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XVII

Es war nicht viel anders in der Stadt als sonst. Weniger Schüler und Studenten und mehr Soldaten. Kaiserbilder in den Schaufenstern und Extrablätter auf den Straßen. Mehr frohe und mehr ernste Gesichter. Aber die elektrischen Bahnen fuhren wie sonst, die Sonne schien, der Strom floß dunkel und trübe zwischen den schweren Gemüsekähnen nach Westen.

Die Pension war leerer geworden. Old Firehand und zwei seiner Kameraden hatten ihre mühsame Laufbahn verlassen und waren Soldaten geworden. Die schwarzen Schwestern glitten wie Schatten durch die Räume und wiederholten mit Erbitterung, daß alle Kaufleute erschossen werden müßten. Der Buchfink saß am Fenster und sang leise vor sich hin.

Jons nahm seine Bücher und Hefte in die Hand und legte sie wieder auf ihren Platz zurück. Das Fragliche seiner Schulweisheit kam ihm noch klarer zum Bewußtsein als sonst, und er stand eine Weile ohne Gedanken und hörte auf eine ferne Marschmusik. Im Augenblick war ihm der Krieg nicht viel mehr als die Gestalt seines Vaters, wie sie, immer kleiner werdend, unter dem hellen Mond den Weg zur Kaserne hinunterging, und das Bild seines Dorfes, wie es dort in der Ferne verlassen und wartend lag, die roten Feuer am Horizont und das brütende Schweigen der Wälder vor seinen Toren. Eine dumpfe, schwere Einsamkeit überfiel ihn, und er saß auf seinem Bettrand, den Kopf in die Hände gestützt, und bedachte, daß derjenige verloren sei, der in den Zeiten der Gefahr und des Todes sich von den Seinigen trenne, um in der Fremde ein losgelöstes und unfruchtbares Leben im Geiste zu führen, da doch niemand wußte, was aus diesem Geist werden würde und ob er nicht nur eine Spielerei eines müden und entarteten Zeitalters gewesen war.

Er fragte nach Jumbo und erfuhr, daß er Soldat war, aber am Abend immer heimkomme, weil sie in der Kaserne keinen Platz für die vielen Freiwilligen hätten. Er räumte seine Wäsche ein, dachte an alles, was der Vater zum Abschied gesagt hatte, besonders aber an seine Worte über die Mutter, und ging wieder auf die Straße hinaus, ziellos und unglücklich, bis er endlich an der Wohnungstür von Charlemagne auf die Klingel drückte.

Aber auch Charlemagne war nicht da. Er war Bahnhofskommandant in einer kleinen Stadt, und seine Frau sah mit sorgenvollen Augen an Jons vorbei in das dämmernde Treppenhaus. Eine der Töchter kam in Schwesterntracht zu ihnen heraus, sagte, sie hätten ihn schon in Sibirien geglaubt, und der Direktor werde Augen machen, wenn er ihn wiedersehe.

Ach ja, der Direktor ... wie es denn auf der Schule sei?

Sie lächelte ... »Groß, ganz groß, Jons«, sagte sie. »Die meisten sind fort, und die nicht fort sind, kommen sich alle wie Leonidas vor.«

Das könne er nun von sich nicht gerade sagen, meinte Jons, aber er wünschte, er wäre an den Thermopylen statt bei den Schwestern Holstein. Und bedrückt ging er wieder fort.

Erst Jumbos Beredsamkeit half ihm etwas über den schweren Anfang hinweg. Jumbo trug eine blaue, verschlissene Uniform, eine schirmlose Mütze und ein Koppel ohne Seitengewehr. »Bist du da, Mönchlein?« rief er an der Tür. »Nun erst kann ich in Frieden in die Grube fahren. Dachte, sie hätten dich erwischt und du würdest am Ural oder in Sibirien die Welt bewegen.«

Er war von einer lauten, fast lärmenden Heiterkeit, aber seine Augen hinter der großen, hell umrandeten Brille waren ernst und sorgenvoll wie früher. »Laß uns zusammen den Hahn schlachten, Mönchlein«, sagte er, »den sie mir von Hause geschickt haben. Auch die Hähne ergreift der Krieg, wie er die Menschen ergreift. Die Alma mater ist versunken, und der ›Vater aller Dinge‹ hat das Heft in die Hand genommen.«

Jons mußte erzählen, und Jumbo nickte. »Dort unten wird noch manches geschehen«, sagte er. »Nicht an die Güter hänge dein Herz, Mönchlein. Du wirst nicht viel von ihnen wiedersehen.«

Ja, er sei natürlich Infanterist geworden. Für Gastwirtssöhne zieme sich das am besten, und nach der Felddienstordnung winke der Infanterie bekanntlich auch der höchste Ruhm. Nun ja, es sei nirgends ganz so, wie man es sich gedacht habe. Der Oberst habe nicht mit ausgebreiteten Armen auf dem Kasernenhof gestanden, um jeden Kriegsfreiwilligen einzeln an sein Herz zu ziehen. Er habe sogar etwas von einem »Sauhaufen« gemurmelt, und die Unteroffiziere seien noch deutlicher geworden. Aber nur Kinder könnten sich einbilden, daß der Krieg eine lyrische Angelegenheit sei, und Kinder hätten sie leider eine Menge dabei.

»Mein Vater und Herr von Balk meinen, daß ich zuerst mein Abitur machen soll«, sagte Jons bedrückt.

»Ja, was denn sonst, mein Lieber?« fragte Jumbo erstaunt und nahm die kurze Pfeife aus dem Mund. »Denkst du vielleicht, daß die Welt in anderthalb Jahren schon Friedenskränze flechten wird? Sie wird ganz andere Kränze flechten, mein Lieber, ganz andere, darauf kannst du dich verlassen, und Eintrittskarten werden auch nach anderthalb Jahren noch ausgegeben werden. So billig, daß du dich nicht anzustellen brauchst. Nein, Mönchlein, keine unnötige Hast. Auch der Geist muß am Leben bleiben, nicht nur die Bezirkskommandos.«

Was er denn überhaupt denke, fragte Jons.

