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XXII

Noch einmal verwandelte sich für Jons das Gesicht des Krieges. Nicht dadurch, daß er nun keuchend und frierend durch die finsteren und eisigen Wälder der Karpathen marschierte oder im neuen Jahre an den Ufern des großen Donaustromes stand. Auch nicht dadurch, daß sie nun nicht mehr für Wochen an ein zerfallenes Grabenstück gekettet waren und der Tod jede Stelle dieses Grabens umwühlte, um sie zu suchen, wie man Maulwürfe sucht; sondern daß sie nun wieder marschierten, daß der Gegner sich stellte oder floh und daß statt des splitternden Eisens der Mensch wieder da war, der um sein Leben kämpfte wie sie um das ihrige.

Sondern dadurch, daß mit dem Tode Schneiders etwas Väterliches und trotz allem Geschehen leise Versöhnendes aus dem Kriege fortgenommen worden war. Von jetzt ab war es das schwere Tagwerk, das es abzuleisten galt, der Fluch, der auf die Menschen geworfen wurde, eine graue, schwere Unendlichkeit, die hinter jedem neuen Berge, hinter jedem neuen Strom immer wieder da war, immer gleich weit in die Ferne gerückt; und wenn das Ziel des Krieges der Friede war, dann war er wie ein Schatten, den sie um die ganze Erdkugel verfolgten und niemals einholen würden, weil sie die Sonne nicht einholen konnten, die diesen Schatten warf.

Er zählte die Tage und Monate nun nicht mehr, so wie er die Tropfen des Regens nicht mehr zählte, die über sein Gesicht fielen. Er behielt die Namen der Dörfer und Flüsse und Wälder nicht mehr und nicht die der neuen Kameraden und Vorgesetzten. Schatten trugen keine Namen mehr. Sie waren einmal mit Namen genannt worden, als man noch gedacht hatte, daß die Welt am Namen hing; aber nun waren sie abgefallen von ihnen, und nur ein graues, gespenstisches Heer war geblieben, das über die Erde zog, um mit anderen Schatten zu kämpfen und zu sehen, ob sie den Frieden unter ihren Mänteln verborgen hielten. Aber auch sie besaßen ihn nicht.

Was war der Tod? Ein billiges Los, das über sie geworfen wurde, als ob man um Körner würfele oder um bunte Kieselsteine, und das, um dessen Besiegung Jahrtausende mit glühenden Herzen gerungen und geforscht hatten, war nun nicht mehr als der Tau, der auf Grashalme fiel und den ihre Stiefel abstreiften auf ihren Wegen.

Was war das Leben, dem so viele von ihnen hatten dienen wollen? War es noch das große, wunderbare Geheimnis der ganzen Welt, das größte der Schöpfung, das Allerheiligste dieses flüchtigen Planeten? Das so groß war, daß alle Völker seinen Ursprung in die Hände eines Wesens legten, das sie Gott nannten. Es war nicht mehr als ein zerbrechliches Kleid, und jeder Windhauch aus den Wäldern konnte es abstreifen und verwehen, wie er den Staub der Straße verwehte.

Was war die Liebe? Ein Kindermärchen, zurückgelassen in bunten Tagen der Kindheit, wie man seine bunten Kinderschuhe zurückläßt. Eine Seifenblase an einem Halm von Stroh, in der die Welt sich farbig spiegelte; aber der Wind hob sie auf, und sie zerging, wie die Wolken am Abend zergehen.

Was waren Menschengesichter, in denen es geleuchtet hatte wie von einem neuen Morgen? Die des Vaters, Jumbos, des Leutnants, des großen Korporals? Formen aus Lehm, zersprungen im feurigen Ofen, Stückwerk gewesen, Stückwerk geworden, nicht benannt, nicht gezählt, Dünger für ein kommendes Feld, aber wo war die Saat für dieses Feld?

Ein finsteres, graues Gesicht unter einem grauen Helm, ein erschöpfter Körper, der einen Fuß vor den anderen setzte, zwei Hände, die luden und schossen: das war, was unter dem Namen Jons Ehrenreich Jeromin durch die östlichen Wälder marschierte. Hinten, am Rande einer früheren, versunkenen Welt, lag ein kleines Dorf, von den Vorfahren Sowirog genannt, das heißt der Eulenwinkel. Lag ein Hügel aus Asche und Erde, darunter der Großvater schlief. Lagen andere Hügel, darunter die Brüder und viele Kinder schliefen. Lag ein kleines Haus, darin die Mutter am erloschenen Feuer saß; eine Straße, auf der eine junge Frau zum Walde ging, um nach Osten zu sehen, ob der Verlorene wiederkäme. Lagen andere Häuser und Hütten mit Hunger, Krankheit und Not, die auf zwei Hände warteten, die das alles heilen sollten. Und über allem, auf einem verwüsteten Hügel, stand ein toter Pfarrer, der Gott einen Mörder genannt hatte, und blickte über die grauen Dächer hin, ob nun nicht endlich ein Heiland zu ihnen kommen würde, ein wahrer Heiland, der die Tränen noch trocknete, solange sie aus lebendigen Augen flossen statt aus solchen, über denen schon die letzte Erde lag.

