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XII

Jons ging erst in diesem Jahr zum Konfirmandenunterricht. Er war älter als die anderen, und in der Klasse sagten sie, er werde bei der Einsegnung gleich die Priesterweihe bekommen. Sie sprachen ohne Ehrfurcht von diesen Dingen, aber es gab ohnehin nicht viel, was sie mit ihrem Spott verschonten. »Es geht uns zu gut, Jons«, sagte Charlemagne. »Wir werden alle mit der Pension in der Tasche geboren, und es wäre gut, wenn eine Zeit ohne Pensionen käme.«

»Alle?« fragte Jons. »Ich sehe viele, die mit nichts in der Tasche geboren werden, und ich kenne Straßen, wo sie mich erwürgen möchten, nur weil ich einen weißen Kragen umgebunden habe.«

Charlemagne seufzte. »Wir haben es nicht geschafft, Jons. Weder der Staat, noch die Schule, noch die Kirche. Etwas fehlt, aber was ist es?«

»Die Gerechtigkeit fehlt«, erwiderte Jons. »Man kann Recht sprechen und doch ohne Gerechtigkeit sein.«

»Du sprichst wie ein alter Mann, Jons, aber wahrscheinlich sprichst du die Wahrheit. Denke nur ab und zu an den Schierlingsbecher, hörst du?«

»Ach, Herr Professor«, sagte Jons, »es ist heute billiger geworden, die Götter zu lästern.«

Es war kein schöner Raum, in dem Jons auf das erste Abendmahl vorbereitet wurde. Er war fahl und dunkel, und an Regentagen war es keine Waldluft, die ihn erfüllte. Auch hier saß der reiche Mann getrennt vom armen Lazarus, aber der freundliche Konsistorialrat bemühte sich, es beide nicht merken zu lassen. Er war sehr freundlich, und wahrscheinlich trank er auch nicht wie Agricola, aber Jons sah ihm aufmerksam zu, und er hätte gern gewußt, ob das Ganze ihm nun Freude mache, eine tiefe, schwere und verzehrende Freude, wie Christus sie vor dem Abendmahl gefühlt haben mochte. Oder ob er wenigstens durch alle Täler der Finsternis gegangen sein mochte wie Agricola. Er verlangte gar nicht, daß dieser seine Möbel oder Kleider verkaufe, um die Ärmsten zu wärmen und zu speisen. Er wollte nur wissen, ob dies alles in diesem Raum in jedem Jahr neu war, mit immer neuer Leidenschaft begonnen oder vollendet, oder ob es so war wie in der Schule, wo die Platte grauer und abgespielter Gewohnheit immer an der gleichen Stelle einsetzte, an der gleichen Stelle zornig oder witzig war und mit dem gleichen leeren, rauschenden Ton schloß. Wie die abgespielte Platte eines Grammophons.

Er erkannte bald, daß von Leidenschaft nicht gut die Rede sein konnte, und er war gerecht genug, einzusehen, daß dies nicht gut anders sein konnte. Eine Lehre war nicht dasselbe wie ein Evangelium, ein Amt nicht das gleiche wie eine göttliche Berufung. Und es war dem freundlichen Konsistorialrat mit seinen behaglichen, geröteten Wangen kein Vorwurf daraus zu machen, daß die Jünger Jesu wahrscheinlich anders ausgesehen hatten. Nach zweitausend Jahren brauchte man nicht mehr zu leiden. Man saß nicht mehr zu Füßen des Heilands, auf einem Berge, wo Palmen und Steine gleich nahe bei der Hand waren. Man saß zu Füßen kluger Männer in einem Auditorium der Universität. Der Mund der Jünger war verstummt, verklärt oder in Staub vergangen, und statt dessen standen an den Wänden der Bibliotheken Tausende von ehrwürdigen Büchern, in denen die Zeugnisse gesammelt, erläutert, bewiesen und ausgelegt waren. Man wurde geprüft, nicht so bitter ernst wie auf dem See Genezareth oder auf dem Hof des Hohenpriesters, aber doch geprüft, und wenn man bestanden hatte, mit Verstand und Gedächtnis bestanden, rückte der Garten Gethsemane in eine weite, unwirkliche Ferne, die Schädelstätte, das Kreuz, der essiggefüllte Schwamm. Die Zeiten waren milder und menschlicher geworden, niemand brauchte seine Lenden mehr zu gürten, um auszuziehen in alle Welt, die Kanzeln standen fest, kein warmer Stein lag mehr auf einem Bergeshang, und kein Kriegsknecht stand drohend um den stillen Konfirmandensaal. Draußen fuhren die elektrischen Straßenbahnen vorüber, die Sonne schien auf den reichen Jüngling und auf den verlorenen Sohn, die Schüler der Gymnasien saßen auf der einen Seite, die der Volksschulen auf der anderen, und in dem breiten Mittelgang schritt der Konsistorialrat freundlich auf und ab, Lob und Tadel nach beiden Seiten verteilend, kein Ketzer mehr, kein Empörer, sondern ein treuer Diener des Staates und der Obrigkeit, ein Führer zu Zucht und Gehorsam, ein beredter Warner vor den Listen und Teufelsstricken der Zeit.