Was er denke? Ja, da gehe es ihm so wie dem schwäbischen Dichter. Er »denke dies und denke das«. Und in der Hauptsache versuche er, gar nicht zu denken. Beim Militär werde übrigens erst vom Unteroffizier aufwärts gedacht. Aber eines habe er schon gemerkt, worin er von den anderen unterschieden sei, und das mache ihm manchmal Sorgen: er sei nämlich kein Medium. Verstanden? Er könne sich nicht hypnotisieren lassen. Die Wissenschaft habe längst festgestellt, daß es so etwas gebe, aber von sich selbst habe er es jetzt erst erfahren. Damit gehe ihm eine große Hilfe verloren, die die anderen alle hätten, und während die anderen unter jedem Arm eine starke Hand hätten, die sie stütze und trage, müsse er ganz allein und ungestützt seinen Weg machen.

»Und was für eine Hilfe haben die anderen?« fragte Jons.

»Oh ... so ... die allgemeine Meinung, weißt du. Reden und Ansprachen, Zeitungen und Aufrufe. Die Volksseele eben. Aber mit mir ist das so, daß ich kein Brennglas bin, das alle Strahlen sammelt, sondern ein Prisma, das sie alle zerstreut, verstehst du? Ich will das gar nicht, aber das Licht zerlegt sich eben vor meinen Augen in sieben Farben. Die Reden zerlegen sich, die Zeitungen, sogar der Herr Oberst, und das Zerlegte sieht immer anders aus als die Summe.

Und dabei ist es gar nicht wahr, daß ich nur aus Geist bestehe. Ich fühle eine ganze Menge von Dingen, sogar solche, die andere nicht fühlen. Aber ich fühle sie anders, unabhängig, ohne Rausch. Ich lasse niemals andere für mich denken und fühlen, das ist die Sache. Ich bin allein, Mönchlein, sehr allein.«

Seine Heiterkeit war nun verschwunden, und hinter seinen runden Brillengläsern waren seine Augen so fern wie in einem Taucherhelm.

»Und sagen kann man nichts, Jumbo?«

»Ach, du lieber Gott! Laß du nur deine Gerechtigkeit auf dem Acker, Mönchlein, hörst du? Du kannst dich auch vor eine Schnellzugslokomotive werfen, das wäre ganz dasselbe. Denken kannst du für dich allein, und es ist ein Segen, daß der liebe Gott die Gedanken unsichtbar gemacht hat. Aber aussehen und handeln mußt du wie die andern. Das würde ein schöner Krieg werden, wenn dein griechischer Direktor in der Front seine Nase streichen und seine perikleischen Ideen entwickeln wollte.«

»Und was ist am schlimmsten, Jumbo?«

»Am schlimmsten? Ja, wenn du bedenkst, daß auch eine Sokratesbüste von einer Scheuerfrau abgewischt wird, so ist es eigentlich gar nicht so schlimm, daß auch der Gott des Krieges von vielen Händen angefaßt wird. Manche Unteroffiziere lassen einen armen, halb blöden Straßenkehrer jeden Abend im Hemd Griffe kloppen und denken wahrscheinlich, daß der Krieg ohne sie verloren wird. Aber das sind so Kleinigkeiten, weißt du. Das Zeitalter des Achill ist eben vorbei, und wer weiß, ob er seinen Lanzenträger nicht auch schikaniert hat. Die Dichter haben die Welt verdorben, Mönchlein. Sie haben eine goldene Stadt gebaut und die Treppen vergessen. Und die Welt hat viele Treppen, zumal im Kriege.«

»Aber das Schlimmste, Jumbo?«

»Das Schlimmste ist, Mönchlein«, erwiderte Jumbo leise, »das Menschliche und ganz und gar Erbärmliche. Die Lüftung der Maske. Die Entblößung bis auf die Knochen ... aber davon wollen wir lieber nicht reden.«

»Und wann wirst du hinauskommen?«

»Ich denke, bald. Ich hoffe, bald. Wenn du aufgehört hast, etwas Eigenes zu haben und zu sein, willst du wenigstens deinen eigenen Tod haben. Kein eigenes Grab, aber einen eigenen Tod, und das hat man nämlich draußen.«

»Aber weshalb denkst du an den Tod, Jumbo?«

»Ach, Mönchlein, nur die Kinder denken an das Leben, wenn sie in den Krieg ziehen. Wenn du glaubst, du könntest im Kriege würfeln, dann weißt du nur wenig von ihm. Würfeln kannst du mit deinem Direktor, aber nicht mit dem Tod. Auch Michael hat nicht gewürfelt.«

So begann für Jons die lange Zeit, in der er nur ein schweigender Zuschauer zu sein hatte, der auf seine Stunde wartete.

In der Schule war es ihm, als seien inzwischen fremde Menschen eingezogen und die alten Gesichter seien fort. Die oberen Klassen waren halb geleert, und statt der vertrauten Lehrer waren nun andere da, gebrechliche Greise, die aus der Stille ihres Lebensabends noch einmal aufgetaucht waren wie Wrackstücke nach einem Sturm. Sie hatten es gut gemeint, wie jeder es gut zu meinen schien in dieser Zeit, aber sie erkannten nicht, daß der Krieg nicht nur eine Sache der Soldaten war. Der Krieg hob den Frieden auf, nicht nur bei den Siebzehnjährigen, sondern auch bei den viel jüngeren, und bei der schroffen Verwandlung, die er in den Seelen erzeugte, gab es keine Brücken mehr zwischen der Welt, die nach Tat, Ruhm und Abenteuer verlangte, und derjenigen, die über Tat, Ruhm und Abenteuer mit der Weisheit des Alters dozierte, und nicht einmal immer mit Weisheit. Es war, als ahnten die alten Lehrer, daß für das Alter keine gute Zeit kommen würde, soweit es eben nichts als Alter war, und sie klammerten sich mit Zorn und Leidenschaft an die Stühle, die doch schon unter ihnen zu wanken begannen. Bei jeder Widersetzlichkeit sprachen sie vom »Geist von Tannenberg«, aber schon die Tertianer grinsten dazu, weil ihrem kindlichen Sinn eine Schlacht keine Sache des Geistes war und weil sie in ihrer jungen Erbarmungslosigkeit ihre alten Bußprediger sich nicht anders als höchstens auf einem Kommißbrotwagen vorstellen konnten. Es war schwer, das Blut zu bändigen, das nach der Tat verlangte, nach wilder und beglänzter Tat, und dem man statt dessen nichts zu geben hatte als unregelmäßige Verben, Gleichungen und Reden, in denen das erste echte Gefühl sich immer mehr zu einer billigen Münze abgriff und abschleifte. Es zeigte sich bald, daß der Krieg nicht nur ein großer Schenkender war, sondern auch ein ungeheurer und rücksichtsloser Verbraucher, der nicht nur Menschen und Dinge nahm, sondern auch Meinungen, Ordnungen und unverbrüchlich erscheinende Gesetze.

