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XXIII

Der Stabsarzt hatte dafür gesorgt, daß er einen Fahrschein über die große Stadt bekam, in der er zur Schule gegangen war, denn er hatte seit fast zwei Monaten nichts von Margreta gehört. Sie hatte niemals häufig geschrieben, und es machte ihm keine sehr schwere Sorge, aber er stand doch eine Weile vor dem Eckhaus, auf seinen Stock gestützt, frierend in seinem dünnen, vielmals geflickten Mantel, und sah die Puppen hinter der großen Glasscheibe leer und töricht lächeln, wie er sie in der Erinnerung hatte. An ihnen wenigstens war der Krieg ohne Spuren vorübergegangen.

Ein Mädchen, das er nicht kannte, kam aus der Ladentür, einen blauen Karton in der Hand, sah ihn auf der anderen Straßenseite stehen, drehte sich noch einmal um und ging dann weiter.

Er wartete, bis es verschwunden war und ging dann hinein. Die Besitzerin war wohl nicht da, denn die drei jungen Mädchen lehnten über den Ladentisch, hatten die Köpfe zusammengesteckt und betrachteten etwas, was ein Liebesbrief oder ein Andenken sein mochte.

Er hätte gern gewußt, sagte er, ob Fräulein Margreta noch da sei.

Es war doch an seinem Mantel nicht soviel zu sehen, daß sie ihn wie einen Geist anstarrten. Er war geflickt und hatte braune Flecken von Lehm und Blut, aber die Knöpfe waren alle geschlossen, und auch das Koppelschloß saß in der Mitte, wie es vorgeschrieben war. Ein leiser Frostschauer lief einmal seinen Rücken hinunter, obwohl der Raum warm war, beinahe so warm wie die Kammer, in der sie vor dem kleinen Eisenofen gesessen hatten.

Da hielt das kleinste Mädchen schon sein Tuch vor die Augen und weinte, und die anderen sahen ihn mit blassen Gesichtern an.

Er wußte es nun, bevor sie es erzählt hatten, alle zusammen, und er nahm nur seine Mütze ab und stützte sich etwas fester auf seinen Stock. Ja, der Vater sei krank geworden und sie sei in die Munitionsfabrik gegangen, um mehr zu verdienen. Und vor einem Monat sei einer der Schuppen in die Luft geflogen und dann noch drei andere dazu. Keiner wisse, wie es gekommen sei, aber von ihr und vielen anderen habe man nichts mehr gefunden. Alle meinten, daß es ein schneller Tod sei.

Er sagte nichts, und es war nur, als ob alles Leben, das er mühsam heimgebracht hatte, nun aus seinem Gesicht fortgegangen wäre. Aber nach einer Weile ging er langsam, nur das rechte Bein etwas nachziehend, bis zur Schwelle, deren Tür halb offen stand, und blickte in den anderen kleinen Raum hinein. Er war so, wie er ihn damals verlassen hatte.

»Schläft da nun jemand anders?« fragte er abwesend und wies auf das alte Sofa.

Nein, sie hätten sich gefürchtet, und es sei ja auch nicht viel mehr zum Stehlen da.

Er nickte, sah noch einmal die Wachsbüsten an, eine nach der andern, setzte seine Mütze wieder auf, fühlte mit den Fingern, ob die Kokarden richtig säßen, grüßte und ging hinaus.

Es fror ihn noch immer, aber er konnte nicht schnell gehen, und es dauerte eine Weile, bis er die Stelle wiederfand, wo sie unter den kleinen Wellblechdächern gekauert hatten. Es waren nicht viel Kohlen da, die Berge waren zu kleinen Hügeln zusammengeschrumpft, und auch das Wellblech hatte man zu einer der vielen Fronten gefahren. Nur ein paar verrostete Bogen lagen da, naß vom Nebel, und dort setzte er sich eine Weile nieder und blickte durch die graue Luft nach dem Hafen zurück, wo die Masten der Schiffe mit dünnen Linien in den Himmel schnitten. Vielleicht mochte eines von ihnen den Namen »Margreta« tragen, nach dem sie getauft worden war.

Die alte Verlassenheit, mehr als die alte. Ein Abgrund von Leere und Einsamkeit, in den man alles werfen konnte, was er in zwanzig Jahren davon gesammelt hatte. Die Einsamkeit seiner Schuljahre und der Zeit, als Jumbo fortgegangen war, die des erloschenen Meilers und des verbrannten Dorfes, die der westlichen Schlachtfelder mit dem ungeheuren, brennenden Himmel und die der östlichen Wälder und Ebenen, und auch die des großen Stromes, an dem er auf dem Rücken gelegen und gemeint hatte, daß der letzte Friede ihn erfülle. Er konnte alles in den Abgrund werfen, aber es war, als bedecke es kaum den Boden. Der übrige Raum aber war mit einem eisigen Dunkel erfüllt, wie ein Brunnenschacht, in den es von den Wänden hinabtropfte, Tropfen auf Tropfen, die unten aufschlugen mit einem leeren, dumpfen Klang.

Was waren denn Arbeit und Hingabe und Pflicht, wenn die Erde ohne Menschen war? Und da sie nun fort war, aufgelöst in ihre Atome, wo war der Mensch, an dessen Brust er seinen Kopf legen konnte? Er hätte nicht suchen sollen, der Stabsarzt. Er hätte das Gift nicht hinausnehmen sollen. Es wäre besser gewesen, dieses nicht zu wissen, und Tobias hatte ja gesagt, daß die kleinen Leute sich um Gott versammelten. Vielleicht daß Gott doch war und daß er sie wieder gefunden hätte, vor einem kleinen eisernen Ofen, in dem das ewige Feuer brannte.

