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XVIII

Jons erfuhr Jumbos Tod erst zu Beginn des Frühlings, und auch Jumbos Eltern hatten ihn nicht früher erfahren. Man hatte die Toten erst bei der Schneeschmelze gefunden. Er erfuhr ihn durch eine gedruckte Anzeige, über der ein Eisernes Kreuz stand, aber schon am nächsten Abend klopfte es leise an seiner Tür, und ein alter Mann in einem ausgewachsenen Gehrock, mit einem abgeschabten Zylinder in der Hand, stand vor der Schwelle. Er trug eine Brille wie Jumbo, aber hinter ihr waren seine Augen trübe und von roten Adern durchzogen, die Augen eines Trinkers. Es war der Gastwirt, Jumbos Vater.

Er blieb eine Weile auf der Schwelle stehen, als blende ihn der Lampenschein, und blickte durch seine Brille auf Jons und die vielen Bücher an den Wänden. Etwas Ergreifendes lag um seine schwerfällige, provinzhafte Gestalt. Etwas von einem reichen Mann, der arm geworden war und nun an den Türen betteln ging. »Ja«, sagte er, »ich bin es. Sie haben ihn nun gefunden.«

Jons half ihm aus seinem Mantel und führte ihn zu dem abgeschabten Sofa. ›Es ist also wahr‹, dachte er. ›Nun ist es wirklich wahr.‹

Herr Eschment putzte die Brille mit einem großen, geblümten Taschentuch und vergaß, sie wieder aufzusetzen. Er hielt sie in seinen zitternden Händen und sah Jons an. »Er lag neben seinem Leutnant«, sagte er, »und hielt die kurze Pfeife in der Hand. Er rauchte zuviel, Herr Jons, aber dort mag es ihm gutgetan haben, in seiner schweren Stunde.«

Jons nickte, und ein schwerer, hoffnungsloser Schmerz preßte ihm die Kehle zusammen.

»Sie haben mir nicht geschrieben«, fuhr Herr Eschment fort, »was für einen Schuß er gehabt hat, und vielleicht war es auch nicht mehr zu erkennen. Es war ein großer Wald mit hohen Tannen, und viele lagen dort. Ich denke, daß er erfroren ist, und sie sagen, daß es ein schöner Tod sein soll. Sie haben mir alles geschickt, was er bei sich trug, auch die Brieftasche, und es lag ein Zettel drin, daß Sie seine Bücher haben sollen, Herr Jons. Deshalb bin ich auch gekommen.«

Er setzte die Brille wieder auf und blickte über die schweigenden Reihen hin. »Ich weiß nicht«, fuhr er fort, »ob es Ihnen viel nützen wird, weil er doch einmal Pfarrer werden wollte. Aber ich weiß, daß Sie sie in Ehren halten werden. Er hatte große Stücke auf Sie gehalten, Herr Jons, sehr große Stücke. Er sprach ja nicht viel, wenn er zu Hause war, aber von Ihnen hat er oft gesprochen.«

Jons nickte wieder. Die Tränen strömten über sein Gesicht, und er sah den alten Mann nur wie in einem Nebel.

»Ich beklage mich nicht«, sagte Herr Eschment, »und auch Sie sollten nicht weinen. Nein, ich beklage mich nicht. Wir sollen dem Kaiser geben, was des Kaisers ist. So steht es geschrieben, und so haben wir es auch gehalten. Er selbst, er mag ja anders darüber gedacht haben, aber er hat es sich nicht merken lassen. Er ist ein guter Soldat gewesen, und er hat neben seinem Leutnant gelegen.«

»Einmal werden wir mehr brauchen als gute Soldaten«, sagte Jons endlich, »und dann wird er nicht da sein.«

»Andere werden da sein, Herr Jons. Sie zum Beispiel. Aus einem tiefen Brunnen fließt immer Wasser. Wir sollen uns nicht beklagen, aber ... aber ... er war ein guter Sohn, Herr Jons ...«

Jons nickte wieder.

»Er hat immer gedacht, daß ich nicht gewußt habe, daß er nicht Pfarrer werden wollte, und ich sollte es auch nicht wissen. Er war einer, Herr Jons, der die Seele nicht verletzen wollte, und solche sind selten. Bei solchen Eltern sind sie sehr selten ... Aber ich habe es gewußt, lange schon. Zuerst war ich betrübt, weil ich gedacht hatte, daß er für mich beten würde. Manchmal ist es nötig, für mich zu beten, Herr Jons.«

»Für uns alle wohl«, sagte Jons.

»Ja, aber dann war ich nicht mehr betrübt. Ich wollte nur, daß er froh sein sollte. Und er war nicht froh, Herr Jons.«

»Er war zu klug, Herr Eschment. Er sah zuviel, den Weg des Fleisches und alles andere. Er war tapfer und freundlich und still, aber er war nicht froh.«

»Nein, er war nicht froh, und deshalb trank er wohl auch ein bißchen. Nicht viel, aber doch so, daß das Salz ihm sanfter schmeckte. Verstehen Sie, Herr Jons?«

Jons verstand es sehr gut.

»Das Salz der Welt, ja. Es hat auch mich gebrannt, und ich konnte eben nichts weiter als trinken. Aber er konnte mehr. Er wollte es dämpfen, Herr Jons, das sind seine Worte. ›Das Salz der Erde dämpfen.‹ Und ich denke, daß das ein großer Plan war.«

»Es war der Plan, viele Tränen zu trocknen, Herr Eschment.«

»Ja, ja, ein großer Plan ... es war schon des Heilands Plan, und es ist schon solange her, seit sie damit angefangen haben. Meinen Sie, daß sie einmal damit fertig werden, Herr Jons?«

Nein, das meinte Jons nicht. Aber er meinte, daß noch kein Mensch auf dieser Erde groß oder edel genannt worden sei, der nicht Hand dabei angelegt hätte.

