, keine Ahnung, Herr von Balk. Er sagt, daß er das Geld in seinem Schlafzimmer gehabt hat.«

»Und er hat einen leisen Schlaf, nicht wahr?«

»Ich weiß nicht, Herr von Balk. Wir schlafen nicht zusammen.« Ein höfliches Lächeln um den schönen, kühlen Mund.

Balk nickte. »Unter zwölfen war einer«, sagte er nachdenklich. »Weshalb nicht schon unter sieben?«

Frau Marthe bekam er nicht zu sehen. Sie hatte die Kammer hinter sich abgeschlossen, in der die Kinder schliefen, saß auf Christeans Bett, die müden Hände zwischen den Knien, und starrte mit leeren Augen auf die Schubfächer, die sie herausgezogen, und die Strohsäcke, die sie geöffnet hatte.

Nichts. Aber sie wußte, daß das Unglück begonnen hatte. Sie wußte es nicht nur vom Eulenruf in der Morgendämmerung, nicht nur vom Totenwurm, der im Balken geklopft hatte, sondern sie wußte es von dem leisen Grauen, das langsam zu ihrem Herzen aufgestiegen war, so wie der Tod von den Füßen des Sterbenden langsam aufwärts steigt. Die Laima hatte gerufen, und nun begann es.

Sie hörte Balk draußen sprechen, und es kam ihr in den Sinn, ihn zu verfluchen. Aber sie wußte, daß er nicht schuld war. Auch ohne ihn kam es und würde das andre kommen. Es stieg aus dem Blut herauf, aber die Wurzel war schon im Dunklen begraben. Sie konnte um Geschlechter zurückliegen und ihre Wurzel wieder schon um Jahrhunderte, aber sie war noch am Leben. Ein gespenstisches Leben, zugedeckt von dem Dasein rechtlicher Geschlechter, die jedem das Seine gereicht hatten, aber immer noch da, immer noch wach und seine Stunde erwartend. Ein Unterirdisches, bleich und reglos wie eine Larve unter verwelkten Blättern, keiner Speise bedürftig, keines Lichtes, nicht einmal der Luft. Aber einmal wird ihr die Stunde gesagt, in der sie zu erwachen hat, sie beginnt ihre Füße zu regen, bleiche, vielgliedrige Füße, heraus aus dem Dunkel und der Verwesung, hinauf in die Blutbahn der Lebenden, und oben beginnt es, das Unrecht, die Tat, die die Herzen zerfrißt und in Schande stürzt.

Zum ersten Male hatte es angeklopft, und nun würde es weiterklopfen.

Und sie hatte sieben Kinder.


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