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XXI

Wenn der Leutnant mit dem grauen Gesicht nun fragte, ob es schwer sei, etwa wenn er die wenigen Posten abging und Jons in den Lehm des Grabens gelehnt fand, das Auge am Sehschlitz des Schutzschildes, so war Jons um eine Antwort verlegen. Er wußte nicht, ob es schwer war. Und wichtiger war, daß der Leutnant wahrscheinlich unter diesem Wort etwas ganz anderes verstand als er selbst. Der Leutnant sah darin das niemals schweigende Feuer, den Hunger, den Durst, den Tod, die Verstümmelung. Aber für Jons war dies eigentlich nicht »schwer«. Der Krieg legte es ihnen auf, wie das Leben ihnen Tage und Nächte auflegte. Man brauchte einige Zeit, um sich daran zu gewöhnen und die kalte Angst zu besiegen, die mit dem schweren, glühenden Eisen vom Himmel herunterheulte. Aber dann war es eigentlich überstanden, und das Leben ging weiter, in einer eigentümlichen Dumpfheit, als trage man nicht einen einzigen Stahlhelm auf der Stirn, sondern viele, unzählige, ja, als sei das ganze trübe, rauchige, feurige Himmelsgewölbe ein einziger schwer drückender Helm. Es ging weiter, hatte seine Pausen, seinen kümmerlichen Schlaf, seine noch kümmerlicheren Freuden, nur daß es gleichsam schwebender geworden war, als liege es auf einer Waage. Tag und Nacht flossen mehr ineinander als früher, und der Begriff des »Morgen«, des »Übermorgen« hatte sich aufgelöst zu bloßen Worten, weil das Gefühl der Zeit erstorben war und Minuten oder Stunden oder die »Ewigkeit« nicht viel voneinander unterschieden waren.

Nein, »schwer« war etwas anderes. Das Bild einer verwüsteten, zerrissenen und ganz und gar ohnmächtigen Erde etwa, auf die der schräge Regen fiel, der die Toten langsam in sie hineinwusch. Keine ernste, fruchtbare Erde, wie er sie kannte, feierlich aufgetan, um feierlich gekleidete Tote zu empfangen, sondern Schmutz, Verwüstung, Gesetzlosigkeit, in der auch die Toten ebenso schmutzig, verwüstet und gesetzlos umherlagen. Die Zerstörung aller festen und geheiligten Bilder, die er aus seinem Walde mitgebracht hatte, die Auflösung alles Hergebrachten, das ihn mit dem Vater und Großvater verband.

Schwer auch anzusehen, wie ganze Reihen junger, lebendiger Menschen aufstanden und fast im gleichen Augenblick niedersanken, verkrümmt, verbogen, zerstört. Nicht eigentlich der Tod, sondern das Wilde, Achtlose, fast Spielerische seiner Gebärde. Die Nichtachtung des einzelnen Lebens, der Fußtritt einer blinden Macht gegen das, was in dieser Hölle der Vernichtung doch eine Krone trug, und wenn es nur die Krone des Gehorsams und der Tapferkeit war. Die seelenlose, schmutzige Sicherheit eines Schmiedehammers, der in adlige Gesichter schlug.

Schwer auch der Wettlauf mit diesem grinsenden Tode, wenn man Munition oder Essen oder Trinkwasser von weit hinten holen mußte. Nicht daß er darauf ausging, das eigene Leben zu zerstören, sondern Nahrung und Gnade für die anderen. Das verruchte Keuchen durch verpestete und weglose Schluchten, die Flammenblitze der Einschläge, niemals zu berechnen, das verlorene und heimatlose Stöhnen der Verwundeten, in die blutige Erde geworfen und mit blinden Augen in den Vorhang aus Feuer und Qualen starrend.

Aber am schwersten doch die Gedanken, wenn man um die Abendzeit hinter ein paar zerrissenen Sandsäcken lehnte und auf die rauchende Linie blickte, die Himmel und Erde voneinander schied. Eine leere Erde, auf der alle menschliche Spur erloschen war, ein verwüstetes Feld, über das ein eiserner Hagel gefallen war. Blaue und graue Flecken darüber hingestreut, wie von vergessenen Garben. Schwarze, zerrissene Bäume, aber lebendige Bäume, denn der leise Wind trieb sie langsam vor sich her, bis sie wie Nebel verwehten. Schluchten, über denen es wie weißliche Wolken hing, und am Horizont die Hügel mit den Namen, die dem Tod entlehnt waren.

Und darüber nun der Himmel. Ein riesiger, unverhüllter Himmel, mit grauen Regenwänden, die schräge und drohend über den Hügeln lehnten. Und hinter den Regenwänden oder in den tiefen Klüften zwischen ihnen die wildgetürmten Massen von brandigem Rot und schwefligem Gelb, mit denen eine erstickte Sonne versank. Glühende Schlacken, die wie auf den Halden des Jenseits lagen, als ständen auch dort drüben die Füße der Heiligen im Feuer. Ein ungeheurer, brennender Abendraum, bereit für die Aufnahme der Toten, ohne Segen, ohne Verheißung, ja selbst ohne Gewißheit des Morgens.