Ja, Jons saß da wie ein alter Mann, der vergessenen Spielen zusieht. Er lernte Sprüche und Verse noch einmal, und ihre Schönheit durchdrang ihn immer noch, aber sie waren wie eine ferne Stimme, über die das Leben hinwegging. Sie waren wie alte Heiligtümer, vor denen man sich verneigte, aber nur aus Höflichkeit und Pietät, weil die Väter sich vor ihnen verneigt hatten. Zur Anbetung aber hatte man neue Heiligtümer, glänzendere und modernere. Ihre Verse waren kürzer, und was sie verhießen, waren nicht der Friede Gottes oder das Himmelreich. Es entging ihm nicht, daß viele Gesichter sich spöttisch verzogen, wenn der Konsistorialrat die Lehre der Bergpredigt so bequem und behende in die neue Zeit legte, wie man einen edlen Stein in eine neue Fassung legt, und es kam vor, daß einer von der linken Seite eine Frage stellte, etwa, wann der Trost nun kommen werde für die, die das Leid trügen, und es war nicht zu verkennen, daß ein bitterer Haß die Lippen verzog, die diese Frage stellten. Aber die sanften Hände des Geistlichen strichen auch diese Falte glatt, und aus allen dunklen Kammern des Lebens öffnete sich eine nicht zu verfehlende Tür, die Tür in ein besseres Jenseits. Man mußte nur warten und glauben, und mit diesem Glauben war der Hunger besser als die köstliche Speise, die Bedrückung besser als die Freiheit der Könige. Denn sie waren eine Prüfung für die Auserwählten, ein besonderer Segen aus Gottes Hand, und manchmal schien es, als seien alle, die sich satt aßen und nicht im Gefängnis saßen, von vornherein zu allen Qualen künftiger Höllen verdammt.

Ja, Jumbo hatte recht, daß in dieser Rechnung etwas nicht stimmte. Sie war eine doppelte Buchführung, und die Bilanz war verschleiert. Aber Jons merkte in diesen Stunden auch, daß in seinem Leben etwas nicht stimmte. Solange er bei Herrn Stilling gewesen war, hatte er nur Hunger gehabt, den großen, blinden Hunger nach dem Licht, aber sonst war sein Leben noch in der alten Ordnung gewesen. Der Großvater fischte, der Vater brannte Kohle, Michael pflügte und die Mutter spann. Auch vor tausend Jahren hätten sie so leben können, etwas primitiver in den Werkzeugen, den Ansprüchen, den Bequemlichkeiten, aber doch auf denselben Wegen und mit demselben Ziel: Speise, Kleidung und ein Dach zu gewinnen, ein Stück Erde zu bebauen und in einem anderen Stück Erde zur Ruhe zu gehen. Es war nicht viel mehr, als was ihnen im alten Bunde befohlen und verheißen worden war. Und auch damals mochte hin und wieder ein Kind zu den Füßen eines Alten gesessen haben, um die Summe seiner Weisheit zu erfragen.

Aber in seinem jetzigen Leben war es anders. Es würde nicht viel ausgemacht haben, wenn er ohne Hände geboren worden wäre. Der Geist bedurfte der Hände nicht, er lebte in einem leeren Raum, wo nicht gepflügt, gefischt oder gesponnen wurde. In diesem Raum wurde nur gedacht, begriffen, aufgehäuft, getrennt und verbunden. Man brauchte keinen Pflug oder Spaten zu kennen, keinen Webstuhl, kein Netz. Man brauchte nur etwas Geld, um im Tempel der Weisheit sitzen zu dürfen, nur Ohr und Auge, um die Lehre zu empfangen. Man konnte böse oder gut sein, die Lehre kümmerte sich nicht darum. Sie verlangte nur, daß man begriff, und sie trieb nicht die Bösen aus, sondern die Törichten. Die Törichten konnten ein Handwerk lernen oder ihre Hände im Tagelohn rühren, aber die Bösen konnten alles erwerben, was man für böse Wege später brauchte. Der Mensch war gespalten worden, wie man einen Baum zum Bauen und zum Brennen spaltet, und Jons war nicht bei dem Abfall, der verbrannt wurde. Der Vater konnte kein Pfarrer und der Großvater kein Richter werden, obwohl sie mit Liebe und Weisheit erfüllt waren, aber Jons würde beides werden können, weil er im Tempel saß, und er konnte darin bleiben, weil Herr Stilling für ihn gespart und gedarbt hatte.

Was war zu tun? Es genügte wohl nicht, am Abend durch die Straßen der Armut zu wandern und in die Augen des Elends zu blicken. Mitleid war ein billiger Zoll zur Brücke der Behaglichkeit, und mit einer Handvoll Mitleid konnte man keine Suppe in der Volksküche kaufen. Es war nicht schwer, für sich ein Leben zu gewinnen, wenn der Meiler zu Hause wartete, der See oder ein Stück Acker, das Herr von Balk abgeben würde. Aber es genügte nun nicht mehr, für sich etwas zu gewinnen. Da waren Christean und Maria und der Vater, wenn er alt würde. Da war der Junge aus dem Konfirmandensaal, der gefragt hatte, wie lange man nun Leid tragen müsse, um getröstet zu werden. Da war die Frau vor der Hafenkneipe, die gesagt hatte, daß man die Männer ersäufen müßte wie junge Katzen. Und da waren alle die aus Sowirog und aus tausend anderen Dörfern, die noch nichts gesagt und gefragt hatten, aber die am Abend vor ihrem Pflug oder Webstuhl standen, mit gebeugtem Rücken und schmerzenden Armen, und in das Abendrot hinaussahen, ob dort nicht die Türme der goldenen Stadt glänzten und auf einer der Schwellen nicht derjenige säße, der bestimmt war, ihre Last für eine Weile zu tragen.