Und hinter den grauen Dächern, noch weiter zurück auf diesem blassen Felde der Erinnerung, saß ein Mädchen vor einem kleinen, erkalteten Ofen, die Hände im Schoß gefaltet, und blickte ohne eine Träne auf ihre leeren Hände herab. Verarbeitete Hände, die die Nadel durch Stoffe zogen, die andere trugen, oder Bindfäden um bunte Kartons schnürten. Ein Mädchen, das nicht viele Freuden gehabt hatte außer denen ihres Leibes, und das auch diese Freuden begraben hatte, weil der Tod regierte und nicht die Freude.

Ein dunkles Jahr, das über der Erde heraufzog, nicht heller gemacht durch Siege oder Reden, durch Sonnenaufgänge über fremden Strömen wie über dem Donaustrom, durch Leuchtkugeln über verfallenen Gräbern mit verfallenen Toten. Viele sahen es kommen, der kleine Mann zuerst, wie er den Hunger zuerst kommen sieht, den Hagel, die Mißernte. Und auch Jons sah es kommen, weil er von kleinen Leuten stammte, in deren Leben die dunklen Jahre an der Regel gewesen waren.

Aber er marschierte. Aus den verschneiten Bergen der Karpathen zu einer fremden Bahnstation, weil man ihm gesagt hatte, daß er zwölf Tage Urlaub habe. Er glaubte es nicht recht, und er tat gut daran, es nicht zu glauben, denn nach drei Tagen rief ein Telegramm ihn zurück. Die Mutter nickte nur, aber Margreta klagte weinend an seinem Herzen über den Krieg, den Kaiser, Gott und die Welt. Er strich ihr das feuchte Haar aus der Stirn und tröstete sie. Weder der Kaiser noch Gott seien schuld, sagte er, und es wäre ihm besser, er nähme nicht ihre Tränen als letzte Erinnerung mit. Tränen lägen schwer auf dem Herzen eines Soldaten.

Er marschierte aus den Bergen der Karpathen nach den fruchtbaren Ebenen Galiziens und von dort nach dem Dünastrom, den kleinen Theologiestudenten an seiner Seite, beide nun die einzig Übriggebliebenen aus ihrer Gruppe, beide schweigsam und ohne Lieder. Beide nun die ältesten Leute aus ihrer Kompanie, wenn auch nicht an Lebensjahren, die Verläßlichsten, die Unsterblichen. Beide mit Orden geschmückt, nach dem Spielen mit dem Tode, der eine unerschütterlich im Glauben als einer gewissen Zuversicht dessen, was man nicht sieht, der andere das letzte Wort ihres vor der Festung gefallenen Leutnants noch immer im Ohr: »Was ist es nun mit der Wahrheit, Jeromin?«

Auch von den Ufern der Düna marschierte Tobias weiter, immer weiter, den Küsten des Meeres zu, und Jons blieb allein zurück, nun ganz allein. Ein Granatsplitter hatte ihn in die rechte Hüfte getroffen, und Tobias hatte noch geholfen, mit seinen Verbandpäckchen das Blut zu stillen. Er war noch einmal umgekehrt, hatte sich zu Jons heruntergebeugt und gesagt: »Vergiß es nicht, Jons, daß es die rechte Hüfte war, die der Engel Jakob ausrenkte!« Dann war er gegangen, ein kleiner, schmaler, grauer Soldat, einen Sack mit Handgranaten an der Seite, und das Schilf des Stromes hatte sich über ihm geschlossen.

Schmerzen, wilde, bohrende Schmerzen, aber über den Schmerzen ein unendlicher, süßer Friede, der blaue Septemberhimmel mit einer schon blassen Sonne und die Fäden des Altweibersommers wie ein Seidengespinst vor dem blauen Raum. Und zur Rechten die hohen Wälder, schweigend, die dunklen Kreise eines Raubvogels über sich. Zur Linken der helle Klang, mit dem Geschosse gegen die Stahlwände der Pontons schlugen, schwarze Säulen mooriger Erde, die polternd und klatschend zusammenfielen, erschrecktes Geflügel, das schreiend über dem qualmenden Strom kreiste.

Aber alles weit wie in einem Traum, ohne Wirklichkeit und ohne Bedeutung. Das ganze Leben in dem schmalen Körper zusammengedrängt, die wunderbare Müdigkeit der Füße, die nicht mehr zu marschieren brauchten, der Augen, die sich halb schlossen, der Gedanken, die nicht mehr nach der Wahrheit fragten. Blaue Dämmerung wie am Meiler im Wald, Häherruf in den hohen Wipfeln, der Vater, der die Blätter des alten Buches umschlug. Noch einmal das Leben, das stille, begnadete Leben, schweigend wie das Korn in der Furche und den Regen erwartend, der es heben würde, zum Licht, zur Arbeit, zum Brot.

Er war traurig, daß die Sanitäter kamen und ihn aufhoben, daß das Morphium ihn betäubte, daß er im Fieber Wagenräder unter sich hörte und fühlte, zuerst hölzerne, dann eiserne, und daß er in einem weißen Bett erwachte, in einem kleinen Saal mit weißen Vorhängen vor den Fenstern, nicht mehr auf der stillen Erde mit der Bühne des Himmels und den dunklen Kulissen der Wälder.