Jons, mit seinen stillen und unbestechlichen Waldaugen, sah dies alles früher als die anderen, und vieles sah er früher als seine Lehrer. Er war nun ganz allein und für lange Wochen selbst von seinem Dorfe und allen Nachrichten abgetrennt. Er gehe wohl nicht in den Krieg, hatte der Direktor ihn am Anfange gefragt, und Jons hatte, ohne die kalte Feindschaft in seinem Blick zu verbergen, geantwortet, daß dieser Zeitpunkt von denen bestimmt werde, die seine Erzieher wären und allein darüber zu urteilen hätten. Und wer diese Erzieher seien? Das seien sein Vater, der Herr Stilling und der Herr von Balk. »Soso ...«, hatte der Direktor gesagt und seine Nase gestreichelt.

Im Anfang wurde Jons noch von einem blinden Wunsch getrieben, nützlich zu sein und etwas zu tun. Er reichte Erfrischungen auf den Bahnhöfen, und überall, wo in den Zeitungen junge, freiwillige Helfer gesucht wurden, war er zur Stelle. Aber auch dies ließ er bald. Er sah, wie die jungen Schwestern in Seidenstrümpfen das besser konnten als er und daß sie noch andere Dinge konnten, zu denen er keine Eignung hatte. Seine scharfen Augen sahen auch durch die Schleier der Barmherzigkeit hindurch, und es war ihm, als habe er die anderthalb Jahre, die vor ihm lagen, dazu anzuwenden, als ein gerüsteter Mensch in die Entscheidung zu gehen. Nur dazu und zu nichts anderem. Er begann die russische Sprache zu lernen und arbeitete viele Abende bei dem Bruder des alten Schusters, der eine kleine Werkstätte für Kraftwagen hatte. Auch fand er ein unerwartetes Vergnügen darin, den schwarzen Schwestern bei der Beschaffung von Lebensmitteln zu helfen. Auch für ihn, nicht nur für das Dorf, stand die Gestalt des toten Pfarrers auf dem leeren Kirchenhügel und sah zu, wie die Menschen nun mit dem großen Tod fertig wurden, nachdem er schon von dem kleinen aus seiner Bahn geschleudert worden war.

»Sie sind ein guter Mensch, Jons«, sagte die älteste der Schwestern zu ihm, aber er schüttelte den Kopf. »Soll man immer erst nach einem Examen anfangen, den Menschen zu helfen?« fragte er. »Und immer erst, wenn man Gehalt dafür bekommt?«

Auch begann er nun damit, aus Jumbos Büchern sich medizinische Werke hervorzusuchen und in ihnen zu lesen. Zuerst geschah es ohne Plan und auch ohne besondere Neigung, weil die Zurückführung des lebendigen Menschen auf ein Staatengebilde von Zellen ihn befremdete und enttäuschte. Aber dann, zumal unter Jumbos Mikroskop, tauchten doch Wunder auf Wunder auf, die großen Geheimnisse erhoben sich, nicht die des Wortes oder der Sprachen oder der ganzen grauen Vergangenheit, sondern die des lebendigen Lebens, das über die Griechen oder Perser weit zurückreichte bis zu dem kalten Glanz der Sterne und der Finsternis, die »über den Wassern« war. Und nun saß er wie ein wahrer Mönch in seiner Zelle, kein Faust, der Herr sein wollte über alle Kreatur, sondern ein Dienender, der Wort für Wort und Seite für Seite des großen Lebensbuches in sich hineinnahm, und ganz in der Ferne, selbst hinter den grauen Dächern von Sowirog, tauchte etwas auf, das noch nicht zu erkennen war, aber das ebenso groß und ebenso schön war wie des Vaters Wunsch, die Welt zu bewegen.

So ging der erste Winter ihm dahin, und selbst der Anblick des zerstörten Dorfes in den Weihnachtsferien traf ihn nicht so tief, wie er es nach der ersten Nachricht erwartet hatte. Nach allem Zerstören würde das Heilen und Verbinden kommen, und auch seinen Händen würde das Schicksal und die Zeit zu tun geben, wenn er sie unversehrt aus dem Kriege heim brächte.

Sie hatten sich um die stehengebliebenen Schornsteine ein kleines Haus gebaut. Sie waren noch enger zusammengerückt, aber sie waren nicht zu Boden geschlagen worden. Sie wußten, daß man Dörfer wieder aufbauen konnte und daß nur das Leben etwas war, was nicht wiederkam, wenn es sich verströmt hatte. Die ersten Toten und Vermißten waren angezeigt worden, viele für ein so kleines Dorf, und unter den Vermißten war der Grenadier Martin Gollimbeck.

Maria wohnte noch im Schulhaus, wo Herr Stilling wieder die Kinder des Dorfes lehrte, und dort fand sie Jons an dem Fenster, von dem man das Moor und die »Arme Sünde« und den Weg sehen konnte, der unter den schneebehangenen Fichten wie ein Gewölbe verschwand. Sie trug ihr schwarzes Konfirmationskleid, etwas ausgelassen in den Nähten, und Jons sah, daß sie ein Kind erwartete. Sie blickte auf den weißen Weg hinaus, der so leer und verlassen und einsam war, als führe er vom Dorfe Sowirog geradeaus nach Sibirien, aber in den Händen hielt sie ihr Nähzeug, und sie weinte auch nicht, als sie Jons wiedersah.