»Ach nein«, sagte er und stand auf. »So darf man hier wohl nicht sitzen ...« Er sah sich um, Angst in seinen Augen, und ging zum Strom hinunter, der schwarz und lautlos zwischen gelben Rohrhalmen dahinfloß. Kinder hatten einen Kahn losgemacht und zogen ein altes, halb zerrissenes Netz hinter sich her. Nur ein Riesenfisch konnte sich darin fangen, aber sie hörten nicht auf, es mit halb erfrorenen Händen wieder in das Wasser zu lassen, wenn sie es leer heraufgezogen hatten. Sie hatten alte Tücher um ihren Hals gewickelt, und er sah den Hunger in ihren großen, brennenden Augen.

Die Strömung trieb sie langsam vorüber, einen traurigen, grauen Kahn, von dessen Wänden die Farbe abgefallen war, und Jons dachte, daß auch ihre Geschwister dabei sein könnten. Weshalb sollte es unmöglich sein, wenn der Vater krank war und der Tod sie nun mitsamt ihrem Lohn geholt hatte? Nichts war unmöglich, und wenn es nicht so war, nun, so waren es eben andere Kinder, fünf von Millionen, die hungerten und verdarben, weil ihre Väter und Brüder nicht den Sieg heimgebracht hatten, sondern die Niederlage.

Jons ging weiter, aber der Kahn ging mit. Er war längst hinter einer Biegung verschwunden, aber sein Bild war immer noch da. Kein Schiff mit drei Masten, einer goldenen Gallionsfigur und dem Namen »Margreta«, sondern ein kleines, graues, gebrechliches Fahrzeug mit fünf hungrigen Kindern und einem zerrissenen Netz. Der Kahn »Margreta«, der Kahn der Armen, der Kahn eines ganzen hungrigen, verderbenden Volkes, das mit erfrorenen Fingern nach Speise suchte.

Nein, man hatte noch nicht alles bestanden, wenn man den Krieg und den Tod bestanden hatte, ehrenreicher Soldat. So einfache Züge trug das Schicksal nicht. Und auch mit zwanzig Jahren müßte man schon davon gehört haben, daß das Leben schwerer zu bestehen war als alle Kriege der Welt. Von seinem Vater zum Beispiel hätte man es hören können, und wenn er meistens stumm war, so hätte man es aus seinen Augen ablesen können und aus den Händen, die die Blätter des alten Buches umschlugen. Nicht nur das Leben als ein Acker, den man zu graben hatte, nicht nur seine Fülle, seine Schwere, seine Vielfalt, sondern auch seine Leere, wenn es sich gähnend auftat, der dunkle, eisige Abgrund, in den die Stunden wie Tropfen fielen, eintönig, schrecklich und stumm.

Er stand vor dem Haus, in dem er mit Jumbo gelebt hatte, aber er ging nicht hinauf. Er sah nur, daß es dastand und auf ihn wartete, die Bücherkisten auf dem Boden, der Ofen neben dem alten Sofa, die Lampe mit dem dünnen Sprung in der Glocke. Wer wiederkam, wurde erwartet, und wenn die Menschen ihn nicht erwarteten, dann erwarteten ihn die Dinge, und auch die Dinge waren nicht seelenlos. Das Salz der Erde wartete, daß man es dämpfte. Der Gastwirt wartete, der ein Trinker und Beter war, und Stilling wartete, der eine Nobelstiftung gegründet hatte. Vielleicht die Mutter, vielleicht der Herr von Balk, vielleicht das Dorf Sowirog und viele kleine Dörfer dieser verwüsteten Erde.

Und auch die Toten warteten, die zu den »kleinen Leuten« gehörten und immer darauf gewartet hatten, daß die Tore der Goldenen Stadt einmal aufsprängen. Der Korporal, der an dem Waldrand begraben lag, und das Mädchen, dessen jungen, liebevollen Leib der Tod der Zeit zerrissen hatte. Die anderen mochten nun von der Freiheit träumen oder der Rache oder dem ewigen Frieden, aber sie wurden nicht erwartet, weder von der Freiheit noch vom Frieden. Erwartet wurden weder Helden noch Träumer, sondern Helfende und Heilende. Und Helfen und Heilen war eine Sache des Dienens und der Arbeit. Sie war es immer gewesen und würde es immer sein. Man tat nicht das Rechte, wenn man dem Tode fluchte. Man tat es nur, wenn man ihn bezwang.

Er saß wieder im Zuge und fuhr nach seiner Garnison, und nun fragte ihn niemand mehr, ob er in den Generalstab berufen worden sei.

Sie entließen ihn nach ein paar Tagen, und als er um die Mittagszeit aufbrach, hatte der Waffenstillstand eben begonnen. Er hatte seinen Tornister mitnehmen dürfen und ging nun auf derselben Straße heim, auf der die Frauen von Sowirog seit hundert Jahren und länger noch ihre Körbe vom Markt zurückgetragen hatten. Es war nichts Auffälliges an ihm. Sein Mantel war grau und fleckig, der rote Streifen an seiner Mütze war ausgebleicht, und auch auf einen Stock stützten sich viele, die nun wie er in dem grauen Novembernebel über die Straßen des Landes zogen. Er traf ein paar Fuhrwerke, die auf dem Wege zur Stadt waren, aber niemand drehte sich nach ihm um. Für die meisten war der Heldenglanz von diesen grauen Gestalten abgefallen. Not hat ein kurzes Gedächtnis.