Eine Schwester kam und lächelte. Ja, er sei schon operiert, und man hoffe, daß er nicht werde zu hinken brauchen, nur nachziehen werde er das Bein vielleicht ein bißchen, ganz unmerklich, und die Mädchen würden wissen, daß er ein Held sei.

Ob seine Hände heil seien?

Ja, natürlich, ganz heil. Weshalb?

Weil er einmal ein Arzt hatte werden wollen, ein kleiner Landarzt für arme Leute. Kein Held, dem die Mädchen nachsähen.

Sie lächelte verwirrt und sah prüfend in seine Augen, ob das Fieber wiederkäme.

Aber es kam erst später, ging wieder und kam noch einmal. Fast ein Jahr lang, und über ein Jahr lang blieb er nun in dieser Stadt an dem fremden Strom, dessen Mündung doch in seiner Heimatprovinz lag und deren Glocken aus den vielen Kirchen er Tag und Nacht vernahm, bis man sie abnahm und einschmolz und aus der Stimme Gottes die ultima ratio regis machte.

Er war nicht so leicht, dieser Rückweg ins Leben, wie der Stabsarzt es sich dachte. Man nahm die Knochensplitter heraus, so gut es ging, man nähte zusammen, was zerrissen war, auch so gut es ging, und dann hatte es eben zu heilen. Man war sauber gewesen bei der Operation wie immer, die Kleiderfetzen in der Wunde waren unangenehm, aber Granatsplitter waren nicht bekannt dafür, daß sie Ozon in den Wunden hinterließen. Und doch war die Wunde nicht in Ordnung, und, mehr als das, der Verwundete war nicht in Ordnung. Die Wunde eiterte, hörte auf damit und begann wieder, das Fieber ging und war wieder da, neue Splitter kamen heraus ... weiß Gott, ob dieser Kerl nicht nur aus Splittern bestand. Und der Verwundete war noch schwieriger als seine Wunde. Keine Klage, keine Ungeduld, aber ein merkwürdiger, gleichgültiger Blick, mit dem er den Stabsarzt streifte, seine Hände in den Gummihandschuhen, den weißen oder böse riechenden Verband. Und das ganze ein zukünftiger Kollege!

»Sagen Sie mal, Jeromin, wollen Sie eigentlich nie gesund werden?«

Doch, das wollte er schon.

»Oder meinen Sie, daß ich hier etwas verkehrt mache an Ihrer verdammten Hüfte? Sie sehen immer so aus, als ob ich was vergessen hätte, eine Nadel oder ein Stück Gummischlauch oder sonst etwas?«

O nein, das nicht. Der Herr Stabsarzt sei nur kein Arzt für kleine Leute, wenn er ihm das zu sagen erlaube.

»Na, hören Sie mal«, sagte der Stabsarzt verblüfft. »Was sind denn das für Spezialisten, die Ärzte für kleine Leute? Und gehören Sie denn zu den kleinen Leuten?«

Ja, daran sei kein Zweifel, erwiderte Jons. Und die kleinen Leute seien auch altmodische und kindliche Leute, denn sie wollten bei ihrem Arzt das Herz schlagen sehen, so wie Kinder bei einer Spieluhr die kleine Walze sehen wollten. Und manche würden nicht gesund, wenn sie das nicht sähen.

Die Operationsschwester kicherte, aber der Stabsarzt schrie sie an, sie möchte gefälligst ihre Bakterienschleuse schließen. Dann sah er Jeromin eine Weile an, mit einem merkwürdigen, ja zerstreuten Blick, legte den Zeigefinger seiner linken Hand in dem dünnen Handschuh auf die Stelle, wo Jons' Herz schlug und sagte langsam, es seien nicht die besten Ärzte, die die schnellsten Diagnosen stellten, und wenn der Soldat Jeromin sehen könnte, was er sich wünsche, wie nämlich nach drei Jahren Krieg das Herz seines Arztes schlage, dann könnte es sein, daß es kein allzu guter Anblick für die Freude an seinem künftigen Beruf wäre.

Er wolle nun gesund werden, sagte Jons nach einer Weile leise.

Aber es hing doch nicht ganz von seinem Willen ab, und schließlich fing er an, dieses Ganze als eine Zeit des Samenkorns zu betrachten, das tief in der Erde lag und das erst ans Licht kommen durfte, wenn der Wind warm über den Acker wehte. Er würde nicht mehr in den Krieg gehen, und wenn er hier durchkam, dann war dies wie eine stille Zeit, die seiner zweiten Geburt vorausging. Er mußte die feurigen Monate vor sich auf der Bettdecke ausbreiten und zusehen, was sie bedeuteten. Ob man sie fallen lassen und vergessen konnte, oder ob man in ihnen nun das erkennen wollte, was sie wirklich waren. Man mußte auch die Toten wieder ausgraben, die so schnell fortgegangen waren, und nun erst, nach ihrem Tode, das Bleibende in ihnen von ihrem Vergänglichen scheiden. Man mußte so vieles tun, wozu keine Zeit gewesen war, und nicht zuletzt mußte man auch sich selber zusehen, von dem Augenblick an, in dem der Korporal Schneider die »lakonische Frist« befohlen hatte, bis zu dem andern Augenblick, in dem, wie Tobias sagte, Gott seine Hüfte verrenkt hatte.