»Und er hätte Hand angelegt, Herr Jons?«

»Wer sonst, wenn nicht er? Und bei mir hat er es schon getan. Ich kam aus dem Walde, wie ein Vogel, der aus dem Nest gefallen ist. Ich habe unter seinen Flügeln gelebt, Herr Eschment, verstehen Sie? Unter seinen Flügeln ...«

»Jaja«, sagte der Gastwirt nachdenklich, »und vielleicht bin ich auch deshalb gekommen. Wenn nun einer fällt von den Wächtern Zions, Herr Jons, ist es dann nicht gut, wenn gleich ein andrer da ist? Ein Stellvertreter? Damit die Stadt bewacht wird und keine Hand fehlt, um das Salz zu dämpfen? Ist es dumm, so zu denken?«

Jons sah ihn lange an. »Aber in einem Jahr gehe ich ja selbst hinaus«, sagte er endlich leise.

»Jaja, ich weiß. Sie gehen hinaus, aber Sie kommen wieder. Ich weiß, daß Sie wiederkommen. Ich habe gesagt, daß ich mich nicht beklage, aber ich habe es gesagt, weil ich denke, daß er in Ihnen weiterleben wird. Sie waren ihm wie ein Sohn, Herr Jons, hören Sie? Er selbst war nur eine Form, und auch Sie sind nicht mehr, aber das, was darin war, verborgen in der Form, wollen Sie das dort liegenlassen in dem großen Wald, wo er liegt? Wollen Sie es nicht aufheben, Herr Jons?«

Es waren nun nicht mehr die Augen eines Trinkers, eines kleinen Gastwirts aus einer kleinen Stadt. Es waren auch nicht mehr nur die Augen eines Vaters, der für das zersplitterte Bild eines Sohnes ein anderes heiles Bild setzen wollte. Es waren nun Jumbos Augen, ernst und leise sorgenvoll. Augen, die längst auf das verzichtet hatten, was die Menschen Glück nannten, und die auf nichts anderes blickten, als was sie die »Dreißig Morgen« nannten. Den winzigen Raum der Erde, auf dem sie nun Hand anlegen wollten, damit etwas, nur etwas von dem verschwände, was für sie das große Unrecht war, oder das große Leid, der Haß und die Gewalt.

»Ich will es nicht liegenlassen«, sagte Jons. »Er war mein Lehrer, und ich will immer sein Schüler bleiben.«

Herr Eschment nickte. »So bin ich nicht umsonst gekommen«, sagte er. »Ich habe gebetet, bevor ich herkam ... Sie wissen wohl, daß ich viel bete ... und Gott hat mich erhört. Einfache Leute wie ich haben nicht viel anderes als das Gebet und dieses ... entschuldigen Sie bitte, Herr Jons ...«

Er zog eine kleine, flache Flasche aus seinem Rock, wandte sich ein wenig zur Seite und trank. Er war nicht verlegen, er verbarg seine Sünde nicht, und als er getrunken und die Flasche wieder fortgesteckt hatte, sah es aus, als habe er nur einen Knopf an seiner Weste geschlossen oder sonst eine kleine Unordnung beseitigt.

»Das Leben ist nun zu Ende«, sagte er und stand schwerfällig auf. »Es gibt Väter, für die es zu Ende ist, wenn es für den Sohn zu Ende ist. Aber was nun noch kommt, wird mir leichter sein, wenn ich an Sie denke, Herr Jons. Es wäre leichter für das ganze Land, wenn alle so denken könnten. An einen Stellvertreter, der nichts liegen läßt. Aber es können nicht alle so denken. Es gibt nicht soviele Stellvertreter, Herr Jons.«

Er trat vor die Bücherreihen und ging langsam an ihnen entlang, wobei er mit der rechten Hand vorsichtig über die Einbände fuhr. »Das Salz ...«, sagte er leise, »alles für das Salz ... aber wenn Sie erlauben, Herr Jons, möchte ich dies gern mitnehmen, ja?« Er blätterte in einem Neuen Testament, und Jons sah, daß der Rand der kleinen Blätter mit vielen Anmerkungen in Jumbos kleiner, zierlicher Schrift bedeckt war.

»Sie sollen alles mitnehmen, was Sie wollen«, erwiderte Jons.

Aber der Gastwirt schüttelte den Kopf. »Bücher sind keine Andenken«, sagte er. »Dazu sind sie zu schade. Ich habe immer gedacht, daß Bücher Waffen sind und Salben, und Waffen und Salben gehören nicht in einen Schrank ... Leben Sie nun wohl, Herr Jons. Gehen Sie hinaus und kommen Sie wieder. Ich freue mich, daß ich gekommen bin ... hier hat er nun gelebt, ja ...«

Jons half ihm in den Mantel und reichte ihm den hohen Hut.

»Auch Sie sind kein froher Mensch«, sagte Herr Eschment noch auf der Schwelle. »Ich sehe es. Aber wer daran arbeiten will, daß die Menschen nach tausend Jahren froh sein sollen, froher als heute, der kann es vielleicht auch nicht sein. Meinen Sie, daß die Apostel froh waren, Herr Jons?«

Jons hatte nicht darüber nachgedacht, aber er meinte es nicht.

Herr Eschment nickte. »Nicht einmal die Trinker sind froh«, sagte er nachdenklich, und dann ging er in den halbdunklen Gang hinaus.