»Siehst du, es waren nur drei Monate«, sagte sie, »und in drei Monaten wachsen zwei fremde Leben noch nicht zusammen. Aber was mich am meisten bedrückt, ist, daß er sich ja nicht helfen können wird. Er kann sich ja nicht einmal einen Knopf annähen. Und wie soll er ein ganzes fremdes Land bestehen?«

»Glaubst du denn, Schwester, daß er ...«

»Ja, natürlich glaube ich, daß er lebt, Jons. Sicherlich hatte er sein Gewehr nicht geladen gehabt, als sie über ihn kamen, oder er hatte die Sicherung nicht zurückgelegt, oder es ist ihm zwischen die Beine gekommen. Er hat mir geschrieben, daß es immer so bei ihm war. Er war der einzige, der bei der letzten Besichtigung das Gewehr fallen ließ. Er war so eifrig bei allen Dingen, daß es ihm gleich über die Schulter nach hinten flog, als sie es übernehmen sollten. Der General hat ihn gefragt, ob er aus einem Zirkus sei, wo sie Flaschen in die Höhe würfen, aber er hat gesagt, er sei nur Volksschullehrer. ›Na, Gott sei Ihren Kindern gnädig!‹ hat der General gemeint. So war er, und so ist es ihm wohl auch draußen gegangen. Ich denke immer, daß er dort plötzlich erscheinen wird, an der »Armen Sünde«, und sicherlich wird er sich ein Ohr angefroren haben ...«

Sie seufzte und begann wieder ihre Nadel durch den weißen Stoff zu ziehen.

›Wie seltsam ein Baum sich verzweigen kann‹, dachte Jons und sah auf seine stille Schwester, die nicht an den Tod glaubte.

Ob sie, wenn es nun noch lange dauere, wieder bei der Mutter leben werde?

»Nein Jons«, sagte sie, »das kann ich nicht. Für sie war Martin eigentlich niemals mehr als ein Bettler, und ich denke, daß das Kind in mir erfrieren würde, wenn sie es ansieht. Stilling hat gesagt, daß ich bei ihm eine Kammer bekomme, und auch in die »Arme Sünde« kann ich ziehen, wenn ich will. Manchmal denke ich, daß der kleine Jons das einzige sein wird, was von uns allen übrigbleiben wird ...«

»Es würde genug sein, Schwester«, meinte Jons, »aber wir wollen nicht so ganz wenig auf uns vertrauen.«

Sie gewöhnten sich daran, daß die Mutter so still war, als habe sie die Sprache verloren. Sie lächelte nie, sie war nie mehr zornig, aber sie saß nun länger am Herdfeuer als sonst und blickte mit zusammengelegten Händen in die Flamme. Es sah immer so aus, als fielen zwischen ihren Fingern die Stücke eines Spielzeugs auf die Erde. Sie fragte nicht, was Jons tue oder tun werde, und nur manchmal, wenn jemand aus dem Dorf kam und von einem neuen Sieg erzählte, preßte sie ihre Lippen fester zusammen und sah durch den Redenden hindurch auf die Bretterwand, als erblicke sie dort eine Hand, die andere Zeichen schrieb als die des Sieges.

Für Jons war es schwer, und manchmal war ihm, als lebe er in einer gefrorenen Welt, wo bei jeder unvorsichtigen Bewegung ein Stück des Lebens abbrechen und auf den hellen Dielenbrettern zerspringen könnte. Er bangte sich sehr nach seinem Vater.

»Hier ist es kalt«, schrieb Jakob, »und wir frieren. Aber die andern frieren auch. Der Krieg macht alle gleich. Am Meiler liegt trockenes Holz. Fahre es an, solange du da bist, damit die Mutter es warm hat. Wer Trauer trägt, friert leicht. Ich möchte gern meine Bibel da haben, aber sie ist zu schwer, und die andern würden lachen. Sie halten hier nicht viel von der Bibel. Die Zeit wird erst kommen, wo sie viel von ihr halten werden. Mein Hauptmann ist ein Oberförster, und er spricht gern mit mir vom Wald. Wenn er abends auf dem Grabenrand steht, sieht er aus wie unser toter Pfarrer. Er hält uns zusammen, sonst denkt jeder nur an sich. Es ist viel Glut nötig, damit ein Mensch Kohle wird, und noch mehr, damit ein Volk es wird. Die meisten hier haben schon ausgeglüht, und es war gerade nur soviel da, wie du brauchst, um den Tabak auf einer Pfeife anzuzünden. Ich möchte gern wieder am Meiler sitzen, aber da es nicht sein kann, denke ich wenig daran. Der Oberförster sagt, daß ich wunderlich bin wie alle Leute aus dem tiefen Wald, aber daß er gern mit solchen Leuten Krieg führen würde und daß er nur ruhig schläft, wenn ich auf Horchposten stehe. Du siehst, daß auch Oberförster wunderlich reden können. Du hast nun noch über ein Jahr Zeit. Tue recht in diesem Jahr. Der Roggen braucht nicht einmal solange, um Ähren zu geben.«

Jons fuhr das Holz an und machte es klein. Es blieb ihm nicht viel Zeit zu schweren Gedanken, doch schrieb er zweimal in der Woche an seinen Vater. Er sorgte auch dafür, daß trockenes Holz in die »Arme Sünde« kam, damit der kleine Jons nicht zu frieren brauchte, und er dachte viel darüber nach, wie alles werden würde, wenn er selbst in den Krieg ginge. Die »Gerechtigkeit auf dem Acker« verschwand langsam vor seinen ernsten Augen. Das Brot in der Hand und das Feuer im Herd schienen ihm nun wichtiger als alle Gerechtigkeit, aber er sah nicht ganz, daß sie ja ein Teil dieser Gerechtigkeit waren, wie sie es vor tausend Jahren schon gewesen waren. Er war noch nicht alt genug, um zu wissen, daß alle großen Ideen aus kleinen Wirklichkeiten entspringen und daß derjenige, der den Armen ein Stück Brot gab, nicht weniger war als der, der aus vielen Stücken Brot die Idee der Gerechtigkeit zusammensetzte. Er wollte noch das Unendliche, und erst viel später sollte er erkennen, daß das Endliche zu tun nicht geringer war als das Unendliche zu träumen. Ja, daß es für alle Sowirogs der Erde das Wichtigere war.

Er gab nun viele Nachhilfestunden, und es war auf der ganzen Schule bekannt, daß er von allen jungen Lehrern dieser Art der beste und erfolgreichste war. Zum erstenmal verwandte er einen Teil des Geldes, um sich einen Wunsch zu erfüllen, auch wenn er an sich selbst am wenigsten dabei dachte. Die älteste der schwarzen Schwestern half ihm dabei, und zu Beginn des neuen Jahres zog er in Jumbos Zimmer ein.