Er sah sich auch um in seinem kleinen Saal, sah den Ärzten, den Schwestern, den beiden Geistlichen zu, und schließlich auch dem Tode, der kein seltener Gast an ihren Betten war. Der Tod hatte einen langen Arm, und er reichte von den verschneiten Schlachtfeldern weit im Osten bis in diese glockenreiche Stadt, ja wahrscheinlich noch weit über sie hinaus. Er war der Stärkste von allen, die hier um das Leben versammelt waren.

Jons hatte viel Zeit, mehr als er jemals in seinem Leben gehabt hatte, und wenn das Fieber seine Augen nicht verdunkelte, ließ er sie von Bett zu Bett wandern. Da waren zuerst die Geistlichen, denen er aufmerksam zuhörte und deren Gesichter er aufmerksam betrachtete, am meisten, wenn sie zu einem Sterbenden kamen. Er hörte ihre leisen Stimmen, er sah die stille und feierliche Bewegung ihrer Hände, und er sah die Gesichter, die ihren Zuspruch empfingen, stiller werden und von einem inneren Licht sich erleuchten. Nicht immer, aber meistens. Es war dann ganz still in dem Raum, und auch die schwer Verwundeten bemühten sich, ihr Stöhnen zu dämpfen.

War es dann zu Ende und ging der Pfarrer hinaus, so folgte Jons ihm mit den Augen bis zur Tür, und wieder hörte er die lang vergangene Stimme fragen: »Wie ist es nun mit der Wahrheit, Jeromin?« Nein, er glaubte nicht, daß das, was eben geschehen war, mit der Wahrheit etwas zu tun hatte, und wenn die Sanitäter kamen, ein Laken über den Toten deckten und ihn hinaustrugen, so sah es nicht aus, als ob zwei Engel die erlöste Seele zu den Pforten des Paradieses trugen. Nein, es sah ganz anders aus.

Viel eher hatte es mit der Schönheit etwas zu tun, mit der Schönheit von Märchen, in denen Sterntaler vom Himmel fielen, um ein frierendes Menschenkind zu wärmen. Und weshalb sollte man den harten Gang der Natur nicht verschönen? Es starb sich wohl nicht leicht hier im fremden Land, nach soviel Jahren schwerer Tagwerke, in einem Bett, in dem viele gestorben waren, abgeschieden von allem, was man geliebt, gehofft und erstrebt hatte.

Aber sie halfen nicht das Leben bewahren, die beiden mit dem Kreuz auf der Brust. Sie waren so ohnmächtig zu diesem Werk wie die Kinder. Wahrscheinlich meinten sie, daß sie das Ewige Leben bewahrten, so wie Agricola es einmal gemeint hatte, aber mit diesem ewigen Leben konnte man weder den Krieg beenden noch das Unrecht noch die Gewalt. Mit ihm konnte man nur die Hände falten und hoffen, daß Gott einmal tun werde, was der Mensch nicht zu tun vermochte.

Dann kam die Schwester, nahm die Fiebertafel fort, zog die Betten ab und sammelte die wenigen Habseligkeiten des Toten. Auch den Schwestern sah Jons zu. Es waren nun nicht mehr die, die er im ersten Kriegsjahr auf den Bahnsteigen gesehen hatte. Wer hier arbeitete, inmitten des Leidens und Sterbens, tat es nicht immer aus Liebe, aber er tat es so, daß die Pflicht wie Liebe erscheinen konnte. Niemand wußte, was sie außerhalb des Lazaretts taten, und wenn auch Gerüchte umliefen, so nahm keiner der Verwundeten Anstoß daran. Sie wußten alle, daß das Leben am stärksten inmitten des Todes brannte.

Jons hatte ihre sanften Bewegungen gern und die flüchtige Berührung ihrer kühlen, sauberen Hände. Sie verstanden nicht sehr viel von dem, was ihn bedrückte und bewegte. Sie hielten ihn für etwas wunderlich, und der prüfende Blick seiner Augen verwirrte sie manchmal. Aber die junge Schwester Marianne blieb doch manchmal an seinem Bett stehen und blickte mit versteckter Sorge auf seine Fiebertafel. »Warten sie nicht in Ihrem Wald auf Sie?« fragte sie.

»Wenige warten, Schwester«, erwiderte er. »Die Toten warten nicht mehr. Aber die Armen warten, das ist schon wahr.«

Am aufmerksamsten aber sah Jons auf die Ärzte, und er hatte lange damit zu tun, zu erkennen, was sie nun eigentlich waren. Mit ihren weißen Mänteln und ohne sie. Vom Stabsarzt wußte er es immer noch nicht genau. Zuerst hatte er gedacht, es sei nur ein verkleideter Soldat, der in den Saal trete, als wollte er einen Appell abnehmen, einen Appell über gesunde und kranke Glieder. Sein Mund war streng, seine Stimme war streng, und die jungen Schwestern zitterten ebenso wie der große Pionier mit den drei Armschüssen. Aber seit Jons seinen Zeigefinger in dem dünnen Gummihandschuh auf seinem Herzen gespürt hatte, wußte er, daß auch das Herz eines Stabsarztes anders aussehen konnte als sein Gesicht.