Und diese tote Linie hinauf und hinab wandern die Gedanken. Die sich langsam von der Klammer des Gehorsams und der Pflicht lösen und auf die Suche nach der Wahrheit gehen, nach dem Sinn dessen, was hier unter diesem Himmel geschah. Alles anders, als man es bisher gelernt oder erfahren hatte, anders als das überkommene Gut von Vätern und Ahnen. Anders als die Ethik der Katheder, die Religion der Kanzeln. Aber trotzdem mit denselben Worten verbrämt und geschmückt.

Und selbst wenn man Gott für einen Traum hielt, für einen Becher, den die Weisen oder Angstvollen für die Lippen der Sterbenden erfunden hatten, wenn man es als ein ausschließliches Werk des Menschen betrachtete, was hier blutig und grauenvoll vor sich ging: was war der Mensch für ein Wesen, wenn er seine Hände dazu hergab, dieselben Hände, die nicht müde werden konnten, Trost und Barmherzigkeit auszugießen?

Er sah sich um und sah die grauen, erschöpften Gesichter, ohne Haß, ohne Blutdurst, nur müde, grenzenlos, unsagbar müde. Müde von ihrem eigenen Werk und doch diesem Werk unlöslich verbunden. Keiner von ihnen stand auf und ging davon, keiner blieb zurück, wenn der Befehl sie aus dem blutigen Graben in den nächsten trieb. Er selbst, Jons Ehrenreich Jeromin, aus den stillen Wäldern am anderen Ende der Erde, stand nicht auf und ging davon, kam nicht einmal auf den Gedanken, es zu tun, und hatte noch vor zwei Monaten über stillen Büchern gesessen, über Versen, über Krankheitsberichten, über den Lebensbeschreibungen der großen Todbesieger. Noch vor zwei Monaten hatte er ein anderes Leben an seinem Herzen gehalten, ein zu schützendes, zu bergendes, zu behütendes Leben, und nun war alles Leben wie ein Sandkorn, zu dem geringsten aller Güter erklärt, und derjenige der Strafe oder Verachtung preisgegeben, der in ihm den kostbarsten Edelstein der Schöpfung sah, das, woran sie Millionen und aber Millionen von Jahren gearbeitet hatten, mit einer unendlichen Geduld, über Sintfluten, Feuerströme und Eiswüsten hinweg.

Auch Schneider verstand es nicht. Er war noch hagerer geworden, und wenn sie einmal ein paar Stunden Ruhe hatten, stand er finster und alt bei seiner Gruppe, als müßte er auch die Schlafenden noch bewachen, damit sie ihm der Tod nicht noch im Schlafe stehle.

Ja, auch aus den kleinen Leuten der Garnison war mehr geworden, als Jons von ihnen gedacht hatte. Zwar, Paleikat war gleich am zweiten Tage verschwunden, in einer der feurigen Schluchten, und obwohl sie ihn als vermißt meldeten, hatten sie keinen Zweifel darüber, daß er sich in einem Feldlazarett oder noch weiter hinten eines verhältnismäßigen Wohlseins erfreute. Aber die anderen waren da, keine Helden, die den Augenblick des Sturmangriffs nicht erwarten konnten, aber doch Helden der Ausdauer, der Geduld, der Marterung. Winzige Bruchstücke des großen Heeres der Märtyrer, die kein Heeresbericht nannte, kein Orden schmückte, und ohne die diese Wälder, Hügel und Schluchten doch längst verloren gewesen wären.

Philipp hatte keine Stahlplatte gegen den Tod gefunden und es bald aufgegeben, sie zu suchen. Seine Vorstellung vom Tode als eines einsam und lautlos fliegenden, winzigen Stahlgeschosses war längst erweitert worden. Noch immer starrte er mit verstörten Augen auf die wandernden Fontänen des Todes, aber er machte keinen Versuch, ihnen zu entfliehen. Er drückte höchstens sein Gesicht in den nassen Lehm, und unter dem zu großen Stahlhelm sah dieses Gesicht immer wie das eines weinenden Kasperle aus, dem der Teufel über dem Rand der Kiste erscheint. Er weinte, aber er ging nicht fort. Er blieb da, halb verschüttet und betäubt, hungernd und frierend, schlaflos und gehetzt, aber er blieb da.

Und so blieben auch die anderen. Bollmann, finster und lehmbeschmiert, wie ein Stier, der aus einem Sumpfbad aufgestiegen ist. Der Waldarbeiterssohn, der längst vergessen hatte, sich um sein Bauholz Sorgen zu machen, und der kleine Theologe, noch schweigsamer als sonst, der in seinem Testament las und der manchmal nachts, wenn die Geschütze einmal schwiegen und nur die kalten Sterne der Leuchtkugeln über ihnen hingen, auf dem Grabenrand stand, frei und ohne Deckung, und die Verse der alten Verheißungen über das verwüstete Feld sprach, das nun unter dem fahlen Licht der lautlos sinkenden weißen Kugeln wie eine Kraterlandschaft des Mondes dalag.