Er mußte langsam gehen, weil sein Weg weit war und die Hüfte schmerzte. Schnee würde fallen, und er würde es nun immer ein paar Tage vorher wissen. Auch dazu war es gut, daß Gott seine Hüfte verrenkt hatte.

Er haderte nun nicht mehr. Nur die Herren haderten, hatte Margreta gesagt. Aber er sang leise vor sich hin. Sie hatten einen schlesischen Weber bei der Kompanie gehabt, einen stillen, frommen Mann, und von dem hatte er das Lied gelernt. »Wir weben und wir weben der armen Leute Kleid ...« Ein trauriges und frommes Lied, und danach marschierte er nun die Straße entlang.

Die Birken waren schon ohne Blätter, die Vögel waren fort, und nur die grauen Krähen saßen auf den schiefen Zäunen. Der Sand der Straße war feucht, Wasser stand in den tiefen Geleisen, und es war lange her, seit sie hier mit den beiden Särgen gefahren waren.

Als der Wald begann, stand er eine Weile an der Stelle, wo er mit dem Vater gesessen hatte, als die Feuer am Horizont gewesen waren. Daß die Erinnerung das Bild der Menschen bewahrte, war eine Gnade. Und nicht nur ihr Bild, sondern auch den Klang ihrer Worte, ja den Hauch ihres Atems. Den strengen Geruch von Harz und Rauch, der um den Vater gewesen war, und den reinen Duft von Jugend und Gesundheit, der aus der Haut Margretas aufgestiegen war. Nichts ging verloren, auch der Tod konnte es nicht mitnehmen.

Er sah an den hohen feuchten Stämmen hinauf, die jung gewesen waren, als der Großvater hier barfuß zur Stadt gelaufen war. Das Gefühl der Zeit kam ihm wieder, das er im Kriege verloren hatte, und auch die Erkenntnis, daß der Tod nicht bitter war. Bitter war er nur für diejenigen, die etwas von den Toten haben wollten, und wenn auch nur den stillen Glanz ihres Daseins. Der Schmerz um die Toten hatte seine Wurzeln tief in der Selbstsucht der Zurückgebliebenen. Die Toten hatten keinen Schmerz, der Vater nicht und Margreta auch nicht. Sie hatten ihn nicht einmal in dem Augenblick gehabt, als er zugeschlagen hatte. Sie waren so jäh erloschen wie eine Kerze, deren Docht man zwischen die nassen Finger nimmt. Und nun waren sie im Nichts, und sie wußten nicht, daß sie nicht waren. Sie wußten nicht einmal, daß er noch war und Schmerzen trug. Und wer heilen wollte, mußte langsam aufhören, Schmerzen um sich zu tragen. Schmerzen machten müde. Schmerzen waren das Vorrecht derer, die Zeit hatten, aber Ärzte und arme Leute hatten keine Zeit.

»Wir weben und wir weben ... der armen Leute Kleid ...« Er marschierte schon tief im Walde. Er nahm die Mütze ab und fühlte die Tropfen von den Kiefernnadeln in seinem Haar. Es würde ausreichen, wenn er eine Woche zu Hause bliebe. Dann kam er noch zur Zeit zum Semesterbeginn. Er würde an das alte Fräulein Holstein schreiben, und sie würde die Kisten vom Boden herunterbringen lassen. Er würde wieder Kohlen stehlen müssen, aber er würde der Erinnerung nicht ausweichen. Sie war das einzige, was geblieben war von einem blühenden Leben, und vielleicht war nun eingetreten, was er zu Beginn seiner Soldatenzeit sich gewünscht hatte: mit einem ganzen, ungeteilten Herzen an sein Werk gehen zu können. Damals hatte es sich nicht erfüllt, aber nun brauchte er sein Herz nicht mehr zu teilen. Es war niemand da, der den andern Teil begehrt hätte.

Unter den hohen Wipfeln begann es schon zu dämmern, als er an Kiewitts Acker vorüberkam. Der Pflug stand noch in der schwarzen Erde, aber das Pferd war nicht da. Es stand vor der grauen Hütte, und Kiewitt war dabei, ihm ein Eisen aufzuschlagen, das er in seiner kleinen Schmiede erhitzt hatte. Er hatte keine Zeit, mit solchen Dingen in ein Dorf zu fahren.

Kiewitt war so klein geworden, als wollte er wieder ein Kind werden, aber seine Augen waren noch immer glänzend, Baptistenaugen, die noch einmal getauft worden waren. Tiefe, wunderliche Augen, die die ganze Offenbarung des heiligen Johannes erblickt haben mochten.

»Du könntest mir etwas helfen, Jons«, sagte er, ohne sich zu wundern. »Es will niemals ruhig stehen und ist doch schon beinahe so alt wie ich.«

Jons stieß seinen Stock in die Erde und hielt das Bein dicht über dem Huf. Es roch nach verbranntem Horn, und die Hammerschläge klangen hell durch den Abend.

»Pflügst du noch, Kiewitt?« fragte er.

Ja, er sei nicht fertig geworden. Es hätte sich den Fuß über einer Wurzel vertreten, und er hätte es eine Woche im fließenden Wasser stehen lassen müssen. Aber solange kein Frost komme, gehe es schon noch. Nur ein bißchen Schnee werde kommen.