Es gab nur einen Trost: daß er noch so jung war. Jünger als Jumbo, und auch Jumbo wußte noch nicht, wie er vor dem stillen Gericht in der eigenen Brust bestehen würde. Viel jünger als Herr von Balk, dem Macht und Besitz gegeben war und der noch immer nicht begriffen hatte, weshalb diese Welt so eingerichtet war. Es galt wohl zu warten und zu lernen, noch mehr zu lernen, aber nicht nur das, was in den Büchern der Schule stand. Ja, auch mehr als das, was in Jumbos Büchern stand oder in denen seines Klassenlehrers Charlemagne. Und vieles konnte man beiseiteschieben, ein graues Trümmerfeld, Ballast für leere Schiffe, und sich an die Menschen halten, die lebendigen Zeugen des Lebens. An den alten Schuster etwa, der ihm Eisen auf die Absätze schlug und der hinter seiner Lichtkugel zu fragen pflegte, ob sie nun schon Tote auferwecken könnten. Oder an das alte Fräulein mit den ängstlichen, traurigen Augen, bei dem er seine Hefte und Federn kaufte und die ihn immer nach seinem Walde fragte, wenn er allein im Laden war. Oder auch an den Jungen, der nach dem Trost für die Armen geforscht hatte.

Nur den freundlichen Konsistorialrat brauchte er nicht zu fragen. Er würde gerne antworten, gerne und viel, und ihm die weiche Hand väterlich auf die Schulter legen, aber es würden die jenseitigen Antworten sein, die alles in eine unendliche Ferne rückten, die Sorgen, die Zweifel, die Not, so daß sie wie in einem umgekehrten Opernglas erscheinen würden, winzig, unwirklich, wie in einer Zwergenwelt.

Er dachte viel an den Abend im Konzertsaal zurück, wo das Wunderkind auf seine Art auf alle Fragen geantwortet hatte, und er wußte nun, daß es nicht ein Wunderkind, sondern ein Gnadenkind gewesen war. Es hatte nicht satt machen können, aber es hatte verzaubert. Es hatte die Wände des Saales und des Lebens aufgetan, die Lampen erlöschen, die Gesichter sich auflösen lassen. Es hatte eine neue Welt auferstehen lassen, eine Welt ohne Hunger und Durst, ohne Gewalt und Tod, und über dieser Welt hatte es seine sanften Sterne aufziehen lassen, die tönende Ordnung fremder Sonnen, die spielenden Brunnen der Vergessenheit, das Lied des Vogels Ohneleid. Die Erde kam wieder, wenn es die Hände von den Tasten nahm, die Wände, die Lampen, die Gesichter, aber für eine Weile war sie versunken gewesen, und wenn sie wiederkam, war sie anders geworden, von einem unirdischen Regen gewaschen und beglänzt. Vielleicht war das Ganze nur eine Täuschung, wie das Jenseits eine Täuschung war, aber sie war nicht so fern, nicht so hinter dem Tode, und weder Blut noch Worte waren vor ihrer Pforte aufgestellt.

Aber Jons war kein Wunderkind, er war ohne Gnade, und so mußte ihm wohl aufgetragen sein, auf eine andere Art seinen Acker zu bestellen. Er wußte es nur noch nicht, und so blieb ihm wohl nichts anderes als zu warten. Auch Kiewitt hatte warten müssen, bis sein neuer Acker Frucht trug. Auch Herr Stilling hatte warten müssen, ein ganzes Leben lang, bis er jemanden gefunden hatte, der das Licht nach Sowirog bringen würde. Alle warteten, und die Gläubigen taten es schon zweitausend Jahre lang, ohne ungeduldig zu werden.

Er hatte keine Freunde in der Schule. Er war der Jüngste in der Klasse, aber er war ihnen allen ein paar Hügel voraus auf ihrer Straße, und wenn er in das nächste Tal hinunterging, sahen sie ihn für eine Weile nicht mehr. Er wußte mehr als sie, und wenn sie das auch nicht zu trennen brauchte, so trennte sie doch die Art, wie er sein Wissen ordnete, benützte und anlegte. Er war zu ernst für sie, er war ein alter Mann, der den Abend kommen sah, und sie spielten noch in Tau und Morgenwind. Das Dorf hatte ihn alt gemacht, der Meiler und die Insel, der Großvater, die Eltern, die Geschwister. Er hatte einen Bruder gehabt, den man erschlagen hatte, und einen, der vielleicht schon hinter der grauen Mauer saß, und er wußte nicht, was aus den anderen werden würde. Es war, als habe das Dorf tausend Jahre lang gespart, um ihn zu erzeugen und in die große Welt zu schicken, jedes bißchen Hunger, jede Sekunde der Muße, jede Wolke der Sehnsucht: alles, was der Arbeit und Fron abgerungen worden war als eine Hoffnung auf ein besseres Leben. Es war, als trüge er das alles in sich und auf sich, ganze Geschlechter mit ihrem schweren Atem unter den dunklen Dächern, Krieg, Hagel und Mißernte, und als ständen sie dort in der Ferne, zwischen Moor und Wald, alle Jeromins, Goguns, Daidas und wie sie heißen mochten, der Lehrer Stilling und der Hirte Piontek, auf ihren Spaten oder ihre Axt gestützt, und blickten über das weite Land bis zu ihm hinüber, was er nun wohl tue und ob er auch an sie denke, ihrer aller Sohn, ausgezogen, um eine kleine Krone für sie zu gewinnen.