»Selig sind, die da Leid tragen«, sprach er vor sich hin, so laut, daß man es bis in die kleinen Stollen hinein hören könnte. »Selig sind, die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden«, und die großen, feierlichen Worte der Seligpreisungen gingen über das schweigende Feld, über die verbogenen Drähte und die Trichter, in deren Kraterseen sich der kalte Mond spiegelte oder der ebenso kalte Glanz der Leuchtkugeln, hinüber bis zu der anderen Seite, wo die weißen, gelben oder schwarzen Gesichter sich lauschend hoben. Die großen Worte, die vor zweitausend Jahren über eine ebenso öde, schweigende Landschaft geklungen waren, die an allen Orten der Erde unzählige Male wiederholt worden waren, flehend, beschwörend, verheißend, und die doch von der Erfüllung der Verheißung so weit entfernt waren wie damals. In der schweigenden, toten Dämmerung zwischen den Gräben, in der doch in jedem Augenblick der Tod brüllend und ungeduldig aufspringen konnte, schien diese stille, sanfte Stimme von allem Menschlichen abgelöst zu sein, freischwebend in einem erstorbenen Raum, als sei sie die abgeschiedene Stimme aller Toten dieser zerrissenen Erde. Etwas Hoffnungsloses, lange Vergangenes schwang in ihren Worten und doch auch eine sanfte, träumerische Besessenheit. Der Versuch, das Erbarmungslose aller gewesenen und kommenden Stunden mit dem Wort zu überwinden, mit dem Wort, das doch vielleicht stärker war als die Gewalt geschleuderten Stahles, weil es nicht aus toten Geschützrohren kam, sondern aus dem lebendigen Grunde eines Menschenherzens.

Als es das erstemal geschah, lachten sie hier und da, oder sie fluchten, und ein paar erschrockene, verirrte Geschosse kamen von der anderen Seite, klirrten im Drahtverhau und hoben sich singend hoch über sie hinweg in den nächtlichen Raum. Aber dann war das Wort doch stärker als Lachen oder Flüche, durchdringender und siegreicher in seiner Sanftheit, und gerade das Unangemessene und fast Sinnlose der Handlung fiel wie ein geheimnisvoller Zauber über ihren Widerstand. Sie sahen die kleine, schmale Gestalt auf dem Rand des verfallenen Grabens stehen, ohne Gebärden, ohne Feierlichkeit, den Stahlhelm in den gefalteten Händen, ein Mann, der so allein war wie in der Wüste, ein Kind eigentlich erst, und das Rührende seines Versuches ergriff sie, das Kindliche, mit dem ein Kind vor einer stählernen Welt stand und mit einer Kinderstimme die stählernen Tore zu beschwören suchte.

Der Leutnant saß im Graben, dicht daneben, und man sah nur den kleinen roten Punkt seiner Zigarette glühen. Aber wenn eine neue Leuchtkugel stieg und ihr Licht langsam entfaltete, sah man sein ganzes Gesicht, wie es zu dem Sprechenden hingewendet war, ein Gesicht ohne Lächeln oder Flüche, ein stilles, etwas verwundertes Gesicht, als ständen die Tage der Kindheit vor seinen müden Augen wieder auf und er sähe ihnen zu wie ein alter Mann, der lange vergessen hatte, daß er einmal ein Kind gewesen war.

Und wenn es zu Ende war, stieg der kleine Soldat wieder in den Graben hinunter, wickelte sich in seine Zeltbahn und legte seinen Kopf in die nasse Erde wie die anderen. Es war ihm anzumerken, daß er nach seiner Meinung nichts Besonderes getan hatte oder auch nur hatte tun wollen. Außer daß es ihn vielleicht getrieben hatte, dieser Welt seine eigene entgegenzusetzen, damit er eine Nacht und einen Tag wieder gegen sie bestehen könne. Aber es erfüllte sie alle, auch die Wildesten, mit einer stillen Hochachtung vor ihm. Davor, daß aus einem verschütteten Brunnen wieder einmal das einfache Menschenbild aufgetaucht war, ohne Anspruch auf Tapferkeit oder besondere Taten. Und davor, daß jemand sich die Mühe machte, dieses verschüttete, verschlammte und verwundete Menschenbild wieder zu reinigen und zu trocknen, wo er doch wußte, daß die nächste Stunde und spätestens der nächste Morgen es wieder in die schmutzige Tiefe hinabschleudern würde.

Auch Schneider, der eine so geringe Meinung von dem »Zungenschlag« der Theologen hatte, saß still da, in seine Zeltbahn gehüllt, und hörte zu. Er schüttelte zwar den Kopf, wenn der kleine »Tobias«, wie er ihn nannte, wieder in den Graben gestiegen war, aber er zupfte Jons doch vorsichtig am Ärmel, um zu sehen, ob er schlafe. »Det erjreift mir, Ehrenreich«, sagte er leise. Ein Schimmer seines alten spöttischen Lächelns erschien unter dem langen, nun traurig gewordenen Schnurrbart, eines Spottes, den er gegen sich selbst richtete, aber trotzdem wiederholte er nachdenklich: »Det erjreift mir, Jons ... so'n Steckkissenkind und steht so da, vis-a-vis de janze Atmosphäre, und redet von die Hinterbliebenen. Det erjreift mir wirklich, Jons.«

Auch Jons ergriff es, und er machte gar keinen Versuch, es zu verbergen. Er hätte nur gern gewußt, wie es in der Seele dieses kleinen Kameraden aussehen mochte, wenn er auf die Grabenwand stieg. Aber Tobias, als er ihn am nächsten Morgen fragte, konnte es ihm nicht erklären. Ja, er verstand gar nicht, daß da etwas zu erklären sein sollte. »Ich lebe doch darin«, sagte er nur. »Wie sollte man denn anders hier leben können? Und da ich darin lebe, so spreche ich davon, wie ihr euch Geschichten erzählt.«

»Aber wie lebt man darin?« fragte Jons leise.