Und damit erlosch alles Sichtbare, was von Jumbo geblieben war. Seine Bücher, der Nachklang seiner Gespräche, sein Lächeln, der Rauch seiner kleinen Pfeife, sie waren das Unsichtbare, und in ihnen begann Jons nun zu leben. Niemand brauchte ihm zu sagen, wieviel er verloren hatte, und doch war es, als habe erst der Tod dieses Bild vollendet. Die großen Mahnungen waren immer erst bei den Toten. Bei den Händen, die sich nicht mehr rühren konnten, aber von denen man wußte, daß sie sich hatten rühren wollen. Er meinte zu wissen, daß ihm der Tod nicht allzu bitter geworden war. Die frühe Weisheit seiner Augen würde auch jenen fremden Wald umfaßt haben, die hohen Bäume, den Schnee, die Sonne oder die Sterne. Er hatte sich oft gegen Menschen aufgelehnt, gegen ihre Meinungen und Taten, mit Leidenschaft und Zorn sogar, aber niemals gegen die Natur. Wer sich gegen den Tod auflehnte, mußte sich auch gegen das Leben auflehnen, schon gegen die Geburt. Aber das hatte er nie getan. Er hatte sich nur dagegen gewehrt, daß man ihnen andere Namen unterschob, den Gottes zum Beispiel. Er war nicht froh gewesen, auch unter jenen hohen Bäumen wahrscheinlich nicht. Nur Kinder und Narren waren froh, und auch sie nicht immer. Aber er war weise gewesen, weise und tapfer, und das war etwas, was die meisten mit siebzig Jahren noch nicht erworben hatten. Er hatte das Salz der Erde noch nicht gedämpft, aber er hatte ihm gezeigt, daß es wert war, dafür zu leben.

Als Jons in den Osterferien nach Hause kam, hatte sein Vater den ersten Urlaub bekommen, und in ganz Sowirog bauten sie ihre Häuser auf. Sie hatten die Ziegel und das Holz im Winter angefahren, und wenn es auch an Männern fehlte, so kamen sie mit der Arbeit doch vorwärts. Und da sie ihr Vieh und den größten Teil ihrer Habe gerettet hatten, so trauerten sie nicht sehr um das Vergangene. Viel mehr als ein Dach und einen Herd hatten auch ihre Vorfahren nicht besessen und erstrebt.

Jakob schlief am Meiler wie früher, aber tagsüber war er im Dorf, saß mit Jons auf dem Dach und deckte es mit Rohr. Er war noch stiller als sonst, und eine dünne, weiße Narbe, die von der Wange zum linken Ohr lief, hatte sein Gesicht leise verändert, als sei es schmäler und härter geworden. Nein, wozu hätte er davon schreiben sollen, sagte er zu Jons. Ein Bajonettstich, der ihn gestreift habe. Er sei gar nicht von der Truppe fortgegangen.

Aber hin und wieder gab er Jons doch einen Rat, worauf er achten möge, wenn er einmal draußen sei. Die Füße, und daß die Abzugsschnur der Handgranaten nicht lose aus dem Stiel heraushänge, besonders wenn man durch einen Drahtverhau gehe. Und daß er sich nicht darüber wundern sollte, wenn die Offiziere so viel tränken. Er solle sich überhaupt nicht wundern. Der Krieg sei eine andere Welt, aber er müsse immer bedenken, daß er ein Übergang sei und daß die Menschenhand später dort wieder beginnen müsse, wo sie aufgehört habe.

Und dazwischen machten sie die Rohrbündel fest und blickten über den See, der blau und kühl zwischen den Wäldern lag.

Aber am Abend, wenn sie vor dem erloschenen Meiler saßen, wollte Jakob wissen, was nach dem Kriege mit Jons sein würde. Er war nie neugierig gewesen, und eine leise Angst begann Jons zu erfüllen. Er begriff, wie anders die Welt geworden war, und daß die große Veränderung auch den Vater erfaßt hatte. Das Schwankende und Flüchtige aller Gegenwart, und daß man von der Zukunft sprechen mußte, weil man nicht wußte, ob man es noch einmal würde tun können, wenn man die Minute versäumte. Früher war der Meiler die Zukunft gewesen, und sie hatten gewußt, daß er glühen würde, solange man seine Pflicht nicht versäumte. Aber nun war der Meiler tot, und sie mußten von den Menschen sprechen statt vom Holz und von der Kohle.

Er wisse es noch nicht, sagte Jons, aber wahrscheinlich werde er ein Landarzt werden, hier in Sowirog. Ein Arzt für alle Dörfer in der Runde, für Förster und Waldarbeiter, für Fischer und Hirten. Er wisse es noch nicht genau, weil eines dabei sei, was ihn quäle. Daß nämlich der Kreis seines Lebens eng sein werde, wenn er das tue. Daß er von hier aus wahrscheinlich nicht die Welt bewegen werde und auch nicht die Gerechtigkeit auf den Acker bringen. Noch wisse er nicht, ob man das überhaupt tun könne, und der Herr von Balk und Jumbo hätten es nicht geglaubt. Und sobald auch er eingesehen habe, daß es ein Phantom sei, daß die Welt zu groß geworden sei, um so etwas zu erreichen, werde er dem Phantom nicht nachjagen, sondern für ein Dutzend Dörfer leben statt für die ganze Welt.