Und wenn man sie so sah, diese geduldig Wartenden, den Nebel auf dem Moor hinter ihren Häusern und die stille Rauchsäule des Meilers über ihren Wäldern, so konnte man nicht gut lachen, wenn sie eine Schachtel mit Maikäfern in der Physikstunde öffneten, oder voller Bewunderung sein, wenn sie eines Tages alle mit einem steifen runden Hut in der Schule erschienen. Man konnte ein bißchen lächeln, und bei dem Anblick der vielen feierlichen Hüte konnte man einen Augenblick an des Vaters Schirmmütze denken, wie er auf dem Bahnhof gestanden hatte, ein stiller Mann in einer lauten Welt. Aber man konnte sich nicht hingeben an diese Dinge, auch nicht, wenn man sommers und winters ohne Hut in die Schule ging, um mit Herrn Stillings Geld auszukommen. Man sah diese Dinge, freundlich, ohne Spott oder Neid, aber sie waren fern und unwirklich, wie die Dinge, die man im »Panorama« sah. Sie brannten einem nicht auf den Nägeln, sie reichten einem nicht bis ans Herz. Sie waren nicht das Senfkorn im Acker, das man auslegen mußte, solange man jung war und der Regen fiel.

Sie hatten einen unter sich, der der Sohn eines Schiffsreeders war, eines sehr reichen Mannes von großer Macht. Dieser Sohn nun trug sich in der Klasse wie der Prinz eines regierenden Hauses, den das Schicksal für eine Weile unter die Schweinehirten verschlagen hatte. Er war von großer, überschlanker Gestalt, auf das sorgfältigste gekleidet, mit einem blassen, gelangweilten Gesicht. Sein Mund war schön, wenn er nicht auf eine verächtliche Art lächelte, aber seine Augen waren so, daß selbst die Lehrer sich vor ihnen fürchteten. Ohne Haß oder Hohn, aber von einer verschleierten, eisigen Tiefe, ganz hell und flimmernd, als seien sie mit gefrorener Luft erfüllt.

Er war sehr klug, von einer auflösenden, zersetzenden Klugheit, der Schrecken aller Religionslehrer, und sehr schweigsam. Fast alle Lehrer vermieden, ihn zu fragen, und so saß er Stunde für Stunde gelangweilt da, ein weißes Blatt mit rätselhaften Figuren bedeckend oder die Kleidung der Lehrer musternd, bis er plötzlich durch eine Bemerkung, eine Frage bewies, daß er nicht nur da war, sondern daß er mit gespannter Aufmerksamkeit gefolgt war, bis zu dem Punkt, wo es Zeit war, das blitzende Messer der Verneinung in das schillernde, sentimentale Gewebe des Herkömmlichen zu tauchen.

»Ein Mörder, Jons«, sagte Charlemagne, »ein geborener Mörder. Die Frucht eines Zeitalters, das um das goldene Kalb tanzt. Die Väter Sklavenvögte und Straßenräuber, die Söhne kleine Neros und Caligulas. Wenn sie könnten, würden sie uns in ihren Parks zur Hälfte eingraben, mit Benzin übergießen und anzünden.«

Aber Jons hielt das für eine Übertreibung. Er hatte keinerlei Interesse für diesen eleganten Mitschüler mit dem gefährlichen Gesicht und dem schönen Namen Brockhusen. Er hatte damit zu tun, seinen Acker zu bestellen, und keine Zeit, auf das schöne Unkraut zu sehen, das auf den steinigen Rainen wuchs. Die anderen mochten ihn umwerben, seine Kleidung und die nachlässige, leise Art seines Sprechens nachahmen. Sie hatten immer jemanden, den sie für eine Weile auf ihren wechselnden Thron setzten, und es machte nicht viel aus, ob es ein junger Graf war oder ein künftiger Schauspieler oder nun dieser Reederssohn. Jons selbst war noch niemals nachgeahmt worden, höchstens mit freundlichem Spott, und er war es zufrieden. Er betrachtete Brockhusen aufmerksam während seiner Streitgespräche mit dem Religionslehrer, nannte ihn für sich im stillen das »Bildnis des Dorian Gray« und ließ ihn dann beiseite wie alles, was ihm ganz und gar fremd war.

Aber eines Abends sah er Brockhusen am Hafen, wie er, an einen Kistenstapel gelehnt, dem Löschen eines großen Dampfers zusah. Neben ihm saß auf einer der Kisten ein Mädchen von großer Schönheit, mit denselben Augen und demselben Mund, seine Schwester wahrscheinlich. Sie hatte die Beine übereinandergeschlagen, ohne viel Sorgfalt, rauchte eine Zigarette, was Jons an einer jungen Dame noch niemals gesehen hatte, und sah den Sackträgern zu, die aus dem Innern des Schiffes den Weizen über das Bollwerk zur Speicherwinde trugen. Auf dem Vorschiff standen ein paar Matrosen mit offener, tätowierter Brust und blickten mit grinsender Teilnahme auf das elegante Paar.