Er hatte niemals viel Zeit. Der Tisch im Operationssaal war selten leer, aber er blieb nun doch jedesmal eine Weile an Jons' Bett stehen und blickte mit gefalteter Stirn auf die Fiebertafel. »Schmerzen, kleiner Mann?«

»Ein bißchen, Herr Stabsarzt.«

»Werden Sie fortschicken ins Reich, wo die großen Kanonen sind.«

Nein, das wollte Jons nicht. Habe Gott ihm seine Hüfte verrenkt, so werde der Herr Stabsarzt sie schon wieder einrenken. In diesen Dingen seien Stabsärzte stärker als Gott. So meine er wenigstens.

Der Oberarzt grinste, aber der Stabsarzt fragte ihn, ob ihm etwas komisch vorkomme. Er hatte eine fatale Art zu fragen. »Nun, wir wollen sehen, Jeromin«, sagte er zerstreut. »Wir wollen sehen ...«

Und eines Tages kam er zu ungewöhnlicher Zeit allein in den Saal, setzte sich zu Jons auf den Bettrand und sagte leise, daß er ihn noch einmal operieren möchte. Nicht ganz unbedenklich bei seiner Schwäche, aber so gehe es nicht weiter. Da müsse noch etwas sein, was er übersehen haben mußte, und er möchte, daß die kleinen Leute nicht allzulange auf Jons zu warten brauchten. Er sei nun nämlich der Meinung, daß das schade für die kleinen Leute sei, von Jons selbst zu schweigen.

Ganz langsam schob Jons seine dünn gewordene Hand auf der Bettdecke zur Seite und legte sie, entgegen allen militärischen Bräuchen, auf die Hand des Arztes. »Ich danke Ihnen«, sagte er leise. »Auch mein Vater wartet. Er ist lange tot, aber ich denke, daß er wartet. Er hat wenig Freude in seinem Leben gehabt. Sie können mit mir tun, was Sie wollen.«

Als der Arzt sich etwas tiefer über ihn beugte, sah Jons zum erstenmal, daß seine Augen schön und voller Sorgen waren, und er wußte, daß er leben und gesund werden würde.

Als er nach der Operation erwachte, waren diese Augen das erste, was er sah. Sie waren nun mit einem strengen Ausdruck auf ihn gerichtet, als lauschten sie zusammen mit der Hand, die seinen Puls hielt, auf dessen leise Schläge. Aber es leuchtete doch in ihnen auf, als er die rechte Hand aus der Tasche seines Mantels zog und sie vor Jons' Augen öffnete. »Was ist das, kleiner Mann?« fragte er mit seiner hellen Kommandostimme.

Jons sah nur eine grünliche runde Scheibe, und die Farbe schien ihm böse und giftig auszusehen, aber er schüttelte ratlos den Kopf. Der Arzt nahm am Fußende des Bettes den grauen Rock, den Jons getragen hatte, und hielt ihn an den Ärmeln ausgebreitet in die Höhe. »Was fehlt dort, Soldat Jeromin?« fragte er.

Ein Knopf fehle, murmelte Jons, an der Rückseite.

Er habe gefehlt, sagte der Arzt, aber nun fehle er nicht mehr. Er sei so freundlich gewesen, sich für eine Weile in dem Körper dieses jungen Mannes aufgehalten zu haben, an einer durchaus unpassenden Stelle, grün angelaufen vor Wut, und wenn dieser junge Mann nun nicht gesund werde, so wolle er, der Stabsarzt, seinen Rock ausziehen und Feldgeistlicher werden, verstanden?

Jons lächelte, aber die Augen fielen ihm schon wieder zu. Das letzte, was er sah, war die hohe, gerade Gestalt des Arztes und die Gebärde des Triumphes, mit der er den Knopf wie eine Siegesmünze in die Höhe hielt, und er dachte noch in seinen schwerfälligen Gedanken, daß er das auch einmal wollte, so dastehen, ein Sieger über den Tod, und daß es besser sei, ihn in einem weißen Mantel zu besiegen als in einem schwarzen Gewand ihn als eine Schickung Gottes demütig hinzunehmen. »Der Schatten eines großen Felsen ...«, murmelte er, »im trockenen Land ... eine Zuflucht ...«

Dann schlief er ein.

Es war die Wahrheit, daß der Stabsarzt den Tod besiegt hatte. Das Fieber kam nicht mehr wieder, die Wunde heilte, und die Schwestern sagten etwas von einem Streckverband und daß es noch ein langer Weg sei, bis er wieder werde tanzen können. Aber Jons hatte nicht die Absicht zu tanzen. Von allem, was die langen Tage und Nächte nun an Bildern, Hoffnungen und Sorgen vor ihm aufstellten, bedrückte ihn am meisten die Sorge, ob er werde gehen können. Einen Arzt an zwei Krücken hatte er noch nicht gesehen, und wer heilen wollte, konnte doch nicht gut selbst ein Krüppel sein. Auch würde es für die Mutter wohl nicht leicht sein, vier Krücken durch das stille Haus gehen zu hören.