Jakob sah still vor sich hin. »Nach dem Krieg«, sagte er dann, »wirst du vieles wissen. Du wirst auch demütig sein nach dem Krieg. Warte bis dahin.«

Am Abend aber nahm er Jons noch einmal leise beim Arm. »Wir waren immer kleine Leute, Jons«, sagte er, »und wir haben nicht viel Holz für unsern Hofzaun gebraucht. Und trotzdem denke ich, daß ein Leben wie das des Großvaters nicht verloren war. Er ist gefallen, und auch der Kaiser wird fallen. Ja, ich denke, daß er fallen wird. Aber vom Großvater wird besser gesprochen werden als vom Kaiser. Laß dich nicht bedrücken, daß es nur ein paar Dörfer sind, Jons. Nicht Ruhmesreich bist du getauft, sondern Ehrenreich. Und meinst du nicht, daß man in einen kleinen Holzbecher ebensoviel Liebe füllen kann wie in einen silbernen Kelch?«

Mehr sprachen sie von der Zukunft nicht, aber in den Abendstunden saß Jakob nicht mehr wie früher still auf der Schwelle, die Hände um die Knie gefaltet oder um das große Buch gelegt, sondern er flickte die Netze, um die seit des Großvaters Tod sich niemand gekümmert hatte, oder er besserte den Hofzaun aus oder setzte einen neuen Stiel in die Axt. Er war so tätig, daß es selbst Christean auffiel, aber sie sagten beide nichts. Sie wußten auch nicht, ob der Krieg die Menschen nun dahin verändere, daß sie ruhelos wurden. Nur daß er sie veränderte, das wußten sie.

Jakob mußte am Abend des Karfreitag fahren, und in der letzten Nacht, als Jons und Christean schon schliefen, kam er noch einmal vom Meiler herüber, trat leise ins Haus und öffnete die Tür zur Kammer, die Marthe nun allein bewohnte. Sie war erst spät vom Bleichplatz gekommen und lag noch mit offenen Augen in dem breiten Bett. »Ich will keine Kinder mehr«, sagte sie finster, ohne sich aufzurichten.

Aber er schüttelte den Kopf. »Ich komme nicht um ein Kind«, sagte er und legte leise seine Kleider ab. Als er neben ihr lag, die Arme unter dem Kopf gefaltet, kam ihm das alles vor, als sei es vor dreißig Jahren gewesen: der Geruch des frischen Holzes und der Wäsche, das kleine Fenster, vor dem die Sterne standen, und der Atem eines Menschen neben ihm. Es roch nicht nach Rauch, keine Blätterstreu rührte sich unter ihm, und der Wald mit seinem leisen Rauschen war nicht zu hören. Es war wie ein fremdes Quartier im Kriege.

Der Atem neben ihm war still wie der einer Schlafenden, und er bedachte noch einmal, wie er es die ganzen Tage getan hatte, daß es keine größere Fremdheit auf dieser Erde gebe als die zwischen zwei Menschen, die dieselbe Sprache redeten. »Nein, ich komme nicht um ein Kind«, begann er endlich, »ich komme nur um ein bißchen Frieden, ehe ich wieder fortgehe.«

Ihr Atem ging weder schneller noch langsamer. »Frieden macht der Kaiser«, sagte sie schließlich.

»Ich meine nicht diesen Frieden. Ich wollte nur sagen, daß ich wohl viele Dinge nicht recht gemacht habe. Man kann Gott gehorsam sein und doch die Menschen kränken.«

»Ja, das kann man wohl.«

»Und man kann Gott ungehorsam sein und ebenso kränken. Manchmal ist keine Brücke zwischen der Welt Gottes und der der Menschen.«

»Für mich war da niemals eine Brücke.«

»Ja, du warst wie die Frau im Märchen, die zuviel haben wollte, und ich war nicht der, der es dir geben konnte. Ich konnte dir wenig geben, und das war meine Schuld. Du dachtest, als du mich nahmst, ich wäre ein König, aber als die Kleider abfielen, war ich nur ein Köhler.«

»Auch in Kleidern warst du ein Köhler«, sagte sie. »Du warst ein guter Köhler, aber ich hatte nichts davon. Du warst ein Mann, der stolz war bis zum Hochzeitstage, und von da ab warst du demütig. Du warst wie ein Mann, der einen falschen Namen trägt.«

Er dachte lang nach, aber dann schüttelte er den Kopf. »Ich habe nie versprochen, daß ich Großes werden wollte«, sagte er endlich. »Es sah nur so aus, als ich um dich warb. Für mich warst du etwas Großes. Und als ich dich hatte, wollte ich Kinder haben und ein frommes Haus. Aber du wolltest weder Kinder haben noch die Bibel. Du wolltest Prinzen haben, und du wußtest nicht, daß eine Mutter sich beugen soll.«

»Nein, wir sind nicht aus Weidenholz, dort, wo ich geboren bin.«

»Gott biegt noch anderes Holz als Weidenholz ... Aber das ist nun alles geschehen und kommt nicht wieder. Ich wollte sagen, daß dein Enkelkind Jons einmal den Hof bekommt. Ich habe es so aufgesetzt und für die anderen gesorgt. Viel ist es ja nicht, was ich zu geben habe.«

Sie richtete sich nun auf und sah ihn an. Er sah ihr weißes Gesicht nur wie einen Schein in der Dämmerung der Kammer. »Und dein Sohn Jons?« fragte sie.

»Ich will es ihm morgen sagen, und ich weiß, daß er es zufrieden sein wird. Er wird ein Arzt werden und hier leben, und er ist nicht einer von denen, die etwas haben wollen. Er ist einer von denen, die geben wollen. Er hat, was du wohl ein Köhlerherz nennen wirst.«

»Und ich? Soll ich unter demselben Dach leben mit denen aus der ›Armen Sünde‹?«

»Wir leben alle unter diesem Dach. Aber du wirst ein anderes Dach bekommen. Sie werden es dir bauen. Es wird niedrig sein, aber auch du wirst kleiner werden, wenn das Alter kommt. Sie werden für dich sorgen. Sie werden vergessen, daß du einmal geschlagen hast, wo du hättest streicheln sollen.«

Sie legte sich wieder zurück, aber sie sprach nicht mehr. Die Sterne rückten in dem kleinen Feld des Fensters vor, verschwanden hinter dem hölzernen Kreuz, tauchten wieder auf und versanken dann für immer. Der Zeiger der Himmelsuhr drehte sich ganz langsam, und Jakob sah ihm zu. Er wußte nicht, ob die Frau neben ihm schlief, und er brauchte es auch nicht zu wissen. Er war nicht zufrieden mit dem, was er gesagt hatte, und er hatte auch nicht gefunden, was er gesucht hatte und was er hatte mitnehmen wollen. Stückwerk blieb, was die Menschen versuchten, und nur Jons vielleicht würde es besser machen. Für einen einfachen Mann konnte schon ein Kind eine Himmelsleiter bauen.