Jons ging vorüber, grüßte seinen Mitschüler höflich mit einer Verbeugung, empfing einen nachlässigen Gegengruß und dachte, wie es wohl sein müsse, wenn einem ein solches Schiff gehöre, mit Kapitän und Matrosen, mit Masten und Schornsteinen und einer Flagge, die über den blauen Meeren wehte.

Am nächsten Mittag aber – er war noch in der Schülerbibliothek aufgehalten worden –, als er den Schulhof verlassen wollte, stand Brockhusen an dem eisernen Tor, lächelte, nahm mit seinen Fingern ein Staubkorn von seinem Rockaufschlag und sagte: »Hallo, Jeromin, hat mir leid getan, daß ich dich gestern etwas spät erkannte, am Hafen. Rüffel von meiner Schwester bekommen wegen schlechter Manieren. Sie hält sehr darauf. Möchte dich gern kennenlernen. Wie wäre es, wenn du heute eine Tasse Tee bei uns trinken wolltest?«

Jons sah so erstaunt in seine gefrorenen Augen, als ob der Kaiser ihn eingeladen hätte. »Ich?« fragte er. »Meinst du wirklich mich?«

Brockhusen verbeugte sich artig. »Ja, dich, Jons Ehrenreich Jeromin. Ist das so wunderbar?«

»Ziemlich«, erwiderte Jons. »Ich meine, ich habe es nicht erwartet ... und ich weiß auch nicht, was wir beide ...«

»Du meinst, wir hätten wenig miteinander gemeinsam? Das wird sich herausstellen, Jeromin. Vielleicht wirst du dich auch besser mit meiner Schwester verstehen. Außerdem vergißt du, daß wir die beiden einzigen auf dieser Schule sind, die denken können. Die Pauker eingeschlossen. Und das verbindet immer.«

»Das ist nicht richtig«, sagte Jons langsam. »Es gibt hier eine ganze Menge, die denken ... aber ich will kommen, wenn du es möchtest ... wenn du und deine Schwester es möchten. Aber nicht heute. Heute nimmt Jumbo mich mit ins Kolleg. Morgen, wenn es paßt.«

Auch das verwand Brockhusen mit einem höflichen Lächeln, daß dieser Köhlerjunge einen andern Tag bestimmte. »Schön«, sagte er, »also morgen um fünf. Hier ist die Wohnung.« Und er überreichte ihm eine Karte, auf der sein Name und seine Wohnung gedruckt standen. »Servus also! Es wird uns eine Freude sein.«

Jumbo pfiff leise durch die Zähne, als Jons es ihm erzählte.

»Geh ruhig hin, Mönchlein«, sagte er, »aber paß gut auf. Der heilige Antonius ist noch nicht gestorben.«

Jons verstand es nicht ganz, und noch als er auf den schimmernden Knopf in der Marmorplatte drückte, wunderte er sich, was das alles bedeuten solle.

Brockhusen öffnete ihm selbst, klopfte ihn auf die Schulter und führte ihn eine breite Treppe zu seinen Zimmern hinauf. Er hatte ein Arbeitszimmer, ein Schlafzimmer und ein Bad, und Jons stand vorsichtig und voller Erstaunen auf dem weichen Teppich, sah sich um und durch das breite Fenster auf den stillen Park und dachte, daß es schwer sein müsse, in so jungen Jahren so viel zu besitzen.

»Hübsch, nicht?« fragte Brockhusen. »Der Väter Segen baut den Kindern Häuser, aber die Kinder Salomonis nähren sich nicht von Gold. Sela.«

»Ich würde nicht spotten, wenn ich dies besäße«, sagte Jons.

»Oh, vielleicht doch«, erwiderte Brockhusen, »und ich denke, daß du dich manchmal nach deiner Köhlerhütte zurücksehnen würdest. Gold gibt schwere Träume, mein Lieber.«

»Hunger vielleicht noch schwerere. Aber davon weißt du wohl nichts.«

Brockhusen verzog die Mundwinkel. »Wir nehmen den Tee bei meiner Schwester«, sagte er und öffnete eine Tür.

Im Hinausgehen sah Jons eine Reihe von Photographien nackter Frauen auf Brockhusens Schreibtisch, und nicht das erfüllte ihn mit Mißbehagen, sondern daß sein Gastgeber nicht für nötig gehalten hatte, sie für seinen Besuch zu entfernen. »Ich denke, daß ich nicht wiederkommen werde«, sagte er ernst.