Er fragte den Stabsarzt, aber dieser lachte ihn aus. »Sie werden mit Krücken anfangen und mit Flügeln aufhören, kleiner Mann«, sagte er. »Und selbst wenn Sie Ihr Leben lang an Krücken gingen, was nicht der Fall sein wird, hat ein gewisser Jemand vergessen, daß die kleinen Leute bei ihrem Arzt das Herz schlagen sehen wollen? Und glaubt derselbe Jemand, daß sein Herz auf Krücken schlagen wird?«

Wenn der Herr Stabsarzt es sage, so sei er ganz ruhig, erwiderte Jons. Er wünschte, daß seine Kranken einmal so ruhig unter seinen Worten sein würden wie er selbst eben jetzt.

Auch ihn dürfe man nicht zu sehr verwöhnen, sagte der Arzt. Wer einen Knopf finde, habe noch nicht das Himmelreich gefunden. Aber er möchte gerne wissen, ob Jons sich erinnere, was er nach seiner zweiten Operation gesagt habe. Das habe ihn eine lange Zeit verfolgt wie alles, was halb bekannt und halb unbekannt sei. Von einem Schatten und einem Felsen sei darin die Rede gewesen.

»Als ich klein war«, sagte Jons, »saß ich mit dem Vater am Meiler, und am Abend mußte ich ihm aus dem großen Buch vorlesen. Er hatte kein anderes Buch als dieses. Es war das zweiunddreißigste Kapitel im Propheten Jesaja, und in ihm war von der ›Gerechtigkeit auf dem Acker‹ die Rede, und solange der Vater noch jünger war, hat er gedacht, daß ich dazu ausersehen sei. ›Und Fürsten werden herrschen‹, steht dort, ›das Recht zu handhaben, daß ein jeglicher unter ihnen sein wird wie eine Zuflucht vor dem Wind, und wie ein Schirm vor dem Platzregen, wie die Wasserbäche am dürren Ort, wie der Schatten eines großen Felsen im trockenen Lande.‹ Das war es, und als ich Sie vor mir stehen sah, den Knopf in der erhobenen Hand, wußte ich, daß Sie den Tod besiegt hatten, und da dachte ich wohl an jene Stelle. Ich weiß gar nicht, daß ich es gesagt habe.«

»Vielleicht wäre es nicht das Schlechteste«, sagte der Arzt langsam, »wenn wir ein bißchen mehr in diesen alten Geschichten lesen wollten statt im ›Jenseits von Gut und Böse‹ oder in der ›Morgenröte‹. Ich kann mir denken, daß die kleinen Leute in Ihren Walddörfern mit der ›Morgenröte‹ nicht viel anfangen könnten, wenn Sie an ihren Betten sitzen.«

»Nein«, erwiderte Jons, »die ›Flügel der Morgenröte‹ sind ihnen tröstlicher.«

»Ja, vielleicht uns allen, kleiner Jeromin, denn die Wahrheit ist nicht immer tröstlich. Das wissen Sie wohl so gut wie ich. Nicht alle Leute sind so schneidig wie mein Oberarzt. Er würde selbst einem Erzengel ruhig den Blinddarm herausnehmen und nachher noch eine ordentliche Rechnung ausstellen ... Ja, also morgen wird aufgestanden, kleiner Mann, und ein bißchen auf Krücken gehumpelt, nicht wahr?«

Ja, Mühe und Not, noch einmal gehen zu lernen, Schwindel und ein bißchen Scham, und die grüne Erde betäubend in ihrem so lange nicht gesehenen Glanz. Der große Garten reichte bis an den Strom, und hinter dem Strom standen schon die schweren Sommergewitter über den großen Wäldern. Noch gewaltiger als zu Hause war hier der Horizont, in den zur Linken die vielen Kirchen mit seltsamen Türmen ragten, und der Strom zu seinen Füßen trug viele Flöße, auf denen zur Abendzeit kleine Feuer brannten und fremde Lieder erklangen.

Kein Mangel an Elend in diesem schönen Garten. Auf allen Bänken saß es und blickte gleich ihm mit stillen Augen über den Strom. Ein ganzes Heer von Krüppeln, das der Krieg hinter sich gelassen hatte, die meisten verbittert, viele stumpf, nur wenige still ergeben oder von einem traurigen Stolz erfüllt. Ja, viel würde zu tun sein auf den dreißig Morgen des künftigen Lebens, in den kleinen Dörfern, in die sie nun heimkehren würden, geachtet und geehrt zuerst, und dann eine Gewohnheit, und zuletzt eine Last. Denn in den kleinen Dörfern ist der Körper mehr als in den Städten, das erste und letzte Handwerkszeug, das nötigste und auch das wohlfeilste. Kein Platz für Knechte, die auf der Hausbank sitzen und von ihren Abenteuern erzählen. Zu wenig Publikum für Drehorgel oder Ziehharmonika. Kein Brot fällt mehr vom Himmel wie damals in der Wüste, und ein verlorener Krieg nimmt den Lorbeer auch von der verstümmelten Stirn.