Tobias sah ihn an, und Jons bemerkte zum erstenmal, was für schöne, sanfte Augen er hatte. Große, braune Kinderaugen, in denen selbst diese Erde sich als ein reines Bild spiegelte.

»Das kann man nicht erklären«, sagte er. »Man glaubt, daß es das Größte ist, was jemals gesagt und auch gelebt worden ist. Man glaubt es so, daß man es weiß, und dann ist alles dieses hier nur ein großer Irrtum. Ein Fiebertraum. Und sobald ich die Worte spreche, legt sich seine kühle Hand auf meine Stirn, und das Fieber ist zu Ende. Die Klarheit ist wieder da, das, was bleiben wird, wenn hier schon längst wieder Wälder rauschen werden.«

Und er habe auch keine Angst?

Wovor sollte er Angst haben? Man habe auch keine Angst vor einer verschlossenen Tür, hinter der die Lichter des Weihnachtsbaumes brennten.

Und wenn man nun einmal eintrete und es sei kein Weihnachtsbaum da?

Tobias lächelte wie ein Kind, das von Erwachsenen getäuscht werden soll und die Täuschung durchschaut. »Selbst wenn das Nichts da wäre«, sagte er, »so würde Gott dafür sorgen, daß es uns wie tausend Kerzen erschiene.«

Jons fragte nicht, was nun sein würde, wenn Gott nicht da wäre. Es gab Fragen, die vor solchen Augen nicht gestellt werden durften.

»Wäre schön, Jeromin«, sagte der Leutnant am Abend, »wenn wir das auch könnten, nicht wahr?«

Aber Jons schüttelte den Kopf. »Es würde leichter sein, Herr Leutnant«, sagte er, »aber wir gehören zu denen, die nicht das Leichte und Schöne wollen, sondern das Wahre.«

»Ja, ja ...«, meinte der Leutnant und grub mit seinen Fingern einen Eisensplitter aus dem Lehm. »Die Wahrheit ist eine schöne Sache, Jeromin ...« Aber es klang, als habe er seine besonderen Gedanken darüber.

Er war der erste, der sie verließ, und der erste in einer langen Reihe. Bei einem der vielen blutigen und sinnlosen Versuche, eines von tausend Grabenstücken, einen von tausend Hügeln, eine von tausend Schluchten zu nehmen, Versuche, bei denen hundert Meter Gewinn mit hundert Toten bezahlt wurden, traf gleich beim Aufstehen eines der lautlosen, winzigen Geschosse den Leutnant in die Brust. Er lief noch ein paar Schritte, den rechten Arm mit einer merkwürdigen ungeordneten Bewegung hebend, und fiel dann langsam in die Knie. Jons blieb bei ihm stehen und beugte sich über ihn, aber Schneider nahm ihn mit seiner harten Hand beim Arm. »Vorwärts, junger Mann!« sagte er finster. »Hier wird allein gestorben.«

Aber als sie das Grabenstück hatten, eine flache Mulde mit Toten und Sterbenden, und sich vorläufig eingerichtet hatten, winkte er Jons, und sie liefen zurück, wo sie den Leutnant verlassen hatten. Das Sperrfeuer stand noch immer wie eine brüllende Wand vor ihnen, und sie zogen ihn langsam und vorsichtig in einen der tiefen Trichter, bis es verstummte. Der Leutnant war bei Bewußtsein, nicht viel grauer als sonst, und er nickte ihnen unmerklich zu, aber dann richtete er die Augen wieder in den grauen Himmel, über den der Wind den Qualm der Explosionen trieb. Schneider lief noch weiter zurück, um eine Bahre aufzutreiben. Die Dämmerung würde bald fallen, und dann konnte man versuchen, ihn zurückzubringen.

Jons kauerte auf dem Trichterrand und lauschte auf den Atem des Leutnants. Wieder kam das Gefühl einer schrecklichen Verlassenheit über ihn, wie über ein Kind auf einem leeren Feld, und daß sie nun ohne diesen noch verlorener sein würden als bisher. Er wollte sprechen, wie sehr sie ihn alle liebten in seiner Schweigsamkeit und seiner stillen Fürsorge, aber der lehmbeschmierte Helm des Verwundeten lag so still, als wolle das Gesicht darunter in Frieden gelassen werden.

Erst als die Sanitäter kamen, in der ersten Dämmerung, und die Bahre vorsichtig unter den Leutnant schoben, öffnete dieser die Augen, nickte Schneider zu und winkte Jons tiefer zu sich herab. Er konnte nur ganz leise sprechen. »Nun, Jeromin«, sagte er, »wie ist es nun mit der Wahrheit, was?« Ein fernes, unwirkliches Lächeln erschien um seinen Mund, und mit diesem Lächeln verschwand er in der fallenden Nacht.