»Oh, was für ein ehrlicher Gast«, meinte Brockhusen nachsichtig. »Aber wir wollen es abwarten.«

Er klopfte, und die Schwester kam ihnen entgegen. »Freue mich sehr, Herr Jeromin«, sagte sie und schüttelte ihm die Hand. »Wie heißen Sie mit Vornamen?«

»Jons Ehrenreich.«

»Ach wie schön und altertümlich ... Jons Ehrenreich ... Meilerrauch und Großvätersitte ... Ich heiße Anna, weil unsere Eltern das vor siebzehn Jahren schön fanden, aber hier oben heiße ich Gudrun, und Sie dürfen mich auch so nennen. Glauben Sie nicht, daß Gudrun so ähnlich ausgesehen hat?«

Sie bewegte sich in den schmalen Hüften und bemühte sich, ihm ihr Bild von allen Seiten zu bieten. Aber da Jons nicht wußte, wie Gudrun ausgesehen hatte, ihm aber war, als habe sie wahrscheinlich wenig Ähnlichkeit mit diesem Mädchen gehabt, so sagte er nur: »Es ist möglich. Man kann das nie genau wissen.«

Brockhusen grinste, aber sie sah ihn nur ernsthaft an. Ihr Gesicht war so schön wie das des Bruders, nur viel gereifter, und es kam Jons vor, als habe er niemals einen so nackten Mund wie den ihrigen gesehen. Er war ziemlich unglücklich, aber eine Stunde würde er nun wohl bleiben müssen. Was es doch für Menschen in solch einer Stadt gab ...

Es schien ihm höflich, sich nach dem Befinden der Eltern zu erkundigen, und es belustigte sie beide auf eine erschreckende Art. »O danke«, sagte sie, sich in ihrer Heiterkeit verschluckend, »Papa ist bei seiner Liebsten, und Mama hat wahrscheinlich eine Bibelstunde für gefallene Mädchen. Wir leben hier jeder nach seinem Geschmack, Herr Jons, und er ist nicht immer der exklusivste.«

Jons war errötet, und sie sah ihm aufmerksam zu. ›Was für hungrige Augen die Reichen haben können‹, dachte er verwirrt.

Sie sprachen von der Schule und von Dingen, die Jons nicht verstand. Beide Geschwister schienen eine Art Geheimsprache zu haben, die nur aus einer Fingerbewegung oder einem halben Lächeln bestand, und er kam sich vor wie auf dünnem Eis, weit von jedem festen Ufer entfernt, einen knisternden Laut unter den Füßen und tief darunter eine schwarze, bodenlose Tiefe.

Brockhusen empfahl sich höflich nach der ersten Tasse. »Muß noch fort«, sagte er. »Mich gefreut, Jeromin. Muß immer an Joseph im Ägyptenland denken, wenn ich dich sehe ... verloren im fremden Land ...«

Sein Blick ging lächelnd zwischen ihnen hin und her, bis Gudrun die Augenbrauen zusammenzog.

Gudrun ging ans Fenster und blieb dort, halb hinter dem Vorhang verborgen, noch eine Weile, nachdem sie die schwere Haustür ins Schloß hatte fallen hören. Ihr Gesicht war finster und gespannt, während sie Jons ansah, und erst allmählich kehrte es in die vorige Form zurück. Sie nahm Jons bei der Hand, führte ihn zu einem niedrigen Ruhesofa, drehte den Schlüssel in der Tür um und kauerte sich dann in einem Sessel vor Jons zusammen, wobei sie ohne Verlegenheit die Beine hochzog und die Hände um ihre Knöchel faltete. »So ist das bei uns«, sagte sie. »Wer hier leben will, muß es hinter verschlossenen Türen tun.«

Jons sah das zwar nicht ein, denn sie hatten den Tee bei unverschlossenen Türen getrunken, aber in diesem Hause mochte man wohl unter Leben etwas anderes verstehen als in der Hütte am Meiler. Es war ihm nicht behaglich auf seinem niedrigen Sofa, und er sah sich vorsichtig um, ob er nicht eine Uhr entdecken und die Zeit ablesen könnte. Auch hielt er es nicht für schicklich, seine Augen auf die Unterwäsche eines Mädchens zu richten. Soweit er sich an das Gudrunlied erinnerte, war das damals bei Königstöchtern auch nicht Brauch gewesen.

»Haben Sie ihn eigentlich gern?« fragte seine Gastgeberin plötzlich und deutete mit dem Kopf nach der Tür, wo ihres Bruders Zimmer lagen.

Nein, das könne er nicht sagen.

Sie nickte. »Ein Verbrecher, Jons«, sagte sie leise, »ein geborener Verbrecher.«

Nun, das ginge doch wohl zu weit ...

Sie schüttelte den Kopf und sah zur Decke hinauf. »Alles in diesem Hause ist morsch und verfault«, fuhr sie fort. »Jeder und alles. Sogar die Dienstboten. Das Gold ist unsere Schminke. Mit Gold kann man alles haben, alles, weil alles käuflich ist, auch die Liebe. Und wer alles hat, hat in Wirklichkeit nichts. Er ist viel ärmer als der, der gar nichts hat ... wußten Sie das schon?«

»Ich habe niemals alles gehabt«, erwiderte Jons langsam, »und kann es also nicht wissen. Aber ich glaube, es liegt an dem, was Sie ›haben‹ nennen. Unter ›haben‹ ist viel zu verstehen.«

»Nein«, sagte sie, »unter ›haben‹ ist nur eines zu verstehen. Das werden Sie bald erfahren, wenn Sie etwas älter werden. Haben Sie schon einmal ein Mädchen gehabt, Jons?«

»Es waren mir nicht immer alle gleichgültig«, erwiderte er zurückhaltend, »und zu Hause sitzen wir manchmal abends am See ... alle tun das bei uns, wenn sie jung sind ...«

Sie machte eine ungeduldige Bewegung mit der Hand. »Ich frage nicht, ob Sie mit einer Gänsehirtin in den Mond gesehen und hinterher Verse gemacht haben, Jons. Sondern ob Sie ein Mädchen ›gehabt‹ haben, verstehen Sie? Ganz und gar? Mit Haut und Haaren?«