Jumbo war kurz vor Weihnachten hinausgekommen, und Jons hatte ihn zur Bahn begleitet. Es war ein kalter Abend ohne Sterne gewesen, mit körnigem Schnee, der wie Reif auf den graubezogenen Helmen gelegen hatte. Die Regimentskapelle hatte gespielt, und die harten Rhythmen des Marsches hatten von den grauen Häusern widergeklungen. Die Menschen jubelten schon nicht mehr. Sie standen still und ernst auf den Straßen und blickten schweigend auf die jungen Gesichter unter den Helmen und auf die gebeugten Schultern unter dem schweren Gepäck.

Auch Jumbo war gebeugt gegangen, aber hinter der schneebedeckten Brille waren seine Augen ruhig wie immer gewesen. »Ein buntes Leben, Mönchlein«, hatte er gesagt, »und wer von uns hätte sich träumen lassen, daß er einmal in solchen Stiefeln zum Tanz gehen würde? Aber ich gehe gern hinaus. Sag das meinem Vater, wenn du ihn einmal sehen solltest. Wir haben alle so viel gelernt und so wenig erfahren. Eine neue Fakultät haben sie nun auf der Weltuniversität aufgemacht, und du siehst, wie die Hörer sich zu ihr drängen. Ein neuer Dekan, Mönchlein, und noch niemand hat ihn gesehen. Wollen sehen, wie es mit seinen Prüfungen bestellt ist.«

Er hatte noch vor der Tür seines Abteils gestanden, ein ganz veränderter Jumbo, grau und ernst, ein Mann, der morgen schon den Tod aus seinem Gewehr absenden konnte. Aber ohne Heldenallüren, ohne letzte bedeutende Worte, der schlichte Sohn eines schlichten Vaters. »Ich möchte gern, daß du meine Bude bekommst, Mönchlein«, hatte er gesagt. »Sieh zu, daß es geht. Ich möchte nicht, daß ein schlägerrasselnder Teutone dort einzieht und Heldenbilder an die Wände nagelt. Ja, und noch etwas, Mönchlein: vergiß doch nie, was der Herr von Balk von dem Mist auf den dreißig Morgen gesagt hat, hörst du? Ich habe dir nun ein paar Jahre zugesehen, von deinem Kampf mit dem Bäckerjungen an. Ich verstehe ja noch nicht allzuviel von Menschen und ihren Wegen, aber es scheint mir, daß du dich am meisten vor etwas hüten mußt, was ich »das Unbedingte« nenne, verstehst du? Das von einer Idee Ausgehen und die Überzeugung, wir seien auf der Welt, um Ideen zu verwirklichen. Ich glaube nämlich nicht, daß wir dazu da sind, Mönchlein. Ich glaube, daß wir dazu da sind, um unser Tagewerk zu erfüllen und es so zu erfüllen, daß wir von seinem Ertrag denen etwas abgeben können, die ein schwereres und ärmeres Tagewerk haben. Siehst du, ich meine, wer Erdmuthe dazu verhilft, daß sie nicht den ganzen Tag am Webstuhl zu sitzen braucht, sondern eine Stunde mit dem kleinen Jons spielen kann, der hilft ebensoviel zu der großen Gerechtigkeit wie der, der ein großes Buch über sie schreibt. Und vielleicht hilft er sogar mehr dazu. Er predigt nicht, wie die Pfarrer tun, und er scheidet nicht, wie die Richter tun. Sondern er tut etwas. Er gibt Brot, Mönchlein, und Brot gibt man nicht, wenn man ein Müller oder ein Bäcker ist. Die Müller und Bäcker verdienen nur am Brot, sie geben es nicht. Denke immer daran, Mönchlein, daß nur kranke Leute von Ideen satt werden. Die einfachen Dinge sind immer größer als die komplizierten, und Nähren, Tränken und Heilen sind sehr große Dinge, auch heute noch. Verstehst du mich?«

Ja, Jons verstand ihn.

»Die kleinen armen Dörfer, Mönchlein«, sagte Jumbo, als er seine kurze Pfeife gestopft hatte, »sie sind ein edles Arbeitsfeld für unsereinen. Dein Sowirog und alle Sowirogs auf der Erde. Sie sind nicht so großartig wie die Städte, und ein ›Geburtshelfer‹ ist ein viel einfacherer Mann als ein großer Frauenarzt. Aber es ist ein schöner Name, ein alter Name, der fast bis ans Paradies zurückreicht, und ich wünschte, ich könnte ihn einmal tragen. Und wer da weiß, daß wir jeden Tag neu geboren werden, der wird sich nicht darüber zu beklagen brauchen, daß er zu wenig zu tun habe. Weißt du, wieviel auf dieser Erde zu tun ist, Mönchlein, damit wir nicht an jedem Morgen und Abend vor Scham zu erröten haben?«

Ja, Jons glaubte es zu ahnen.

Dann blies der Hornist das Signal, und Jumbo gab ihm die Hand und kletterte in den Wagen. Für einen Augenblick erschien sein Gesicht noch einmal im geöffneten Fenster, zwischen zwei jungen Schülergesichtern, und hinter seiner großen, runden Brille blickten seine Augen mit einer tiefen Eindringlichkeit auf Jons hinab. Es war, als sei Jons der Fortgehende und er der Bleibende. Es war aus ihnen abzulesen, daß ihm ganz gleichgültig war, wohin sie nun fuhren und wo sie ausgeladen wurden, und daß ihm nur wichtig war, ob er alles gesagt hätte, was zu sagen war.

Aber was half schon das Sagen? Seit fast zweitausend Jahren sagten sie von allen Kanzeln und Thronen und Lehrstühlen die wunderbarsten Dinge, aber die Hungrigen waren nicht satt davon geworden, und ein Krieg nach dem andern ging über die flammende Erde. Und diesem, der dort unten stand, mit den ernsten Augen unter der breiten Stirn, brauchte man nichts zu sagen. Man brauchte ihm nur zuzurufen: »Komm, Bruder! Komm mit und hilf den Armen!« Und er würde gehen, wie von einer Feder getrieben und von Flügeln getragen, über alle Hügel und Täler hinweg, ein Diener alles Edlen, ein Kind des Meilers, wo Kohle gebrannt wurde und wo man das alte Buch las, in dem von dem Salz der Erde gesprochen wurde und von dem Weinberg des Herrn.

»Dreißig Morgen, Jons!« rief er, als die Räder sich zu drehen begannen. »Nicht die ganze Welt, sondern dreißig Morgen, hörst du?«

Und Jons winkte mit der Hand und lief neben dem Zuge her, sein Gesicht nun von Schmerz bewegt und fast entstellt, einem plötzlichen, wilden und schrecklichen Schmerz.