Ja, das merke er an seiner Hüfte.

»Er renkt wieder ein, was er ausgerenkt hat«, sagte Kiewitt. »Menschen und Reiche. Und was er nicht mehr einrenkt, das will er schneiden, weil es reif ist. Jakob war reif.«

»Wußtest du es?«

»Ich wußte es, als er fortging. Das erste Mal schon.«

»Und was wird nun sein, Kiewitt?«

Kiewitt schlug den letzten Nagel ein, und sie ließen den Fuß des Pferdes herab. Es schüttelte sich und ging langsam auf die braune Wiese, wo es zu weiden begann.

»Was sein wird? Was immer war, Jons. Samen und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht. Oder dachtest du, daß Gott damit aufhören wird, weil er die Völker vier Jahre bewegt hat? Rühre deine Hände, Jons, und danke Gott, daß er nicht sie verrenkt hat.«

Er trug seinen Hammer und die alten Eisen in den kleinen Schuppen, und Jons nahm seinen Stock und ging weiter. Er dachte nach, ob die Pferde der Apokalypse auch Eisen an den Hufen getragen hätten.

Die Meilerhütte war verschlossen, und er versuchte, durch das kleine Fenster hineinzusehen. Aber es war dunkel unter den hohen Bäumen, und er konnte nichts erkennen.

Das Dorf lag so da, wie es immer gelegen hatte. Jedes Haus war an seinem alten Platz aufgebaut worden, der Regen und Schnee hatte die Dächer schon grau gemacht, und wenn man nicht genau hinsah, konnte man meinen, es stehe schon hundert Jahre so da. Balken und Trümmer waren vom Kirchenhügel entfernt worden, und der tote Pfarrer war gewachsen. Er sah ihm entgegen, als wollte er sagen: »Nun versuche du es einmal, kleiner Jons! Wollen mal sehen, ob du weiterkommen wirst als ich.« Aber es war ohne Spott gesagt, und der junge Baum stand dunkel und schön vor dem grauen Abendhimmel.

Er wartete, bis aus der Krugstube das erste Licht in den Abend fiel. Er öffnete leise die Haustür der Jeromins und trat in den Flur, aber die Tür zur Küche war auf, und er sah, daß das Feuer im Herd brannte. Sie hörten ihn kommen, aber sie wußten nicht, daß er es war. Sie saßen beide vor dem Feuer, die Mutter ohne eine Arbeit und Christean mit dem Schnitzmesser über einem hellen Stück Holz, das er zwischen den Knien hielt.

Er stand auf der Schwelle und wußte, daß er zu Hause war. Christean griff nach seinen Krücken, aber die Mutter blickte auf seinen Stock. Es werde wohl vielen Müttern so gehen, sagte sie, daß sie ihre Söhne mit einem Zepter erwarteten, und dann sei es nur ein Stock.

Ja, erwiderte Jons, auch sei der Unterschied nicht so groß. Es liege nur in der Bedeutung.

Aber sie hatte ohne Bitterkeit gesprochen, und ihre Stimme war nur müde gewesen wie in einem tiefen Schlaf.

Nein, Lorbeerkränze gab es nicht, nur daß Christean an dem Kopf eines sterbenden Soldaten schnitzte. Er sei für die neue Kirche bestimmt, von der der junge Pfarrer sage, daß sie gebaut werden würde.

Ein stilles Mahl, aber Jons sah, daß die Mutter nun das Brot in die Suppe brockte, wie der Vater es an sich gehabt hatte. Er hatte es noch niemals an ihr gesehen. Er erzählte ein wenig vom Lazarett und wie der Stabsarzt den Knopf in seinem Körper gefunden hatte. Vom Kriege sprach er nicht, und sie fragten auch nicht danach.

Als er aufstand, um zu Maria zu gehen, sagte die Mutter, daß sie nun an den Meiler ziehe, wie sie gesagt habe. Das Mädchen aus der »Armen Sünde« werde hier wohnen und für Christean sorgen. Sie sprach so, als seien sie beide so klein, daß sie ihr bis an die Knie reichten. Jons sagte nur, daß es wohl nicht nötig sei, damit zu eilen, und daß sie vielleicht besser bis zum Frühjahr warte.

Sie wollte wohl noch fortgehen, denn sie hatte das große schwarze Tuch umgelegt. Nun blieb sie in der Tür stehen und sah nach ihm zurück. »Bist du schon so klug«, sagte sie, »daß du weißt, wann es für eine alte Frau Zeit ist?«

Sie ging in die »Arme Sünde«, und es war ihr wohl kein Weg in ihrem Leben schwerer geworden als dieser. Sie bat auch nicht, sie sagte nur, daß Jakob es so gewollt habe, und gegen den Willen eines Toten werde ein junges Mädchen wohl nicht angehen wollen. Sie sagte nicht »eine junge Frau«, und sie übersah auch die Hände, die der kleine Jons nach ihr ausstreckte.