Er schlief ein und wachte wieder auf. Es war ein leiser, vorsichtiger Schlaf, als dürfe er die Sterne nicht versäumen, die über das Fenster gingen. Aber als er in der Morgendämmerung erwachte, sah er, daß Marthes Hand neben der seinigen lag. Gerade so nahe, daß die beiden Hände bei jedem Auf und Ab des Atmens sich trennten und wieder berührten. Er sah lange auf sie nieder, ohne sich zu bewegen. Er hörte an Marthes Atem, daß sie schlief, und er hatte Zeit, darüber nachzudenken, was es bedeutete. Jeder Zauber verging, wenn man fragte, und er würde niemals fragen.

Er blickte lange auf die Hand nieder, und noch einmal wußte er nicht, wo die Grenze zwischen Fremdem und Vertrautem war. Vielleicht hatte der Vater gewußt, was das Leben war, und vielleicht würde Jons es wieder wissen. Ihn hatte es ausgelassen. Er wußte nicht. Wenn Gott allmächtig war, konnte er auch eine Hand im Schlaf bewegen und sie neben eine andere Hand legen. Aber was der Erwachende daraus machte, das war nicht mehr Gottes Sache.

Er stand leise auf, nahm seine Kleider und schlich sich aus der Kammer. Er zog sich neben dem kalten Herde an und trat dann vor die Tür. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, aber über dem Kirchenhügel stand schon ein roter Schein, und in ihm stand die dunkle Gestalt des jungen Baumes, den sie den toten Pfarrer nannten. Es war gerade ein Jahr seit seinem Tode vergangen.

Niemals würde Jons vergessen, wie der Vater am Nachmittag aus dem Hause trat und vom Tor aus über das Dorf, den See und die Wälder blickte. Er war schon fertig zum Marsch, mit Tornister, Koppel und Gewehr, eine graue Gestalt, die schon in ihrem Äußeren einer anderen Welt angehörte. Sein Gang und seine Haltung waren wie sonst, aber in seine Augen war ein Schein gekommen, den Jons noch niemals in ihnen gesehen hatte. Sie waren so mit Licht gefüllt, daß sie strahlten, einem Licht, das nicht nur von der Sonne kam und dem blauen Himmel, der über dem Dorfe ausgespannt war, sondern das tief von innen kam, das seinen ganzen Körper durchleuchtete und nun seine Augen erfüllte. Jons hätte nicht sagen können, daß es Glück sei, und auch nicht, daß es Schmerzen seien. Es war nur so, als sei die alte Haut von seinem Gesicht abgefallen, die Asche und der Ruß der Meilerzeit, das still Wartende und Lauschende, das Zugeschlossene und Abgewendete, und als sei eine neue kindliche Haut über sein Gesicht gespannt, eine durchsichtige Haut, und durch sie scheine nun die innere Schönheit des einfachen Mannes und eines ganzen rechtlichen und liebevollen Lebens wie ein Licht durch ein dünnes Papier.

Ein leiser Regen war gefallen, ehe die Sonne wieder schien, und nun glänzten die neuen Rohrdächer von Sowirog, die frischen Balken, die Zäune und die Knospen an den Sträuchern. Über den See hatte der leise Wind ein silbernes Netz geworfen, in dem es tausendfach blitzte wie von unzähligen Fischrücken, und dahinter in der ganzen Runde standen die alten Wälder, aus denen der Nebel aufstieg, der Dampf des Wachstums und der Fruchtbarkeit.

Jakobs Augen tranken das alles in sich hinein, als hätten sie es niemals vorher gesehen. Seine braune Hand lag still auf dem niedrigen Torpfosten, und mit der anderen nahm er Jons beim Arm und zog ihn näher zu sich heran. »Meinst du nicht, Jons«, sagte er, »daß man auch hier das Seine tun kann?«

»Ja, Vater, es ist schön hier.«

Die leuchtenden Augen blieben für eine Weile auf seinem Gesicht haften und gingen dann noch einmal den ganzen Horizont entlang. »Diese kleinen Dörfer«, sagte er, »hier und auch in dem fremden Land ... immer ist mir, als könnte Christus in ihnen geboren sein ...«

Dann gingen sie langsam die Dorfstraße entlang und am Meiler und Kiewitts Feld vorbei in die Wälder hinein. Die Drosseln sangen, der Seidelbast blühte an den Gräben, und es war schön, nach dem langen Winter wieder auf der weichen Erde zu gehen. Sie sprachen nicht mehr, und am Ende einer der großen Lichtungen blieb Jakob stehen und gab Jons die Hand. »Gestern um diese Zeit«, sagte er, »hatte ich ihn noch nicht, aber heute habe ich ihn: den Frieden.«

Er küßte Jons schnell auf die Stirn und ging davon. Er drehte sich nicht mehr um, und Jons blieb bis zur Dämmerung stehen und sah auf die dunkle Stelle zwischen den beiden hohen Wacholdern, zwischen denen der Vater verschwunden war. Es war ihm, als werde er ihn niemals mehr wiedersehen.