Schweigend gingen sie in ihren eroberten Graben zurück.

Der nächste war Bollmann, dem ein Schrapnellzünder das linke Knie zerschmetterte. Auch er nahm keinen wortreichen Abschied, nur als der Sanitäter meinte, daß das Bein wohl »futsch« sein werde, sah Bollmann ihn mit seinen kleinen, unruhigen Augen verächtlich an, wendete das Gesicht zur Seite und sagte: »Scheißegal!«

Philipp gruben sie aus der verschütteten Grabenwand aus, aber er war schon tot. Unter seiner linken Schulter ragte ein langer, gezackter Splitter aus seinem Rock heraus, und Jons dachte, wie verwerflich der Tod doch mit ihnen spiele, daß er dem kleinen, unansehnlichen und so bescheidenen Musketier zum Abschied das Aussehen des erschlagenen Siegfried gegeben hatte. Aber sein Gesicht war ganz friedlich. Er mußte schon tot gewesen sein, ehe die Erde ihn verschüttete und begrub.

Eine Woche später verließ sie auch der Waldarbeiterssohn aus Jons' Heimat, und er verließ sie so, daß sie keine Spur mehr von ihm fanden. Eine schwere Mine hatte ihn zu Staub aufgelöst.

Als sie Ende Mai herausgezogen wurden, vorsichtig wie Verbrannte aus der glühenden Asche, waren sie nur noch drei, Schneider, der kleine Tobias und Jons. In der Morgendämmerung, in der ersten Marschpause, sahen sie einander an und dann von ihren fahlen, blutleeren Gesichtern fort in das rötliche Morgenlicht, das auf einen Waldrand mit blühendem Weißdorn fiel. Vielleicht hatte der General Freude an ihnen, der ihren Vorbeimarsch abnahm, aber Gott konnte wohl wenig Freude an ihnen haben, meinte Jons. Er wußte nicht, wie die beiden anderen darüber dachten, und wollte es auch nicht wissen, aber darin waren sie der gleichen Meinung, daß sie an dem General keine besondere Freude hatten. Nicht einmal Schneider, und er war doch der Ordentlichste und Älteste von ihnen, der einzige richtige Soldat.

»Nu kieke mal an!« sagte er. »Kommt hier rausgetanzt wie'n Birkhahn zur Balz und besieht sich seine Bescherung. Hätten dir jerne woanders gesehen, hoher Herr.«

Aber schon nach einer Weile bedrückte ihn seine »Insubordination«. »Kann ooch nischt dafür«, sagte er und zeigte mit dem Daumen über seine Schulter zurück. Der Hammer treibe den Nagel und der Nagel das Holz.

Und an den Nägeln hängten sie nachher die Lorbeerkränze auf, meinte Jons gleichmütig.

»Ja, sollen se se denn an unsre Heldenbrust hängen?« fragte Schneider erstaunt.

»Laßt sein«, sagte Tobias. »Möchtet ihr auf einem Sessel sitzen, eine Karte vor euch, und mit dem Druck eines Fingers ein Regiment in den Abgrund schicken? Sie sind ärmer als wir, und der Ärmste ist der Kaiser, weil er am weitesten vom Tode ab ist.«

»Jarnich jewußt, wat for reiche Leute wir sind«, murmelte Schneider, aber sie wußten beide, daß er recht hatte. Man konnte auch so auf den Tod sehen, und ein bitterer Stolz war besser als ein falscher.

Sie marschierten nach Norden, wurden verladen und kamen in ein Waldlager, wo sie sechs Wochen blieben. Ersatz kam, alte und junge Leute, aber sie konnten sich nun niemandem mehr anschließen. Sie blieben für sich, nicht sehr redselig und nicht sehr fröhlich, aber doch von den anderen ohne Willen durch das abgesondert, was sie in diesen Monaten gewonnen und verloren hatten. Sie blickten mit Nachsicht auf den Friedensdienst, dem man sie wieder unterwarf, schüttelten zu manchem den Kopf und gingen am Abend aus dem Lärm des Lagers fort, an den Rand des Waldes oder bis auf die Felder hinaus, wo der Weizen blühte und die Luft warm und rein über die Halme ging.

Der Horizont war nun still, und wenn es in dunklen Nächten hier und da aufblitzte, wußten sie nicht, ob es das Mündungsfeuer ferner Geschütze oder ein Wetterleuchten war. Das Bewußtsein von Raum und Zeit kehrte wieder, das Bild der Heimat, Menschen und Schicksale. Christean und Stilling schrieben, und auch von Margreta kamen Briefe. Kurze Briefe, ohne Klagen, ohne Beteuerungen ihrer Liebe, aber von einer ergreifenden Verlassenheit. Sie bewachte immer noch den Laden mit den Wachspuppen, das Leben werde schwerer, aber wahrscheinlich sei es nichts gegen das, was er zu bestehen habe. Und ein einziges Mal möchte sie ihn wohl gern noch wiedersehen.