Nebel um alle Zäune, als Jons nach dem Zwergenhaus ging. Vergangen die Brust, an die er seinen Kopf hatte legen wollen. Eines Reiches Herrlichkeit vergangen oder doch das, was sie so genannt hatten. In den kaum drei Jahren, seit er zuletzt hier gestanden hatte, mit der Liebe in seiner Brust zu allen armen Dörfern dieser Erde. Aber die Liebe war geblieben. Vielleicht hatte er nur belehrt werden sollen, daß man die Liebe nicht teilen dürfe. Daß man nicht auf eine Waagschale die Armut und auf die andre die Schönheit legen dürfte, oder auf die eine die Arbeit und auf die andere das Glück. Die kleinen Leute wollten ein ganzes Herz, sie waren lange genug mit halben Dingen abgespeist worden. Und wer in seiner Arbeit nicht sein Glück sah, und zwar das ganze Glück und nichts außer ihm, war dieser Arbeit nicht wert. Er war ein Bürger, der ein Amt hatte und Gehalt empfing und seinen Urlaub beanspruchte. Aber er war nicht davon besessen, das Salz der Erde zu dämpfen. Die Erde konnte vielleicht Urlaub geben, denn sie ruhte im Winter, aber das Salz nicht, denn die Tränen flossen auch im Winter. Es gab keine Jahre oder Jahreszeiten ohne Tränen.

Immer noch war es hell im Zwergenhaus, und auch wenn Herr Stilling nur seine kleine Lampe unter den Büchern angezündet hatte, war es heller als in einem festlichen Saal. Vielleicht kam es nur von seinem weißen Haar oder von dem hellen Lachen der kleinen Barbara, aber Jons schien es, als sei hier der ganze Trost von Sowirog zu Hause und als müßte er einmal, wenn Herr Stilling längst tot sei, auch dieses Erbe übernehmen, wie der Gastwirt ihn ermahnt hatte, Jumbos Erbe anzutreten. Und vielleicht trugen alle die dunklen Bücher, die hier an den Wänden standen, doch ein verborgenes Licht in sich, und selbst wenn die Wahrheit nicht in ihnen zu finden sein sollte, die letzte Wahrheit, von der der Leutnant gesprochen hatte, so war es doch wohl möglich, daß all das menschliche Bemühen, das in ihnen lag, wie ein unsichtbarer Glanz von ihnen ausstrahlte und das ganze Haus bis zu den Bodenkammern erhellte.

Maria küßte ihn – sie war nun wohl die einzige, die ihn küssen würde –, und Herr Stilling legte Holz im Ofen nach, damit er es warm habe. »Sie werden euch nun wohl nicht mit Jubel begrüßen«, sagte er, »aber du mußt dir nichts daraus machen. Sie haben sich langsam daran gewöhnt, euch für so eine Art von Wach- und Schließgesellschaft anzusehen, und wenn es nun in ihrem Gebälk zu knacken beginnt, dann denken sie, daß ihr schuld seid. Das Ende von Kriegen war immer gefährlicher als der Anfang, Jons, auch für die sogenannten Sieger.«

Ja, das eine hätte Jons gerne gewußt, und er frage es gleich am Anfang: ob Herr Stilling ihm wohl noch ein paar Jahre helfen könne, denn in acht Tagen wolle er fort und mit seiner Arbeit anfangen.

Es könnten ruhig noch viele Jahre werden, erwiderte der Lehrer, da solle er ohne Sorge sein. Und er habe sich nun wohl entschieden, setzte er hinzu.

Ja, im Lazarett habe er sich entschieden und vielleicht schon, als der Korporal gefallen sei, aber vielleicht auch erst vor ein paar Tagen, als er zugesehen habe, wie ein paar Kinder mit einem zerrissenen Netz Fische hätten fangen wollen. Und er wisse nun, daß er hier Arzt werden wolle und nichts anderes.

»Ja, ja«, sagte Stilling und sah ihn wieder mit demselben Sorgenblick an wie damals, als er klein und tapfer in der kleinen Bank gestanden, nachdem Christean erzählt hatte, daß das Himmelreich gleich einem Könige sei, der mit seinen Knechten rechnen wollte. »Ja, ja, Jons«, sagte er, »das ist mir, als ob ich noch einmal geboren würde. So ist es mir. Die Heimkehr vom Mondgebirge ... das ist es, Jons.«

Sie verstanden ihn nicht, und er stand auf und holte das Buch, das unter der Lampe lag und in dem er wohl gelesen hatte. »Nimm dies mit, Jons«, sagte er. »Für diese acht Tage ist es ein gutes Buch und vielleicht auch für die kommende Zeit. Und wir glauben ja auch nicht, daß Bücher nur für Friedenszeiten da sind.«

Jons schlug es auf, aber er las nicht weiter als bis zum Vorspruch auf der ersten Seite. ›Wenn ihr wüßtet, was ich weiß‹, stand dort, ›so würdet ihr viel weinen und wenig lachen.‹ »Soll ich deshalb lesen?« fragte er, und sein Mund war nun bitter wie der seiner Mutter.

»O nein, Jons, das brauchen wir nicht zu lesen, das wissen wir wohl auch so. Aber du mußt die letzte Seite aufschlagen, da steht es noch einmal. Und zwei Zeilen vorher steht etwas anderes, nämlich: ›Jetzt wollen wir wieder zu den Lebendigen gehen.‹ Und wie jemand von dem ersten Wort bis zu diesem gekommen ist, das kann man schon lesen. Denn auch er ist vom Mondgebirge heimgekommen wie ihr alle.«

Das schien nun Jons ein gutes, wenn auch ein schweres Wort, das von den Lebendigen, und lange nachdem Christean eingeschlafen war, lag er oben in der Kammer, die so wiedergebaut worden war wie die aus ihrer Kinderzeit, und blickte auf den hellen Fleck des kleinen Fensters. Kein Stern wanderte über das dunkle Kreuz, keine Uhr schlug. Es war so wie in einem großen, dunklen Walde, in den durch eine kleine Lücke zwischen den Wipfeln der nächtliche Himmel hineinschien, und so mochte wohl Jumbo gelegen und den Tod erwartet haben. Ach, er war viel schwerer, als sie glaubten, der Gang zu den Lebendigen.