Das weiße Pferd stand wieder am Waldrand, als er zurückging, ein weißer Fleck vor den dunklen Tannen, und das Mädchen aus dem andern Dorf saß wieder auf der Schwelle der Meilerhütte. Alles war wie sonst, und alles war anders geworden. Vögel zogen über den Mond nach Norden, und das ferne Schlagen ihrer Flügel erfüllte die Nacht. Er sah ihnen nach, ohne es zu wissen, und plötzlich, aus der Wirrnis halbklarer Gedanken heraus, erfüllte ihn eine neue Erkenntnis: daß das Leben seines Vaters das schönste Leben war, das er jemals gesehen hatte. Reich in aller Armut, weit in aller Enge, und am Ende von einem Schein beglänzt, den er an keinem anderen Leben gesehen hatte. Er hatte es den Frieden genannt, aber er hatte nicht gesagt, woher er ihm gekommen war. Er hatte das Geheimnis mitgenommen, und nur ein Nachglanz war geblieben wie von einem stillen Feuer hinter dem Horizont.

Selbst das Dorf schien ihm verwandelt, seit der Vater es mit seinen Augen umfaßt hatte, und als er wieder über den Hofplatz ging, war ihm, als liege eine lange Zeit zwischen der Gegenwart und jener fernen Zeit, als er hier mit dem Vater gestanden hatte.

Die Mutter saß vor dem Herd und sah ihn an, als er die Tür hinter sich geschlossen hatte. Eine Ewigkeit war vergangen, seit sie ihn angesehen hatte. »Du wirst nun der Herr hier sein«, sagte sie. »Wenn du wiederkommst, will ich an den Meiler ziehen. Ihr braucht kein neues Haus für mich zu bauen.«

Jons blieb noch für die Feiertage da. Ein neuer Lehrer war gekommen, mit einer Frau und vielen Kindern, und Maria war in das Zwergenhaus gezogen, wo sie im Giebel zwei Kammern bewohnte. Sie hatte ein Mädchen geboren, das Barbara heißen sollte, und lebte von einer winzigen Rente und der Näharbeit, die man ihr zutrug. Sie saß an dem niedrigen Fenster, von dem man die Straße sehen konnte, wo sie hinter der »Armen Sünde« im Walde verschwand, und manchmal ließ sie die Nadel sinken und blickte mit ihren hellen Augen auf den Staub, der hinter einem der Holzfuhrwerke aufgestanden war und noch lange in der stillen Luft hängenblieb. Oder sie nährte ihr Kind und blickte auf sein noch spärliches Haar nieder, das so hell wie das seines Vaters war.

Am Abend aber, wenn die Stare in den Obstbäumen sangen, trug sie den Kinderwagen die Treppe hinunter und fuhr mit ihm über die Dorfstraße bis zu der Stelle am Waldrand, die sie tagsüber mit ihren Augen abgesucht hatte. Dort saß sie auf der Böschung des Grenzgrabens, wenn das Wetter schön war, spielte mit einem Haselnußzweig und sah zu, wie die Schatten zwischen den hohen Fichtenstämmen dunkler und dunkler wurden. Erst wenn der erste Stern über dem Moor erschien, stand sie auf und fuhr mit dem schlafenden Kind zurück. Aus den kleinen Fenstern des Dorfes sah man ihr mitleidig nach, aber ihr Gesicht war still und nachdenklich wie immer, ohne Trauer oder Gram, von einer ruhigen Sicherheit erfüllt.

Wenn sie die Treppe wieder hinaufkam, saß Jons unter der Lampe, oder sie gingen zum alten Lehrer hinunter, der die kleinen Hände des Kindes an die Weltkugel legte und die Länder und Meere unter ihnen kreisen ließ. Er war nun so alt, daß sie alle seine Kinder waren, auch Jons und Maria, und manchmal sah er sie durch den Rauch seiner Pfeife an, nachdenklich, mit etwas Sorge und etwas Freude, wie alte Leute auf junge Bäume zu blicken pflegen.

»Das möchte ich nun noch erleben, Jons«, sagte er, »daß du dein Hörrohr feierlich aus der Tasche nimmst und auf meine Brust legst und deine unleserlichen Zeichen auf ein Rezept malst. Solange Sowirog steht, ist das noch nicht gewesen, daß ein großer Professor auf seinen Schulbänken gesessen hat.«

»Es wird kein großer Professor sein«, sagte Jons lächelnd.

»Für uns doch, Jons. Für uns doch. Wenn ich auch immer noch nicht weiß, ob du hier bleiben wirst. Du wirst einen berühmten Bazillus entdecken oder ein Serum gegen eine große Krankheit, und dann werden sie dich abholen, vierspännig, und vor den Kaiser fahren.«

»Ich werde nichts entdecken«, sagte Jons, »als vielleicht das Geheimnis, das der Vater entdeckt hat, bevor er fortging. Und damit werde ich wohl siebzig Jahre zu tun haben. Mein Mathematiklehrer hat immer gesagt, daß ich zu langsam denke.«

»Hast du einmal überlegt, Jons?«, fragte Stilling nach einer Weile, »daß zu Beginn des Johannes-Evangeliums geschrieben steht: ›Am Anfang war das Wort?‹ Oder hast du gedacht, daß das nur für die Pfarrer geschrieben sei?«

»Ich habe es nicht besonders überlegt«, erwiderte Jons. »Aber ich weiß, daß Jumbo immer gemeint hat, das Wort habe die Welt verdorben.«

»So wie er es gedacht hat, war es wohl richtig, Jons. Aber die so sprechen, vergessen meistens, daß wenigen Dingen auf der Welt soviel Gewalt gegeben ist wie dem Wort. Ich habe daran gedacht, daß Luther von einer kleinen Zelle aus die Welt bewegt hat und daß es ein paar Lieder gibt, die seit hundert und mehr Jahren die Herzen der Menschen bewegt haben. Und ich habe weiter gedacht, daß die Sonne und der Mond auch über Sowirog stehen; daß auch hier die Zeiger Gottes über die Erdenuhr gehen, und daß auch hier einem Menschen gegeben sein könnte, Worte zu sagen, die wie ein neuer Anfang über die alte Erde gehen.«

»Sie meinen, Herr Stilling«, fragte Jons, »ob ich nicht hier ein Dichter oder Philosoph werden möchte? Aber das möchte ich nicht werden, Herr Stilling, und wahrscheinlich würde ich es auch gar nicht können. Ich habe ein paar Verse geschrieben, und damals habe ich gemeint, wer es nicht genau wüßte, könnte ebenso glauben, sie seien von Goethe oder Mörike. Aber das ist schon lange her, und heute würde ich sehr gut wissen, ob sie von Mörike oder von mir sind.