Jons empfing ihre Briefe und die anderen, las und beantwortete sie, hatte Freude und Kummer an ihnen, aber auf eine unerklärliche Weise war dies alles doch fern und einem unwirklichen Leben angehörig. Noch brannten die vergangenen Tage und Nächte zu tief in ihm, und zwar nicht das Gefährliche und Tödliche, das sie enthalten hatten, sondern das noch Unerklärte in ihnen, das zwischen Sinn und Sinnlosigkeit Schwankende. Sie waren über ihn hinweggegangen, aber er hatte sie noch nicht mit seinem Leben verbunden. Sie waren noch nicht ein Teil seines Wesens geworden.

Am meisten grübelte er über die letzten Worte des Leutnants und sein stilles, nachsichtiges Lächeln, mit dem er sie verlassen hatte. »Was ist es nun mit der Wahrheit?« Ja, wie war es mit der Wahrheit? Jons hatte gesagt, daß sie mehr sei als Schönheit oder Frömmigkeit, und er war noch immer der gleichen Meinung, aber das Lächeln des Leutnants hatte dieser Meinung etwas von ihrer Sicherheit genommen, als wollte es ganz leise darauf hinweisen, daß zu den großen Illusionen der Menschheit die Wahrheit ebenso gehören könnte wie die Frömmigkeit des kleinen Tobias, das Wissen also ebenso wie das Glauben. Daß niemand ein Recht habe, ein Leben im Glauben für leichter zu halten als eines im Dienste der Wahrheit, zumal wenn dieses Lächeln und diese Überzeugung oder vielmehr dieser leise Zweifel von jemandem kämen, den der Tod berührt oder endgültig gezeichnet hatte und der vielleicht ein größeres Recht hätte als die Lebenden, über Sinn und Wert des sogenannten Lebens zu urteilen.

Sollte es wohl so sein, daß die Beschränkung, die er sich aufgelegt hatte, noch nicht ausreichend war? Daß es nicht genügte, auf die »Gerechtigkeit auf dem Acker« zu verzichten, sondern daß es notwendig und weise war, sich auf die Kunst seiner beiden Hände zu beschränken, die er erwerben wollte, und auf ein Herz voller Liebe, um ihre Arbeit zu ernten? Hatte Jumbo schon vor seinem Tode das Letzte gewußt, als er ihn vor der »Spekulation« gewarnt hatte? Und hatte er selbst nicht schon in diesen Monaten erkannt, daß er außerstande war, eine Erscheinung wie den Krieg so zu begreifen, daß er wie ein Baustein in sein Leben eingesetzt werden konnte?

Er kam nicht sehr weit mit seinen Gedanken, und er wußte eigentlich nur eines: daß sein Leben vielfältig und an Kenntnissen reicher sein würde als das seines Vaters oder Großvaters, aber daß es sich in seiner Führung lange nicht so von ihnen unterscheiden würde, wie er früher gedacht hatte. Immer mehr würde es danach streben, Arbeit und Sorge zu sein, für diejenigen, die Arbeit und Sorge am nötigsten hatten, und langsam würde es in die einfachen Formen zurückkehren, in denen es bei seinen Vorfahren abgelaufen war. Es war kein sehr großer Unterschied, ob man am Meiler saß und Kohle für die Menschen brannte, ob man eine Nacht bei einem Totschläger saß und sein Herz bewegte oder ob man die Hand am erkrankten Leben hielt und den Tod veranlaßte, noch einmal für eine Weile umzukehren. Aber diesen Formen war gemeinsam, daß man nichts für sich haben wollte, weder Ruhm noch Reichtum, weder Wahrheit noch Macht, sondern daß man dienen wollte, wie auch die Vorfahren gedient hatten, wenn auch der Herr, dem man diente, ein anderer geworden war. Ein unsichtbarer, großer Herr, und es war nicht von besonderer Bedeutung, ob man ihn Gott nannte, oder die Liebe, oder die Menschheit. Es gab eine Größe, die sich aller Namengebung widersetzte und entzog, und der wahre Diener verließ wohl auch nicht seine Stelle, wenn der Sohn oder Enkel dem Vater oder Großvater in der Herrschaft folgte.

Während der ganzen Wochen hatte er vermieden, mit Tobias über Religion oder Religionen zu sprechen. Er würde einer von den Pfarrern werden, denen man zusehen und nicht zuhören mußte, so wie man Agricola hatte zusehen müssen. Es gab Täter und nicht nur Künder des Wortes. Und das einzige, was er ihn gefragt hatte, war gewesen, ob er ihn nicht später einmal in seinem Walde aufsuchen möchte, um sich umzusehen, ob er nicht auf ihrem Hügel eine neue Kirche bauen und dort Pfarrer werden wolle. Er selbst wolle dort als ein stiller Landarzt leben.

Vielleicht, hatte Tobias erwidert, aber sie wüßten noch nicht, was Gott mit ihnen allen vorhabe. Wenn es so komme, wie er denke, dann werde er nicht dort am nötigsten sein, wo das Evangelium sich noch am längsten erhalten werde, sondern da, wo man alle Menschenkraft aufbieten werde, um es zu stürzen. Und das werde nicht in den großen Wäldern, sondern in den großen Städten sein. Und der Meinung werde Jons wohl auch sein, daß jeder von ihnen einmal dorthin gehen müsse, wo Gott am meisten geschlagen werde.