Er wandte seine tiefliegenden Augen langsam zu ihr und sah sie an. »Nein, das habe ich nicht«, sagte er. »Aber sprechen Sie denn von solchen Dingen? In der Schule etwa?«

Sie lachte leise auf. »›Sprechen‹ tut Mama von solchen Dingen«, antwortete sie, »mit ihren gefallenen Mädchen, und ich denke, sie müssen ihr alles ganz genau erzählen. Sehr genau, mit allen Einzelheiten. Das ist ihre Art von Erotik. Auch Ladenmädchen ›sprechen‹ davon. Ich selbst spreche wenig ... aber das habe ich mir gedacht, als ich Sie am Hafen sah, Jons ... es fällt einem etwas schwer, sich das zu denken, wenn man in diesem Hause aufgewachsen ist.«

›Nein, so leicht will ich es doch nicht haben‹, dachte Jons, und zwei tiefe Falten erschienen zwischen seinen Augenbrauen. Er sah das Bild des toten Bruders im »Paradies« und das Bild des Mädchens, um das der Vater den Arm gelegt hatte. Um so weniges hatte der Bruder sich nicht erschlagen lassen, und um dieses Mädchen vor ihm würde der Vater wohl nicht den Arm gelegt haben. Mit Gold war noch keiner von ihnen zu kaufen gewesen, außer Gotthold vielleicht, aber die Mutter hatte Gotthold ins Gesicht geschlagen und ihn ausgewiesen aus ihrer Gemeinschaft.

»Ich habe mir immer gewünscht«, sagte sie leise, »jemanden zu finden, der nach Erde riecht, nicht nach Parfüm. Ich habe mir gedacht, es müßte wunderbar sein ...«

»Was müßte wunderbar sein?«

»Ihm zu gehören. So wie ich vorhin sagte: mit Haut und Haaren. Es kümmert mich nicht, ob es schlecht oder verboten ist. Und wer noch nie ein Mädchen gehabt hat, würde sterben können in meinen Armen vor Seligkeit, Jons.«

Er habe noch kein Verlangen, zu sterben, meinte Jons trocken.

»Ach, was wissen Sie davon ...«, sagte sie. »Tausend solcher Tode würden Sie sich wünschen.«

Er war schon aufgestanden und zog seine Jacke zurecht. Es war ihm plötzlich gewesen, als höre sein Vater zu.

»Das hattet ihr alles besprochen«, fragte er, »nicht wahr? Und ihr dachtet, mit mir würde es leicht sein, leichter als mit einem Matrosen oder einem Schauermann, nicht? Ihr dachtet, er würde beseligt sein, der Köhlerjunge aus dem Walde, nicht wahr? Aber ich möchte wohl wissen, was er dafür bekommen hat von dir, der schöne Brockhusen. Möchtest du mir das nicht sagen?«

Ihr Gesicht war nun weiß vor Haß, als sie aufstand und den Schlüssel in der Tür zurückdrehte. »Ich vergaß, wo Sie herkommen, Jeromin«, sagte sie, und ihre Stimme war heiser geworden wie nach einer Krankheit. »Gehen Sie zu Ihren Kuhmägden, wo es einfacher ist mit diesen Dingen.«

»Einfacher kann es nicht gut sein«, erwiderte er. »Und Dank für die freundliche Bewirtung.«

Noch auf der Treppe hörte er ihr Lachen. Es war wohl töricht, daß er das gesagt hatte, aber die Mutter hatte immer darauf gehalten, und es kam nun auch nicht mehr darauf an.

Bis zur Dämmerung ging er den Strom hinunter und wieder hinauf. Die Rohrwände waren so hoch, daß man die schweren Kähne nicht sah, die vom Haff hereinkamen, und so schien es, als ob die breiten Segel allein über dem Wasser schwebten. Das Lautlose und Unmerkliche ihrer Bewegung erfüllte das ganze Land mit einer großen, alles besiegenden Ruhe. Manchmal bellte ein Hund von einer unsichtbaren Bordwand, und manchmal heulte ein Schlepper dumpf und drohend auf, aber dann schloß der Himmel sich wieder zu über diesen Stimmen der Erde, und die großen, weißen Sommerwolken zogen wieder ruhig über dem Strom dahin.

Sie nahmen auch das letzte Fieber aus Jons' Blut, und als die roten und grünen Lichter des Hafens wieder vor ihm unter dem Abendhimmel standen, blickte er schon von weitem zurück auf diesen ersten Versuch, die Grenzen seines Lebens zu erweitern und zu erfahren, wie man in den reichen Häusern über die kurzen Tage des Menschen dachte. So einfach also war es ihnen, ihren Acker zu bestellen. Sie wußten nichts davon, wie schwer es war, jede Lust zu erwerben. Sie streckten eine goldene Hand aus und dachten, daß damit alle Armen der Welt zu kaufen seien, zur Arbeit, zur Missetat und zur Liebe. Es war wohl nicht so gemeint, daß auch auf ihren Acker die Gerechtigkeit gebracht werden sollte, und ein Tor war, wer sich einbildete, daß er diese ihre Welt jemals »bewegen« würde. Andere Kräfte und Mächte mußten wohl aufstehen, um sie zu bewegen, und er glaubte nicht, daß sie jemals nur in eines einzigen Menschen Hand liegen könnten. Der Großvater hatte das Herz eines Mörders bewegen können, aber diese würden über ihn gelacht haben, wie sie über seinen Dank für die Bewirtung gelacht hatten. Es gab schlimmere Dinge als den Mord mit einer Kugel, und auch davon stand in seinen Büchern wenig geschrieben.