Danach war er drei Tage vom Morgen bis zum Abend am Meiler, um das Winterholz für seine Mutter zu spalten und aufzuschichten. Manchmal sah er ihr weißes Gesicht am Fenster, aber er wußte nicht, ob sie ihm zusah oder auf den erloschenen Meiler starrte. Niemals würde einer von ihnen wissen, ob er in ihrem Herzen lebte. Sie würde niemals vom Mondgebirge heimkehren.

Erdmuthe war in das Jeromin-Haus eingezogen, aber nicht eher, als bis Jons sie noch einmal gebeten hatte, und sie hatten alle gemeint, daß es besser für Maria sei, sie sitze wieder vor dem Feuer, vor dem noch ihr Vater gesessen habe. Und noch einmal, bevor Jons fortging, konnte er an den Abenden meinen, daß es so sei wie in ihrer Kinderzeit, als Maria am Herde gestanden und mit ihrer tiefen, schönen Stimme das Märchen vom Fischer und seiner Frau erzählt hatte.

Wenn man die Augen schloß und nur zuhörte, wie das Feuer im Birkenholz sang, konnte man meinen, es sei alles so, wie es einmal gewesen war. Aber wenn man sie öffnete, wußte man, daß alles Gewesene schon den dunklen Strom hinuntertrieb, den die Menschen die Zeit nannten. Die Mutter, die eine Königin hatte werden wollen, saß am Meiler, und keiner von ihnen wußte, was für Gesichter sie in ihrem Herdfeuer sah. Von Gina war ein Brief an Jons gekommen, daß von ihrem Grafen nun auch nicht mehr als ein kleines Kreuz in der Wüste übriggeblieben sei, dort wo eine Karawanenstraße zum Berge Sinai führe, und wenn Jons zu ihr kommen wolle, so würde sie sich freuen. Der »Phoenix« sei immer noch ihr stilles Eigentum, und sie denke, daß Zeiten kommen würden, in denen sie froh sein werde, ihn zu besitzen. Gotthold sei entlassen worden, und man sage, daß er in den Reichstag einziehen werde. Und wenn er etwas von Jumbo wüßte, der ein so guter Prophet gewesen sei, so möchte er es ihr schreiben.

Ja, alles trieb den Strom hinunter, Menschen und Völker, und selbst an der nebligen Straße von Sowirog konnte man die dunklen Wirbel hören, mit denen er sich dem Meere zuschob. Die ersten Männer kamen zurück, ganz wenige laut und lärmend, einige finster, die meisten still und geduldig, wie sie früher von der Waldarbeit zurückgekehrt waren. Der junge Pfarrer kam zurück und ging von Haus zu Haus, noch im grauen Rock, weil alles Seinige verbrannt war. Er hatte seinen Gott nicht verloren, aber es war nun ein schweigsamer Gott geworden, und wenn er die Lippen auftat, sprach er nicht von den Verheißungen, sondern von dem ersten Fluch, dem vom Schweiße des Angesichts, aber der Pfarrer hatte nun gelernt, daß es kein Fluch, sondern ein Segen war.

Nur die Gefangenen kamen nicht zurück, und wenn Maria nun an der »Armen Sünde« stand, die Nebeltropfen in ihrem hellen Haar, schien es ihr, als erstrecke sich der große, schweigende, tropfende Wald von ihren Füßen bis an die fernen Gebirge des Ural und noch weiter hinaus bis an die Küsten des Ozeans, den man den Stillen nannte. Wie sollte jemand heimfinden in ihm, der in seinen kindlichen Träumen und seiner Jugend oft nicht einmal seinen Rock gefunden hatte, wenn er in sein Amt hatte gehen wollen?

Manchmal sah der junge Pfarrer sie dort stehen, wenn er aus den anderen Dörfern zurückkam, nahm sie leise bei der Hand und brachte sie ins Dorf zurück. Wer an die ewige Heimat glaube, sagte er, verirre sich auch in den großen Wäldern nicht.

Und ob er denn an sie glaube nach diesen vier Jahren des Hasses und des Todes?

Ja, er glaubte immer noch an sie, obwohl es für seinesgleichen nun schwerer war als für andere. Auch nachdem er in der Meilerhütte gewesen war. Die Frau hatte am Herd gesessen, die Hände im Schoß, und ihn nicht zum Sitzen eingeladen. »Sie glauben«, hatte sie gesagt, »daß Gott mich geschlagen und gebeugt hat? Er kann den Flachs brechen und das Rohr, die Wälder und die Felder, wie Jakob geglaubt hat, aber mich wird er nicht zerbrechen. Er hat geschickt, was er schicken kann, und mich nicht zerbrochen. Er kann nur noch den Tod schicken, und ich werde die Tür weit aufmachen, wenn er kommt. So armselig ist euer Gott wie der Scherenschleifer, der mit der Eisenstange auf den Hof kam.«

Er hatte nichts erwidert und war gegangen, denn er war ja nicht gekommen, um zu zerbrechen. Und doch glaubte er, daß auch für sie die ewige Heimat bereitet sei.