Und dann habe ich im Winter einmal einen Dichter gehört. Er ist sehr berühmt, und er hatte zwei Leuchter mit Kerzen auf seinem Pult. Er sah immer zur Decke hinauf, als ob am Kronleuchter etwas nicht in Ordnung wäre, und nachher schrieb er seinen Namen in viele Bücher. Es waren schöne Verse, und wenn ich sie vor Jumbos Ofen gelesen hätte, würden sie mich bewegt haben. Sie wären wie aus einer feierlichen Ferne zu mir gekommen, so als ob ein Engel in einer silbernen Rüstung sie am Ende einer Wüste oder eines Schlachtfeldes gesprochen hätte, zu den Schakalen und Straußen, oder zu den Toten. Ich hätte das Buch, das Papier und den Druck vergessen, ich hätte nur das Wort gehört, den Atem einer fernen Gewalt, die weder himmlisch noch irdisch ist.

Aber so konnte ich es nicht vergessen. Ich mußte daran denken, daß er in dem gleichen Winter wohl zwanzig- oder dreißigmal die gleichen Verse sprach, immer die Augen zum Kronleuchter gehoben und immer mit dem feierlichen Beben der Stimme am Beginn der letzten Strophe. Und daß er vielleicht in einem winzigen, versteckten Winkel seiner Augen die vielen Gesichter unter ihm in einem blassen Nebel sah und aufpaßte, ob dieser Nebel sich bei einem bestimmten Vers bewegte oder unerschüttert blieb. Und daß er bei jedem der Verse, ja der Worte daran dachte, wie er sie in dieser oder jener Stadt betont hatte und daß er ein Handwerker geworden war, um dessen Stirn nur die Backfische den alten, reinen Glanz sahen. Ich aber sah die Schweißtropfen auf ihr, denn es war heiß im Saal, und die Fenster waren geschlossen und verhängt.

Und als ich hinausging, stand an der Saaltür ein einfacher Mann, ein Arbeiter wahrscheinlich, und sprach mit einem Mädchen. Er sah noch über den leeren Saal nach der Bühne hin, wo das Pult nun dürftig und einsam auf hohen Füßen stand, und auf eine Frage des Mädchens zuckte er die Achseln und sagte: ›Ein erfolgreicher Unternehmer ...‹ Und das war alles, was er sagte.«

»Aber das ist ungerecht, Jons ...«

»Ja, ich weiß, und ich habe es auch schlecht getroffen, aber für mich war es nun eine Erfahrung, ebenso wie für den Arbeiter. Nein, ich denke nicht, daß ich Bücher schreiben werde, Herr Stilling, die die Welt bewegen. Höchstens ein kleines über die Hygiene des Dorflebens oder noch ein kleineres über das Leben eines Landarztes. Die anderen aber, Verse und so weiter, die werde ich wohl nicht schreiben. Denken Sie, daß der Vater an solch einem Pult stehen und über die Seligpreisungen sprechen könnte? Vielleicht hat er einmal zu einem von uns Kindern ›Mein liebes Kind‹ gesagt, und auch daran kann ich mich nicht erinnern. Ein Meiler, der nach außen glüht, ist schon verdorben, Herr Stilling. Und ich würde mir wohl immer vorkommen wie einer, der seine Kleider vor der Welt auszieht. Die meisten machen wohl die Augen zu und denken, daß, wenn sie nichts sehen, die anderen auch nichts sehen. Aber ich könnte das nicht.

Nein, ich habe nur einmal gesehen oder gehört, wie die Welt bewegt wurde, und das war damals, als ich das Wunderkind gehört habe. Es sah nicht auf das Publikum und auch nicht auf den Kronleuchter, nicht einmal auf seine schwarzen und weißen Tasten. Aber ich dachte damals, daß es den Himmel offen sähe, und ich denke es auch heute noch. Was ist das Wort gegen den Ton, Herr Stilling? Mit dem Wort kann gesündigt werden; man kann es verraten und verkaufen an alle, die es brauchen und benützen wollen. Man kann es dem Haß dienstbar machen und dem Aufruhr. Aber die Töne kann man nicht verkaufen. Sie sind das Losgelöste und Entbundene, sie haben nichts mit dem zu tun, was die Menschen preisen oder verachten. Aber sie sind eine Gnade, und mir ist sie nicht verliehen worden. Ich denke, daß ich für die Armen geboren bin, Herr Stilling, und ich denke nicht, daß man ihre Wunden mit Versen oder Tönen heilen kann, sondern nur mit seinen Händen und mit so viel Liebe, wie der Vater für sie gehabt hat.«

»Aber wie sie reden können, die Jerominkinder!« sagte Maria und zog lächelnd einen neuen Faden in ihre Nadel. »Sie verachten das Wort, aber sie sind die Prediger in den Wäldern. Sei nur da, Jons«, setzte sie ernst hinzu, »wenn der kleine Tod wieder über die Dörfer kommt. Das soll uns allen schon genug sein.«