Das wollte Jons zugeben, und er setzte nach einer Weile hinzu, daß dies ihn am meisten mit allem Jammer versöhne, daß überall, bei allen Völkern wahrscheinlich, die wahren Sieger des Krieges so aussehen würden wie Tobias. Die wahren Sieger, nicht die vermeintlichen.

Er spreche damit das gefährliche Lob aus, erwiderte Tobias still, daß er Gottes Ebenbild sei, denn der wahre und einzige Sieger in diesem Kriege werde immer Gott allein sein.

Inzwischen, während der Weizen auf den Feldern sich schon zu bräunen begann, häuften sich Wünsche und Vermutungen, daß sie für eine stille Stellung im Osten ausersehen seien, bis die ersten Nachrichten von einem Fluß mit einem ebenso stillen Namen, weit westlich von ihnen, sie in ihrem Lager erreichten. Mit demselben Tage erstarben zwar nicht die Wünsche, aber die Vermutungen, und Schneider nickte ihnen zu. »Ick ahne wat«, sagte er.

In den ungeheuren Strudel an den Ufern des kleinen Flusses schoß das Blut der Regimenter und Divisionen mit solcher Schnelligkeit, daß alle lang bedachten Pläne zerstoben und Eisenbahnen und Lastwagen Tag und Nacht durch den Staub von Schienen und Straßen rasten, um neues, junges Blut in den erschöpften Körper zu tragen.

Aus einem dieser Züge wurden auch sie ausgeladen, auf freier Strecke, weil aus unsichtbaren, riesigen Rohren der Tod nach den Bahnhöfen suchte, und in Gewaltmärschen nach vorn geworfen, wo in kümmerlichen Geländefalten und dürren Waldstücken die Reserven auf ihren Einsatz warteten. »'n eindrucksvoller Horizont!« sagte Schneider. »Hier brauchen se keene Führer, hier finden ooch die Blinden hin.«

Es war richtig, daß es ihre Vorstellungen übertraf und daß die schluchtenreiche Erde der vergangenen Monate ihnen zunächst wie ein stilles, versunkenes Land erscheinen wollte. Aber dann sahen sie, daß hier kein schwererer Krieg war, sondern nur ein anderer. In den wenigen Wochen ihrer Ruhe hatte das Gesicht des Krieges sich verwandelt, sich weiterentwickelt zu dem Ziel, das er seit dem ersten Kampf zweier Höhlenhorden immer gehabt hatte: der völligen, möglichst verlustlosen und endgültigen Zerschmetterung möglichst vieler Leben. Wenn man Berge von Sand auf einen blühenden Garten wälzte, so erstarben Frucht, Blüte und Keim, und wenn man Berge von Stahl und Gift auf das Leben warf, so erstarb es ebenso. Es war eine einfache Rechnung, einfacher als die der vergangenen Monate, und es dauerte nur eine Weile, bis sie sie begriffen. Es war nun nichts als eine primitive Wahrscheinlichkeitsrechnung, ob sie aus den drei oder zehn Tagen des Trommelfeuers noch einmal aufstehen würden, um halb erblindet und betäubt nach ihren Waffen zu greifen, oder ob sie verschüttet, zerrissen oder vergiftet unter Schutt und Erde liegenbleiben würden.

Viele blieben liegen, die meisten sogar. Aber einige standen immer wieder auf, die scheinbar Unsterblichen, und zu ihnen gehörten auch sie. Sie standen nicht mit einem besonderen Gefühl des Glückes auf, eher mit einer matten Verwunderung, daß die alte Erde noch da war, daß sie noch Menschen trug und daß diese Menschen noch kämpften, lachten, Hunger und Durst hatten und etwas gerettet hatten, was sie Hoffnung nannten.

Tobias sprach nun keine Seligpreisungen mehr über ein schweigendes Feld. Es gab keine schweigenden Felder, und selbst wenn er Gottes Stimme gehabt hätte, würde sie untergegangen sein in Lärm und Feuer. Aber er las sie für sich, die großen und feierlichen Worte, in dem kleinen Erdloch, das sie sich gewühlt hatten, oder auf den Stufen eines Stollens, wenn sie das Glück gehabt hatten, einen zu finden. Sand fiel auf die Seiten seines Buches, Staub und Steine, und manchmal zogen sie einen Sterbenden vorüber, und seine Augen blieben auf der roten Bahn haften, die ihm folgte. Aber diese Augen behielten immer ihren sanften, stillen Ausdruck. Sie spiegelten nicht die schreiende Erde wider, sondern die stille Welt der Güte und Liebe, aus der sie emporgewachsen waren; und soweit sie beide, Jons und der Unteroffizier Schneider, auch von seinem Glauben entfernt sein mochten, so saßen sie doch still neben ihm, als falle ein schöner und sogar blühender Zauber aus seiner leisen Stimme über sie, und manchmal fuhr Schneider mit seiner groben und seit vielen Tagen nicht gewaschenen Hand vorsichtig über ein Blatt des kleinen Buches und wischte den Sand von den winzigen Zeichen.