Hier auf den Bänken unter den blühenden Bäumen war kein Zweifel mehr, daß der Krieg verloren werden würde. Jons hatte niemals viel an Sieg oder Niederlage gedacht. Jeder Tag hatte seine eigene Last getragen, einen Graben, der zu nehmen, einen Feind im blauen oder braunen Kleid, der zu schlagen oder aufzuhalten oder zu verfolgen war. Der Krieg war etwas Abstraktes, ein Sammelbegriff, der über dem Ganzen schwebte, aber keiner von ihnen konnte das Ganze sehen. Die Völker der Welt waren nicht mehr das, was früher zwei Horden waren. Er hatte an Nahrung und kleinen Dingen gemerkt, daß Armut und Mangel kamen, aber nun hörte er zum erstenmal, daß nicht nur Armut und Mangel zum Ende drängten.

Er hielt sich nun ganz allein, saß auf seiner Bank über dem Strom und versuchte noch einmal zu erkennen, ob das Schicksal nun nach Recht oder Unrecht gehe. Er sah die Möwen auf das graue Wasser niederstoßen und ihre Beute aufblitzen im flüchtigen Licht, sah sie einander verfolgen und lärmend um die kleine Beute kämpfen, und es war ihm, als hätte die Menschheit noch einen langen Weg vor sich, um mehr zu sein als diese weißen Vögel. Keine Möwe, die den Fisch zuerst ergriffen hatte, setzte sich auf einen der grauen Ufersteine und sprach über das Recht, das ihr zustand. Keine der anderen saß lauschend um sie herum, verneigte sich dankend für die sittliche Belehrung und flog gehorsam davon. Die großen Illusionen hatten erst in der Menschenwelt begonnen, und jeder Hunger der Völker warf sie in das Nichts zurück. Was geblieben war, als das wahrhaft Unsterbliche in der Geschichte, war weder das Recht gewesen noch das Schicksal noch die Vorsehung, sondern allein die Macht, und die Macht war eine dünne Schminke über dem harten Gesicht der Gewalt. Und auch die, die hier zurückgeblieben und zerstört auf den stillen Gartenbänken saßen, würden aufstehen, wenn der Hunger kam, und ihre Krücken gegen diejenigen erheben, die weniger Hunger litten oder von denen sie es wenigstens glaubten oder gern glauben wollten: die Ärzte, die Schwestern, ja selbst die Sanitäter, die doch ihresgleichen waren und sie jeden Morgen an die Sonne hinaustrugen. Es mochte sein, daß der Sieg die Menschen besser machte, obwohl die Geschichte keine Beispiele dafür aufgeschrieben hatte, denn er sah wenige Gesichter, von denen er glauben konnte, daß die Niederlage sie adeln würde.

Er blickte auf seine dünnen und blutlos gewordenen Hände, die um die Krücken gefaltet waren, und wußte, daß sie ihm geblieben waren. Augen und Hände waren geblieben und wohl noch einiges dazu, was er nicht zu missen brauchte. Für sie waren Sieg oder Niederlage gleich. Sie wollten weder mehr Brot oder mehr Land, noch wollten sie ein abstraktes Recht.

Sie wollten nur das Rechte tun, heute ebenso wie an dem Tage, an dem er das graue Kleid zum erstenmal angelegt hatte. Und das Rechte konnte man siegreich oder geschlagen tun. Das Recht konnte untergegangen sein in diesen vier Jahren, durch Lüge oder Gewalt, und am Boden gehalten werden für lange Zeit, aber das Recht war nicht untergegangen. Es war so unberührt geblieben von den Strömen des Blutes und des Hasses, als hätte es die ganze Zeit auf einem andern Stern gewohnt, und man braucht nur seine Hände zu heben, um wieder nach ihm zu greifen. Es entzog sich nicht und verhüllte sich nicht. Es war immer da, ohne Anspruch oder Verheißung. Es brauchte nur getan zu werden. Kein Sieger und kein Besiegter konnten es auslöschen oder aus der Welt hinausdrängen. Wenn Gott war, so war er darin, nicht im Sternbild des Perseus oder über Himmel und Hölle, sondern hier, vor den beiden Händen, die heute noch das helle Holz der Krücken hielten, aber morgen schon den Stock halten würden und übermorgen den geheimnisvollen Becher, mit dem man das Salz der Erde dämpfen sollte.

Er wollte nun fort, den grauen Rock ausziehen und an die Arbeit gehen. Er wollte weder Urlaub noch Erholung. Es war ihm, als warte der Vater bei der Schwelle am Meiler auf ihn.

Aber der Stabsarzt schüttelte den Kopf. Nein, so schnell ginge es nicht. Was Gott ausgerenkt habe, nach seinem Wort, könnten alle Ärzte der Welt nicht so schnell wieder heilen. Und ein bißchen möchte er doch noch zusehen, wie der ehrenreiche Soldat Jeromin nun über diese gesegnete Erde sich fortbewegen werde. Einen Mann, in dem man einen Knopf gefunden habe, gebe man ungern in andere Hände.