Er lebte nun in Jumbos Zimmer, und manchmal war ihm, als habe er schon ein Vermächtnis angetreten. Hinter dem langen, dunklen Gang hörte er das Leben der Pension nur wie ein fernes Wälderrauschen, und sein eigenes Leben kam ihm wie ein Traum vor, immer dicht vor der Morgenstunde des Erwachens. Jumbos Bücher blickten ernst auf ihn hernieder, und sobald er sie in die Hand nahm, glaubte er die Stimme des Fortgegangenen zu hören, die ihn zur Beschränkung mahnte. Nein, nie würde er vergessen, wieviel gute, stille Wegweiser an seiner Morgenzeit gestanden hatten.

Zweimal in der Woche, wenn es dunkel geworden war, holte er von seinem Freunde, dem Schuster, den alten, wackeligen Kinderwagen, den er aus seinem Keller heraufgeholt und grau angestrichen hatte, und ging damit zu den Holz- und Kohlenlagern, die sich an den Schienenwegen des Güterbahnhofs und am Hafen entlangzogen. Der kleine Wagen war ein kostbarer Besitz, weil er Gummiräder hatte und also geräuschlos lief, und da Jons längst entdeckt hatte, daß es an Gerechtigkeit nicht nur auf dem Acker fehlte, bedrängte sein Gewissen ihn nicht, wenn er zu der lautlosen Kolonne gehörte, die in den Nächten von den großen Lagerplätzen Kohlen stahl. Es war ein hartes und gefährliches Handwerk, nach ungeschriebenen Kriegsplänen vor sich gehend, immer im schweigenden Kampf mit den Wächtern, und nicht immer von Erfolg gekrönt.

Aber dann war es schön, an Jumbos Ofen zu sitzen, die Füße vor der roten Glut, eines seiner Bücher auf den Knien, und jedes der Worte im Gedächtnis, die er zum Abschied empfangen hatte. Und nur eine leise Unruhe war über diesen Stunden, wenn er bedachte, daß sie nun wahrscheinlich froren, während er seine Füße am Ofen wärmte, der Vater wie Jumbo, und daß sie schon recht hatten, wenn das einfachste Tun ihnen höher galt als das verwickeltste Denken. Aber bald würde auch er neben ihnen sein, kein Bevorzugter oder Zurückgestellter des Schicksals, und alles dieses würde für lange Zeit im Unwirklichen versinken: Feuer und Bücher, Schweigen und Gedanken. Die Mühle würde mahlen, und sie würden nun alle zusehen müssen, ob sie Brot oder Steine mahlen würde.

Nein, er bedurfte der Ansprachen in der Aula nicht, der Mahnungen, der Beschwörungen. Er war nicht gewohnt, eine Predigt anzuhören, ehe er mit Axt und Säge an ein Klafter Holz heranging.

Jumbo aber marschierte. Keuchend unter seinem Gepäck, dem Gewehr, den Patronentaschen, dem Schanzzeug. In hartgefrorenen Stiefeln, deren Falten die Füße wund rieben, mit beschlagener Brille, die die steifen Finger nicht abnehmen konnten, durch verschneite Wälder und zerschossene Dörfer, einem Horizont entgegen, der so fern war wie der eines anderen Sternes. Aber er marschierte.

Er hatte keinen Oberförster zum Hauptmann, der mit ihm von den großen Wäldern gesprochen hätte, und keinen großen Juristen, der ihn nach der Strafrechtsreform gefragt hätte. Er hatte überhaupt keinen Hauptmann, sondern einen kleinen, blutjungen Leutnant, der eben noch Fähnrich gewesen war, einen aufgeregten, verstörten Zinshahn, dem die Verantwortung über dem Kopf zusammenschlug. Der keine Karten lesen konnte und sich verlief. Der wahrscheinlich ohne ein Wimperzucken auf eine feindliche Batterie losgehen würde, aber der zu jung war, um zweihundert Kinder und alte Männer durch ein grenzenloses, verschneites und vereistes Land an einen Platz zu führen, wo es ebenfalls nur Schnee, Eis, Hunger und wahrscheinlich den Tod geben würde.

Es gab ein paar unter ihnen, die ihm gerne helfen wollten, und auch Jumbo war darunter. Unauffällig und vorsichtig helfen, damit seine junge Würde nicht Schaden nähme. Aber hielt er schon jeden Zweifel, jedes verstohlene Lächeln für einen Bruch der Kriegsartikel, so war jede Hilfsstellung ihm zutiefst verhaßt, und der ganze Zorn seiner achtzehn Jahre warf sich ohne Beherrschung auf die unschuldigen Schuldigen. »Student sind Sie?« schrie er mit seiner hellen, überschnappenden Knabenstimme. »Student? Bierjungen trinken und auf der Mensur stehen, was? Das nannten Sie Dienst am Vaterland, was? Das Vaterland sieht anders aus, mein Lieber, das kann ich Ihnen flüstern! Und hier werden Sie das lernen, eisern lernen, verstanden? Auch marschieren werden Sie lernen, verstanden?«

»Zu Befehl, Herr Leutnant«, sagte Jumbo langsam.

»So'n mongolischer Eierkopp ...«, sagte eine tiefe, ruhige Stimme aus einem der hinteren Glieder. Sie lachten, aber Jumbo sah ernst vor sich hin, auf den Tornister seines Vordermannes, und er dachte sich, daß dieser Tornister merkwürdige schwankende Bewegungen mache, als sei sein Träger betrunken, und daß dieser Marsch wohl nicht so gut ausgehen werde, wie der junge Leutnant es sich denke.

Am späten Nachmittag, als schon ein ungeheures Abendrot hinter ihnen stand, glitt das Pferd des Leutnants auf einem vereisten Abhang aus, und da er kein guter Reiter war, ohne Vorsicht und ohne ruhige feste Hand, wurde aus dem kleinen Fehltritt ein Unglück: das Pferd überschlug sich und blieb mit gebrochenem Vorderlauf liegen.

Der Leutnant fluchte, aber der Vizefeldwebel, ein stiller, ruhiger Mann, trat in aller Verwirrung leise an das Pferd und erschoß es mit seiner Dienstpistole.