Der Mond stand hinter einem nebligen Schleier, als er durch die Nacht nach seinem Hause ging. Die Welt lag unter einem matten Schein, und die Wälder waren weit hinausgerückt an ihren Rand. Er blieb an einem der neuen Zäune stehen und legte die Hände um das frische Holz. Eine unendliche Liebe zu dieser armen Erde überströmte sein Herz. Er wußte, daß er vieles von dem nicht erfüllte, was sie von ihm gedacht hatten. Daß er nicht so hoch steigen würde, wie ihre Wünsche ihn gesehen hatten. Aber er würde einer von ihnen bleiben. Er würde fortgehen in eine lange Lehre, und sie würden denken, daß er sie vergessen hätte. Aber dann würde er wiederkommen, und seine Hände und sein Herz würden nur für sie da sein. Niemand war für sie dagewesen bisher außer der Obrigkeit, und auch die Pfarrer und Richter waren nichts gewesen als ein Teil dieser Obrigkeit. Niemand hatte sie geliebt. Sie waren nicht viel mehr als Vieh in den Ställen des Reiches gewesen. Im Frieden hatten sie ihre Arbeit und ihre Steuern gegeben, und im Krieg hatten sie ihre Söhne gegeben. Die großen Reden und Aufrufe dachten auch an sie und vergaßen sie nicht, aber das Herz hatte keinen Teil daran. Sie waren Waisenkinder und trugen alle das gleiche graue Kleid.

Und doch waren Könige unter ihnen gewesen wie der Großvater, und Helden wie Michael, und Begnadete, wie Christean, und Adlige wie der Vater. Aber das Reich sah sie nicht. Es hatte sich zurückgezogen auf seine großen Städte, und was sie dort anbeteten, war das Gold und das Wort. Vergängliche und trügerische Dinge, wie die Macht, die sie darauf erbauten. Wer in die Wälder geschickt wurde, ging wie in eine Verbannung, und wer in die Stadt berufen wurde, war ein Auserwählter. Und die wenigen, die berufen waren, erkannte niemand. Man schickte sie zum Sterben hinaus wie Jumbo und wußte nicht, daß niemand sie ersetzen konnte. Man unterschied nicht zwischen dem Wert und der Zahl.

Es war leicht, das Große und Unendliche zu wollen, so wie es in dem großen Buch geschrieben stand, aber es war besser, es zu wollen und dabei das Kleine und Endliche zu tun. Es war nicht richtig, daß das Kleine und Endliche nur für die Handlanger war. Er sah das bittere Gesicht des Jungen, der den Konsistorialrat gefragt hatte, wie lange sie denn noch Leid tragen sollten, bis sie getröstet würden, und der Konsistorialrat würde keine andere Antwort wissen, als daß sie warten sollten, bis Gott die Tränen abwischen würde von ihren Augen. Er konnte keine andere Antwort wissen, denn er lebte nicht in den Dörfern. Er half nicht die Baumstämme zu seinen Kirchen fällen, er half den Gebärenden nicht in ihrer Stunde, er gab nicht von seinem Brot ab, wenn die Bojarkinder hungerten. Nur der tote Pfarrer hatte das getan, und ihn hatten sie ausgestoßen, weil er es nicht mit Gott, sondern gegen Gott getan hatte. Ach, der Mann, der ihnen einen einzigen Pfahl zu ihren Zäunen gab, war ihnen mehr als alle, die ihnen die schönsten Verse der Welt vorlasen. Ohne Pfähle fielen die Bäume um, aber ohne Verse war noch keiner von ihnen umgefallen. Später, viel später konnte man an Verse denken, an ein bißchen Schönheit, an ein bißchen Freude. Es half nichts, ihnen den Schnaps fortzunehmen und ihnen dafür Verse zu geben. Sie machten die dunkle Welt nicht rosenrot, und ab und zu verlangten auch die Armen nach einem Traumbild an ihrem Kammerfenster. Es war nicht das gleiche, ob man fünfzig Jahre Untertanen hütete, von einem blanken Schreibtisch aus, hinter dem ein warmes Feuer brannte, oder ob man wie Piontek fünfzig Jahre Kühe hütete. Regen und Sturm beugten tiefer als ein vornehmes Amt.

Der Mond trat klarer aus dem Nebel heraus, und Jons stand immer noch an dem hellen Zaun, dessen Harz an seinen Händen klebte. Er war noch jung, und vieles von dem, was er dachte, würde er in ein paar Jahren anders denken, nüchterner und deutlicher. Aber das glaubte er für immer zu wissen, daß er dienen würde statt zu herrschen. Aus allen Geschlechtern trug er ein Erbe, und die meisten Spuren verloren sich im Dunklen, aber von seinem Vater trug er das größte und schwerste Erbe: die Liebe zu den Menschen. Seinen Vater hatte sie enttäuscht und zu dem Buch der Bücher zurückgetrieben, aber ihn würde sie über alle Bücher hinweg vorwärtstreiben, über das Wort hinweg, über die großen Täuschungen hinweg, bis an die dünne Wand, die alles Leben umschloß. Dort würde er seine Hand und sein Ohr anlegen, um das Blut rauschen zu hören. Dort würde er die Eimer der Schöpfung erblicken, wie sie auf und ab gingen, zerbrechliche Gefäße trotz Gottes Allmacht, und in sie würde er, wenn sie vorüberglitten, seine schwache Menschenkunst werfen: ein Kraut Schmerzenlos, einen Tropfen Todvorbei, einen Löffel Barmherzigkeit.

Und zuerst, bevor er dies alles tat, würde er hinausgehen, um dem Erzfeind zuzusehen, dem großen Tod, zu den Orten, wo er sich nicht verhüllte, und die die Menschen das »Schlachtfeld« nannten, ohne sich bewußt zu werden, welch ein furchtbarer Anfangssinn in diesem Worte lag.


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