Unter den ersten, die zurückkamen, war auch der Herr von Balk. Er kam aus dem Lazarett und trug den linken Arm noch in der Binde, aber er fuhr seinen Wagen mit den hohen Spinnenrädern selbst, und wenigstens seine Uniform und die schiefe Reitermütze mit dem Knick im vorderen Rand sahen so aus, als sei der dunkle Strom der Zeit nicht über sie hinweggegangen. Doch sahen sie, daß er grau geworden war und daß die Falten von seinen Nasenflügeln zu dem schmalen Mund sich noch tiefer in seine dunkle Haut eingegraben hatten.

Er saß am Feuer wie sonst, krumm und hager, und sah den beiden Kindern zu, die die Stirnen von Christeans hölzernen Drei Königen aus dem Morgenland mit Papierkronen schmückten. »Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis, nicht wahr, kleiner Jons?« sagte er, und sein Lächeln war ohne Bitterkeit, aber es sah fremd und traurig aus in seinem Gesicht. »Die Kronen fallen, und der Freiheitsbaum steigt, aber ich bin wohl neugierig, wer dafür sorgen wird, daß Brot wächst. Auch entthronte Könige und gekrönte Bettler müssen essen, und beider Hände sehen mir nicht sehr nach Arbeit aus.«

»In Sowirog werden sie arbeiten, Herr von Balk«, sagte Jons, »und in allen kleinen Dörfern der Erde. Und auch wir werden arbeiten.«

Ja, das wollten sie wohl, und wenn es auch nur dazu sei, daß diese beiden Kinder einmal mit Achtung von ihren Eltern sprächen. Mit der Achtung werde es nämlich im allgemeinen dürftig aussehen, von der Hochachtung ganz zu schweigen. Und da sei es ganz gut, wenn sie alle an sich selbst wenigstens »mit vorzüglicher Hochachtung« schreiben oder wenigstens denken könnten.

Ja, heiße Milch trinke er immer noch gern, am liebsten mit Rum, aber es gehe auch so. Die letzte Tasse habe er noch gut in der Erinnerung. ›In memoriam‹ habe darüber gestanden, und das heiße wohl ›zum Gedächtnis‹. Und nun wolle er zum Meiler gehen, wenn sie erlaubten, und dann Jons für eine Nacht mit sich nehmen. Ein einsames Feuer sei voller Gespenster.

»Ich dachte schon«, sagte er, als er wiederkam, »ihr hättet eure Mutter auf das Scheunendach gesetzt, aber ich weiß nicht, ob sie noch lebt. Sie gefriert nur noch, und einmal wird sie wie eine Königin in einem Glassarg sein.« Er stieß mit der Stiefelspitze in die grauen Holzkohlen vor der Herdtür. »Sie hätte eine Herrin sein können über Lebendiges«, sagte er finster, »aber nun ist sie nur eine Herrin über Totes ... wollen fahren, Jons.«

Das Schloß war unversehrt geblieben, und nur eine Scheune hatten sie neu aufbauen müssen. Auch über dem Park hing der Nebel, und Balk ließ gleich die Läden schließen und die Vorhänge zuziehen. »Kinder und alte Leute sitzen gern vor dem Feuer, Jons«, sagte er und zog die erste Flasche auf. »Mit wem soll ich nun hier sitzen, wenn du fort bist?«

»Sitzen wir nicht immer mit uns selbst, Herr von Balk?«

»Da könntest du recht haben, Jons, aber wir kennen uns zu gut, wenn wir graue Haare haben ... Bilanz gezogen?«

»Ich fange zu arbeiten an, Herr von Balk. Mehr brauche ich vorläufig nicht.«

»Recht so. Und fängst du mit der großen oder der kleinen Gerechtigkeit an?«

»Mit keiner von beiden. Die Historiker werden darüber schreiben ...«

»Richtig. Und die Staatsmänner und die Soldaten, vom General aufwärts. Und die Dichter und die Leute, die ihre Kronen verloren haben. Eine Masse Papier wird verbraucht werden, Jons, darauf kannst du dich verlassen, und der Acker wird wahrscheinlich nicht nur ohne Gerechtigkeit, sondern auch ohne Saat bleiben ... Schwer gehabt, Jons?«

»Nicht schwerer als die meisten.«

»Zu jung, Jons, zu jung. Achtzehn Jahre sind zu jung für die Liebe und das Blut. Nehmen beides zu schwer. Gibt wenige Dinge, die schwergenommen werden müssen.«

»Und das, was jetzt geschieht, muß das schwergenommen werden, Herr von Balk?«

»Wer den Sieg schwernehmen würde, muß auch die Niederlage schwernehmen. Sonst nicht. Schwer, mein junger Mann, ist erst, wenn dreitausend Morgen Roggenboden voll Disteln stehen, verstanden? Denn das geht gegen die Natur. Niederlagen gehen nicht gegen die Natur. Wenn du ohne Hände zurückgekommen wärst, das würde schwer sein. Es gibt keine Ärzte ohne Hände. Und Arzt willst du doch werden, nicht wahr? Na also. Pfarrer können ohne Hände sein, Dichter und Staatsmänner und alle möglichen anderen Leute. Aber kein Bauer, kein Arzt, kein Arbeiter. Der reine Geist ist immer verdächtig, mein Lieber. Froh, daß du mit dreißig Morgen zufrieden sein willst. Immer gefürchtet, daß du ein kleiner Jesaja werden wolltest oder wie die Scheiche sonst hießen.«