Aus war es nun mit der Rolle der Götter. Es schimpfte sich schwerer, wenn man nur in Augenhöhe mit dem Beschimpften war, und es war auch nicht leicht, in den eleganten Röhrenstiefeln zu marschieren. Die Ortskommandanten in den kleinen, halb zerstörten Dörfern hatten nur ein erstauntes Lächeln für die Frage, ob man nicht ein Reitpferd bekommen könne. Aus den Wäldern vor ihnen hoben sich schwere graue Wolken auf und schütteten Berge von Schnee über ihre gebeugten Gestalten. Die Kolonne zog sich auseinander, und weder der Frost noch der Leutnant vermochten die Erschöpften aus den verschneiten Gräben aufzutreiben.

Aber Jumbo marschierte. Zuerst mit vielen, dann mit einzelnen, dann allein. Es war kein Befehl zum Halten gekommen, und er kannte sein Ziel besser als der Leutnant. Manchmal rastete er, an einem Zaun, an einem rußgeschwärzten Schornstein, und wartete auf die Kolonne, die Pfeife im Mund, ein kleines Feuer neben sich, an dem er sich die Füße wärmte. Manchmal rastete er nicht, sondern marschierte bis zu dem Dorf, das ihnen bestimmt war, und in der Dämmerung, wenn die bepackten Schatten aus dem Schneesturm auftauchten, stand er am Eingang des Dorfes und schloß sich ihnen an. Die jungen Kriegsfreiwilligen blieben zurück, die alten Leute murrten, aber Jumbo marschierte, ein stiller, ernster Mann, der Unerschütterlichste in der ganzen Kolonne, ein Student, der nichts vom Vaterland gewußt hatte und dessen zerschundene und halb erfrorene Füße so unentwegt nach Osten marschierten, als sei der Ural ihnen als Ziel bestimmt, oder der ferne Baikalsee, oder die Ufer des Großen Ozeans.

Sie kamen bei der Truppe an und brachen sofort weiter auf, zu einer riesigen Umgehung des Feindes, ein winziger Splitter in einer der Speichen, mit denen das lebendige Rad durch Wälder und Sümpfe rollte. Sie fielen zu Hunderten an den Rändern der gespenstigen Straßen, erschöpft, geblendet, erfroren, Männer und Kinder, Vorgesetzte und Untergebene. Aber Jumbo marschierte. Sein Leutnant war noch immer da, zu Pferde wieder, aber stiller geworden, viel stiller, und wenn er neben Jumbo herritt, sah er ihn von der Seite an, als hätte er gern mit diesem seltsamen Menschen gesprochen, aber als halte eine ängstliche Scheu, ja fast eine Angst ihn davor zurück.

Sie sprachen erst, als sie nebeneinander unter den riesigen Tannen lagen, vom Schnee halb zugedeckt und viele schweigende Gestalten rechts und links von sich. In den dichten Wäldern hatte ein Stoß des wachsamen Gegners sie in die Flanke getroffen, ein verhängnisvoller Stoß, der ganze Kolonnen aufgerieben und zersprengt hatte, und hier lagen sie nun, von der Garbe eines unsichtbaren Maschinengewehres hingeworfen, Tote und Verwundete, indes Gefecht und Verfolgung über sie hinweggegangen waren und weit hinter ihnen verhallten.

Es war so still wie in der Kirche, und zwischen den hohen Säulen der Tannen sahen sie in einen blauen, kalten Himmel hinauf, der schon von einem fernen Abendrot sich rötlich färbte. Die schneebeladenen Äste hingen tief herab und schlossen sie von der Welt ab, vom Licht, von der Sonne, vom Leben. Kein Lufthauch rührte die Tannen an, und wenn einmal eine dünne Schneewolke von den Zweigen stäubte, fast lautlos, so hoben sie doch beide den Kopf ein wenig aus dem Schnee, um zu sehen, ob ein Mensch käme oder ein Tier. Aber niemand kam, und niemand würde kommen. Die andern waren schon still, und auch sie würden still werden, ehe der Morgen kam. Sie hatten beide Bauchschüsse.

Der Leutnant stöhnte, aber Jumbo war still. Er horchte in sich hinein, ob er nicht Schmerzen habe, aber er hatte keine Schmerzen. Er bedachte, was zu bedenken war, aber es war nicht viel, und das mußte getan werden, ehe die Hände in den dicken Wollhandschuhen ohne Gefühl waren. Er tastete langsam nach seinem Spaten, ganz langsam. Er konnte die Schnallen lösen. Und dann begann er, Schnee auf seine Füße und Beine zu schaufeln. Er brauchte nur den Spatenstiel ein ganz klein wenig in seiner Hand zu drehen. Es war so viel Schnee da, daß es nur dieser kleinen Bewegung bedurfte. Nein, an Schnee war kein Mangel in diesem Land, und weshalb sollte man es nicht warm haben beim Sterben?

»Leutnant«, sagte er leise. Die kleinen Gesetze der Würde lösten sich schon für ihn auf.

»Ja«, erwiderte die stöhnende Stimme.

»Leutnant, hier ist der Spaten ... hier ... an deiner rechten Hand. Packe Schnee über dich, und du wirst nicht frieren.«

Aber der Leutnant ließ den Spaten liegen. Doch mußte er wohl erwacht sein, denn nach einer Weile sagte er: »Duzen Sie mich, Jumbo?« Es war kein Vorwurf in seiner Stimme, eher nur eine kindliche Neugier.

»Jawohl, kleiner Leutnant«, sagte Jumbo. »Morgen früh werden wir nicht mehr ›Sie‹ zueinander sagen. Weshalb also nicht gleich?«

Der Leutnant schwieg eine Weile und sah lange zu den schweren Tannenwipfeln hinauf. »Meinst du, daß niemand kommen wird?« fragte er.