Sie wußten, daß jeden Augenblick der Tod sie treffen konnte, ein wilder und gewaltsamer Tod, und doch schien es Jons schwerer als jede Form des Todes, daß Schneider sie verließ. Ein einfacher Metalldreher und ein einfacher Korporal, wie es Tausende im Heere geben mochte, aber für ihn ein Vater im Dunkel so vieler Tage und Nächte, ein Mann mit der rauhen Sprache des Soldaten und Kriegers, aber mit der weichsten Hand, die er in diesen Zeiten gefunden hatte. Ein Mann, der mit ihm auf der Schwelle der Meilerhütte gesessen hatte und der wie ein Schild über seiner jungen Stirn gewesen war.

War der Tod nur ein Spiel von Minuten und Sekunden? Hatte es ihm Freude gemacht, sie vier Wochen lang zu jagen, zu verschonen und plötzlich, als sie aufatmend stille standen, aus einem Hinterhalt zuzuschlagen? Törichte Fragen, die nur der Gram eingab. Kindliche Fragen, als steckte eine Seele mit Prüfungen und Entscheidungen hinter einer kalten, blinden Macht und der parabolischen Bahn, mit der sie auf ihre Opfer zufuhr.

Sie waren nach vier Wochen abgelöst worden, in der Morgendämmerung, und hatten schon die ersten stillen Waldstücke erreicht, weit hinter der brüllenden Brandung, die sie ausgespien hatte, als Tobias warnend die Hand hob und während des Marsches den Kopf lauschend erhob. Schon kam auch von der Seite, wo an neuen Stollen gearbeitet wurde, ein lauter Zuruf, von dem dumpfen Heulen schon übertönt, und noch während sie sich niederwarfen, wo sie gerade standen, fuhr das schwere Geschoß aus einem der Schiffsgeschütze, das weit hinter Wäldern, Tälern und Hügeln stand, mit einem betäubenden Donnerschlag in die längst zu Staub gemahlenen Trümmer der Ferme am Wege, riß das ganze zerbröckelte Haus noch einmal in die Luft, schickte die schweren, gezackten Splitter mit einem dröhnenden Brausen über sie hinweg und eines der kleinsten Atome, in die es den stählernen Mantel zersprengt hatte, lautlos an die Stelle, wo Schneider stand. Einen Augenblick lang war sein immer waches Gehirn müde gewesen, der Weg vom Ohr zum Körper zu weit, und dort, zwischen Mützenrand und Ohr, traf es ihn, als er sich eben noch niederwarf.

Sie legten ihn auf den Rücken und schoben ihm einen Mantel unter den Kopf. Sie blieben bei ihm, während die anderen sich zerstreuten, um sich erst weit hinter der Ferme wieder zu sammeln. Die meisten hatten gar nicht bemerkt, daß etwas geschehen war.

Er war noch bei Bewußtsein, aber um seine Nasenflügel breitete sich schon ein grauer Schein, und erst als seine Augen ihre beiden Gesichter gefunden hatten, stahl ein Schimmer des alten Spottes sich wieder unter seinem Schnurrbart hervor. »Nu hat es mir erjriffen«, sagte er leise.

Sie knieten rechts und links von ihm, um ihm näher zu sein, und auch das bemerkte er mit seinen Augen, die hin und her gingen. »Wie ieber'n Steckkissen«, sagte er, »'n langer Täufling ...« Aber dann legte er die Hand auf Tobias' gefaltete Hände und nickte ihm zu. »Ick jloobe ja nich«, sagte er, »aber det war doch 'ne richtije Vertröstijung, von wejen die da Leid tragen ... wie jing det doch noch?«

Tobias wiederholte leise die Seligpreisung.

Er nickte und suchte mit der anderen Hand nach Jons. Seine Augen verdunkelten sich schon. »Jeh man hin nach dem kleenen Kaff«, sagte er, »und bleibe da. Kümmere dir um uns kleene Leute ... Wir sind dankbar, Jons, wir kleenen Leute, det haste vielleicht jeahnt an meinem jroßen Beispiel ... sehr dankbar, kleener Ehrenreich ... sehr ...«

Der Tod fiel ganz schnell über sein Gesicht. Wie ein Vorhang über ein erblindetes Fenster.

Der junge Leutnant, der sie seit dem Morgen führte, war der Meinung, daß die Leute, die an den Stollen arbeiteten, den Toten begraben könnten, aber Jons und Tobias waren nicht dieser Meinung. Und sie blieben dabei, auch als die Worte schärfer wurden und vom Kriegsgericht gesprochen wurde. Bis es dem Leutnant unbehaglich unter ihren merkwürdigen Augen wurde und er sie allein ließ.

Sie begruben Schneider an einem der kleinen, blühenden Waldränder und machten ein schweres Kreuz aus zwei Stollenbrettern, die der Pionierunteroffizier ihnen heimlich gab. Sie schrieben seinen Namen auf das helle Holz, und Tobias sprach ein Gebet und den Segen.

Dann legten sie ihre Sachen wieder an und machten sich auf den Weg.

Es war ein langer Weg, aber sie sprachen kein Wort über den Toten.

Nur in der Nacht, als sie die heiße Baracke verlassen hatten und unter den stillen Sternen lagen, in ihre Zeltbahnen gewickelt und das Sturmgepäck unter dem Kopf, sagte Tobias: »Ich wünsche Gott, daß er viele kleine Leute um sich hätte ... es wäre dann leichter für uns alle, zu leben ...«


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