Er ging noch am Abend in Jumbos Zimmer, weil er nun verstand, was jener mit der Auferstehung des heiligen Antonius gemeint hatte. Jumbo sah nur flüchtig von seinen Büchern auf.

»Nun, Mönchlein, schon zurück?«

»Weshalb ›schon‹, Jumbo? Ich war doch nur zum Tee eingeladen?«

»Oh, manche jungen Damen trinken den Tee noch morgens in ihrem Bett, weißt du. Einige, die es wissen müssen, haben es mir erzählt. Und manche wünschen sich auch Gesellschaft dabei, wie die Königinnen bei ihrem Lever.«

»Anscheinend bin ich kein guter Gesellschafter, Jumbo.«

»Das habe ich gehofft, Mönchlein, stark gehofft. Am Meiler lernt man so etwas nicht, und es ist zu erwarten, daß du es nie lernst.«

»Und weshalb hast du mich nicht gewarnt, Jumbo?«

»Ach, weißt du, Jons, ich hatte immer Angst vor dem Wasser, und das kam wohl von der Leine her, an der sie mich hielten. Bis mich einmal einer vom Sprungbrett kopfüber hineinstieß, da hatte ich keine Angst mehr. Siehst du, ich bin nicht für Warnungen. Warnungen erhöhen den Durst, und du kannst es noch gut eine Weile ohne den Becher aushalten. Meistens ist er außerdem nicht so süß, wie man denkt. Aber nun erzähle, Mönchlein. War sie eine zweite Penthesilea? Es sind so allerlei Schwänke über sie im Umlauf.«

Jons erzählte, und Jumbo nickte weise mit dem Kopf. »Sie sind immer zu ungeduldig, Mönchlein. Sie haben keine Zügel. Geduld und Zügel haben nur die Armen. Und sie haben nur schlechte Romane gelesen, davon kommt es auch. ›Sie schlug ihre Zähne brünstig in den Hals des Geliebten‹, und so weiter. Aber erstens ist es gar nicht so einfach, einen Hals zwischen die Zähne zu bekommen, und dann tragen wir auch alle viel zu hohe Kragen. Die Mode ist ungünstig für solche Sitten.«

Jons lächelte. »Ich möchte wohl wissen, was du getan hättest, Jumbo.«

»Ich? Das kann man nie genau vorhersagen, Mönchlein. Aber wahrscheinlich würde ich sie übers Knie gelegt haben. Sie haben so wenig an heutzutage, daß es schon durchkommt.«

»Und ich habe mich für die freundliche Bewirtung bedankt.«

»Tut nichts, Mönchlein. Großväterliche Sitten schänden uns nicht. Und nun sieh zu, daß du es aus dem Blut bekommst. Manche Dinge werden erst gefährlich, wenn man sie überstanden hat. Diphtherie zum Beispiel, die sich dann aufs Herz legt oder auf die Augen. Es ist gut, daß deine großen Ferien bald anfangen.«

»Ja«, sagte Jons, »ich denke, ich werde fischen und Roggen mähen. Mir ist, als sei dies hier doch nicht immer ganz das Rechte.«

»Hat mir schon lange so geschienen, Mönchlein. Aber wo gibt es das Recht und wo das Rechte auf der Welt? Nur die Rechte kannst du lernen, wenn du fleißig bist. Auf allen Universitäten. Ein verdächtiger Plural, ja ...«

In der Tür blieb Jons noch einmal stehen. »Du weißt soviel, Jumbo«, sagte er leise. »Meinst du, daß ... daß Gina auch so ist?«

»O nein, Mönchlein, keine Angst. Die ist ganz anders, ganz anders!«

Jons versuchte, es »aus dem Blut« zu bekommen. Es war nicht ganz so einfach, wie er es am Strom geglaubt hatte, zumal er Brockhusen täglich sah. Aber es gab nun keine Gespräche mehr zwischen ihnen, nur daß jener an jedem Morgen statt eines Grußes auf eine eigentümliche Art lächelte, und Jons dachte, daß jeder aus Potiphars Gesinde so gelächelt haben könnte.

Einmal träumte ihm, daß die älteste der schwarzen Schwestern, bei denen er in Pension war, ihn verfolgte, um ihre entblößten Zähne in seinen Hals zu schlagen. Aber sein Hals verwandelte sich plötzlich in eine Litfaßsäule, eine riesige, blecherne Röhre, die außer ihm war, so daß er sie sehen konnte, und er hörte deutlich, wie die Zähne der langen schwarzen Gestalt von dem Blech abglitten, mit einem stumpfen, kratzenden Ton, wie Griffel von einer Schiefertafel. Und als er am nächsten Morgen die Schwester sah, wie sie lautlos, dunkel und unendlich lang hinter dem Vorhang verschwand, überwältigte ihn das Komische der Erinnerung und der Vorstellung, und mit dem Traum war das Fieber aus seinem Blut verschwunden.


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