Nun, er bewegte sich kümmerlich, der ehrenreiche Soldat, und der Herbst war gekommen, ehe der Stabsarzt sagte, daß man nun so gut wie gar nichts mehr merke und daß er auf diesen Gang so stolz sei wie eine Mutter auf den ersten Gang ihres Kindes. Also in Gottes Namen könne er sich nun auf und davon machen, um die Gerechtigkeit bei den Haaren zu ergreifen und sie auf den etwas beschädigten Acker zu schleifen. Er fürchte nur, es werde das sein, was die Menschen einen Gottesacker nennten. Der Vorhang sei im Fallen und das Stück sei aus, und vorn auf der Bühne, von allen Rampenlichtern angestrahlt, liege der Leichnam eben dieser Gerechtigkeit.

Es sei ihm, sagte Jons leise, als ob das nicht so wichtig sei, wie der Herr Stabsarzt es nehme, denn er sei der Meinung, daß das Rechte immer noch am Leben geblieben sei, und dieses zu tun, sei Anlaß und Gelegenheit genug.

»Ich habe schon lange gedacht, Jons«, sagte der Arzt, »daß das alte Buch der Bücher wieder einmal zu Ehren kommen sollte, wenn auch nicht gerade als ein Handbuch für Medizin. Und ich denke, wenn Sie soweit sind, daß der erste Kranke in Ihrem Eulenwinkel bei Ihnen anklopft, um das Wasser des Lebens zu verlangen, und Sie die erste richtige Diagnose gestellt und ihm das erste Rezept ausgeschrieben haben, dann sollten Sie Ihre Sprechstunde für diesen Tag schließen und ein bißchen zu Ihrem erloschenen Meiler hinausgehen und ein bißchen in dem Buch lesen, das Ihrem Vater das Leben leichter gemacht hat. Und es könnte schon sein, daß ich einmal nach vielen Jahren dort für ein paar Tage einkehre, um zu hören, was Sie von den Wasserbächen am dürren Ort zu erzählen haben.«

Als Jons im Zuge saß, den Stock, den er immer noch brauchte, zwischen den Knien, und über den Strom nach dem großen Garten zurückblickte, zwischen dessen schon kahlen Bäumen der Nebel hing, mußte er anders an seinen Krieg zurückdenken, als diejenigen es bitter und fluchend mit dem ihrigen taten, die bei ihm im Abteil saßen. Wer geglüht werden wollte, durfte auch dem Kriege nicht ausweichen, und es konnte wohl sein, daß auch die Liebe geglüht werden mußte, wenn sie alle diejenigen einmal wärmen sollte, zu denen er einmal gehen würde. Der Krieg hatte ihm soviel genommen wie den andern auch und wahrscheinlich ein gut Teil mehr, aber er wollte nicht vergessen, daß er auch ein großer Geber gewesen war. Ein strenger und schmerzhafter Geber, aber die Geschenke der Strenge und des Schmerzes bewahrte man lange in der Hand. Und selbst die Leben, die er genommen hatte, waren nicht unwiederbringlich verloren. Ja selbst wenn sie wie Steine in ein unergründliches Wasser gesunken waren, so hatten die Wellenkreise der Steine ihn berührt, sie hatten sein Blut bewegt, und das Blut würde sie niemals mehr verlieren.

Noch einmal, während die nebligen, tropfenden Wälder zu beiden Seiten des Zuges vorüberglitten, sah er sie auftauchen und wieder versinken, die stillen Gesichter, die einen besseren Frieden gefunden hatten, als er nun die Lebenden erwartete. Eine lange Reihe, Gesicht an Gesicht, im Nebel zu Hause und leise wieder in ihn zurücktretend. Manche immer noch leuchtend wie das Gesicht des Vaters, manche sorgenvoll wie das Jumbos, manche lächelnd wie das des Leutnants, und manche mit dem kaum verhüllten Spott der großen Soldaten wie das des Korporals. Und neben ihnen alle die anderen, kaum gekannt, bloße Nebenmänner auf der großen Tenne, auf die der Tod die leeren Garben warf.

Und doch würde das Leben stärker sein als der Tod. In zehn, in zwanzig Jahren würde es das Blut getrocknet haben, und wie ein böser Traum würden die Jahre der Vernichtung immer weiter zurückweichen, wie nun die dunklen Wälder zurückwichen und die Äcker und Weiden sich vor seinen Blicken ausbreiteten. Hagel war den Wald hinabgegangen, aber noch war von keinem Hagel erzählt worden, der einen Wald vernichtet hätte.

»Dir haben sie wohl zum Generalstab versetzt, Kamerad, daß du so blanke Augen hast, was?« fragte der Soldat mit dem leeren Rockärmel, der ihm gegenübersaß.

Aber Jons schüttelte den Kopf. Er habe nur an die Wasserbäche am dürren Ort gedacht, erwiderte er, und die anderen sahen ihn mit verstohlenem Mitleid an.


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