»Aber wie ist es nun mit der Wahrheit, Herr von Balk?«

»Was? Wahrheit? Denke, du kennst die Geschichte von dem Mann, der seine Hände in Unschuld wusch, nicht? Er wusch sie zwar in Blut, aber das schadet nichts. Blut hat viele Namen. Auch heute werden sie ihre Hände waschen, junger Mann. Und wie sie sie waschen werden! Genug Blut geflossen, daß alle Staatsmänner der Erde sich ihre Hände drin waschen können. Mit der Wahrheit, junger Mann, ist es wie mit dem Regenbogen. Du siehst ihn, aber er ist nicht da. Nur Kinder laufen dahin, wo er auf der Erde aufliegt. Alte Leute falten die Hände und sagen: ›Hübsch! Es regnet, aber irgendwo muß die Sonne scheinen.‹ Das ist es, junger Mann. Die Sonne scheint, aber wenn wir in die Höhe sehen, kriegen wir nur die Augen voll Regen.«

»Aber irgendwo scheint sie doch wirklich, Herr von Balk?«

»Ja, das tut sie, und wenn dir das ein Trost ist, kannst du dich an ihr trösten. Du mußt nur nicht mit der großen Gerechtigkeit auf sie losmarschieren, Gerechtigkeit gibt's nur bei den Einundzwanzig-Zentimeter-Mörsern, und es wäre unbequem, mit zwei Mörsern rechts und links in dein Kolleg zu gehen. Würde Aufsehen erregen, und die meisten Straßen wären auch zu schmal dazu.«

Er stieß einen Birkenkloben ins Feuer, daß die Funken in die schwarze Höhlung des Kamins hinaufstoben. »Arbeite, junger Mann!« sagte er böse. »Arbeite, daß dir das Blut unter den Nägeln herauskommt! Das ist doch die verfluchteste Schweinerei dieser Weltgeschichte, daß alle Arbeit von Leuten befohlen wird, die Schwielen auf dem Hintern statt auf den Händen haben. Und zwar Samtschwielen, verstehst du? Hoffe, daß der Teufel sie ihnen einmal mit glühendem Blumendraht ausbrennen wird, damit es hübsch langsam geht. ›Und hab' doch so manches liebe Jahr auf meinen Schwielen gesessen ...‹ Pistonsolo auf weißglühendem Mundstück. Schönste Hoffnung, wenn ich einmal abfahren werde.«

»Aber Sie sind nicht verbittert, Herr von Balk? Das möchte ich noch gerne wissen.«

»Verbittert? Habe meines Wissens nie nach Sahnebonbons geschmeckt, aber wüßte nicht, daß dieser Orlog mir eine Extraportion Wermut ins Blut gegossen hätte. Krieg ist wie Hagel, junger Mann. Alte Weiber heulen, wenn er ihren Roggen drischt, der Weise weiß, daß es schon beim Propheten Jesaja Hagel gab. Handwerk wie alles andre, nicht übermäßig sauber und nicht besonders fröhlich, aber auch Mist muß gestreut werden. Wird mir übel, wenn ich die sogenannten Standesgenossen an der Klagemauer sehe. Schlechte Neigung in unserm Volk, anzuspucken, was fällt, aber gibt auch bei den andern schlechte Neigungen. Immer brav gewesen, wenn man ihn nicht mit der Reitpeitsche traktierte. Verbittert? Nein. Ein bißchen müde. Zuviel Zinnober gesehen. Acht Tage pflügen, junger Mann, vom Morgen bis zum Abend, und der alte Vorhang geht wieder auf.«

»Über derselben Bühne?«

»Immer über derselben, mein Lieber. Die ›Neue Zeit‹ ist nur für Leute da, die Frühlingsartikel über den ersten Maikäfer schreiben. Auf unserer Bühne wird immer noch Mist gestreut und Roggen gesät. Frauen und Mädchen bekommen immer noch Kinder, und es wird geliebt, gehaßt, gelogen und totgeschlagen. Und auf der Galerie stehen immer noch ein paar Leute, die von der großen Gerechtigkeit träumen oder von der großen Liebe, wie sie es vor zweitausend Jahren getan haben und nach zweitausend Jahren immer noch tun werden. Hut ab vor diesen Leuten, Jons! Sie erinnern uns daran, daß der liebe Gott sich am siebenten Tage etwas geirrt hat und daß uns aufgetragen ist, seine Schreibfehler ein bißchen auszuradieren.«

Er stand auf und goß aus der Flasche über dem Kamin eine helle Flüssigkeit in ein großes Glas. »Ich trinke wieder zuviel, Jons«, sagte er heiter, »aber nach dem fünften Akt habe ich immer Bedürfnis nach einem Schnaps gehabt. Das sind die unpoetischen Naturen, denen immer leicht schwindlig wird, wenn sie den Geist über den Wassern schweben sehen. Nicht auf die Toten, Jons, und nicht auf die Totschläger. Aber auf die Todbezwinger, die nun an ihre Arbeit gehen wollen.«

Er trank das Glas aus und warf es ins Feuer. Es zerbrach an der hinteren Kaminwand, und der Papagei rührte sich unter seinem Tuch. »Otto«, sagte er heiser und verschlafen. »Sei doch nicht komisch, Otto ...«

Herr von Balk lächelte. »Wenn er wüßte, was wir wissen, Jons«, sagte er langsam, »was würde er dann wohl sagen?«


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