»Nein, niemand. Zwei arme Schächer sind wir, kleiner Leutnant, und es ist Zeit, den kleinen Erdengroll zu vergessen.«

»Ich war nicht gut mit dir«, sagte der Leutnant wieder nach einer Weile, aber Jumbo lächelte vor sich hin. »Du kannst nun etwas Gutes tun«, erwiderte er, »etwas sehr Gutes, für uns beide. Strecke deine rechte Hand aus, ganz vorsichtig, so ... versuche, sie loszumachen ... ich war immer sparsam, und sie ist bis obenhin mit Rum gefüllt ... so, das war eine gute Tat, Leutnant, eine sehr gute Tat. Du bekommst auch den ersten Schluck, aber verschütte nichts, hörst du?«

Der Leutnant hielt die Flasche mit zitternden Fingern, und noch einmal gingen seine Augen zu den hohen Tannen hinauf. »Sie sagen«, flüsterte er endlich, »daß bei Bauchschüssen jeder Schluck den Tod bringt ...«

»Ja, das sagen sie, aber wollen wir dem Tod nicht auch etwas zukommen lassen, kleiner Leutnant? Nur wenn du nicht sterben willst, dann trinke nicht.«

Der Leutnant trank schon, einen langen, tiefen Schluck. Dann gab er die Flasche zurück und atmete tief und glücklich auf. »Siehst du«, sagte Jumbo.

Auch Jumbo trank, und dann dauerte es wieder eine lange Zeit, in der seine Hände sich mit unendlicher Vorsicht bewegten. Es war doch gut, ein ordentlicher Mensch zu sein und alles zur Hand zu haben, was man brauchte.

»Rauchst du, Jumbo?« fragte der Leutnant verwundert.

»Ein kleines Pfeifchen, Leutnant, und du bekommst die Hälfte ab, wenn du willst.«

Es war nun still und schön in dem großen Wald. Die Dämmerung fiel, und in der Ferne, ganz in der Ferne grollten die Geschütze. Die Füße waren warm, und ein sanfter rötlicher Nebel hing vor den müden Augen. Der kleine Leutnant begann zu weinen, leise, wie ein verirrtes Kind, und Jumbo suchte mit seiner linken Hand nach seinem Arm. »Das mußt du nicht tun, Leutnant«, sagte er tröstend. »Es hilft zu nichts und zieht höchstens die Wölfe an. Und du darfst es auch wegen der Achselstücke nicht. Siehst du, ich, ein einfacher Student, Gastwirtssohn, ich könnte das schon tun, aber du darfst das nicht. Du mußt ein Beispiel sein, Leutnant, auch wenn dich niemand hört als ich. Aber die Armee hört dich. Über alle Wälder hinweg hört sie dich, und der Oberst zieht die Augenbrauen hoch und sagt zu seinem Adjutanten: ›Haben wir Kinder hier im Wald? Das kann ich doch nicht glauben ... reiten Sie mal hin, Schulenburg, und sehen Sie, was da los ist.‹ Und Schulenburg reitet und kommt wieder zurück. ›Ein kleiner Leutnant, Herr Oberst, der im Walde liegt und ein bißchen weint. Bauchschuß, Herr Oberst.‹ ›Das kann doch wohl nicht sein, Schulenburg‹, sagt der Oberst. ›Ausgeschlossen, Schulenburg, ganz ausgeschlossen. Kenne keinen Leutnant in der preußischen Armee, der im Walde liegt und weint. Wird einer von den Kriegsfreiwilligen sein, ein Student im ersten Semester. Noch einmal hinreiten, Schulenburg, und nachsehen, ja?‹ Und das geht doch nicht, nicht wahr?«

Der Leutnant verstummte und nahm die Flasche, die Jumbo ihm reichte. »Achtzehn Jahre, Jumbo«, sagte er nachher, »ist das nicht zu früh?«

»Was ist früh und was ist spät?« antwortete Jumbo. »Wenn die Sonne aufgeht, ist das alles ohne Bedeutung für uns.«

Er versank nun in Gedanken, und eine Weile war er ganz für sich allein. Alles andere war nicht so schlimm, aber mit Jons war es schade. Der kleine Mönch, der nun an seinem Ofen saß und an die Gerechtigkeit dachte. Man hätte ihm noch einiges sagen müssen, von dem großen Welttheater und dem großen »Wartesa ... a ... al«. Aber auch er hatte schon seine Eintrittskarte, auch er würde seinen Platz finden ... ja, ein paar Jahre Landarzt wäre er doch gerne gewesen ... mit Pferd und Wagen über die stillen Straßen ... über die stillen Straßen geht klar der Glockenschlag ... aber das ist wohl ein Lied, und hier gibt es keine Glocken, nur die Geschütze dröhnen ... ultima ratio regis ... jaja, auch für die Könige kommt solche Stunde.

Er erwachte davon, daß der Leutnant zu singen begann, leise, wie ein Kind im Schlaf. »Fridericus Rex ... unser König und Held ...« Er wandte vorsichtig den Kopf zur Seite und sah in der tiefen Dämmerung das kleine, weiße Gesicht mit den geschlossenen Augen. Schnee war von den hohen Bäumen auf ihn herabgefallen, der Helm war ihm in die Stirn gesunken, die Schuppenkette schimmerte, und die hohe, grau bezogene Spitze hob sich in einem seltsamen Winkel aus dem Schnee heraus.

›So also sieht es aus‹, dachte Jumbo. Und wenn nun ein Kriegsberichterstatter käme, würde er einen wundervollen Artikel schreiben können. ›Im Tode vereint ...‹ oder so etwas Ähnliches. Das alte, spöttische, weise Lächeln glitt für einen Augenblick um seine Mundwinkel und erlosch wieder. Er trank noch einmal und stopfte noch einmal seine kurze Pfeife. Unendliche Mühe, bis die kleinen, blauen Wolken in die eisige Luft stiegen. Sieh da, nun waren die Sterne hoch oben zwischen den weißen Wipfeln, silberne kleine Punkte. Eine kalte Nacht würde kommen, eine barmherzig kalte Nacht. Und morgen gab es kein Marschieren mehr. Ausmarschiert, Jumbo. Eisern gelernt, kleiner Leutnant, was?

Der Leutnant sang immer noch, immer dasselbe Lied, und die leisen Worte in ihrem scharfen Rhythmus gingen wie kleine Hammerschläge durch den dunklen Wald. Als klopfe jemand an die erstarrten Bäume, ein Förster oder ein Köhler, der sein Holz prüfte, das er schlagen wollte.

Und dann verstummte das Lied plötzlich, wie von einer Schere entzweigeschnitten, und der Leutnant hob den Kopf. Der Helm fiel ihm über die Augen und gab seinem kleinen Gesicht das Aussehen einer schauerlichen Maske. »Student!« sagte er mit klarer Stimme.

»Herr Leutnant!«

»Student, hier wird marschiert, verstanden? Eisern marschiert, Student!«

»Zu Befehl, Herr Leutnant!«

Der Kopf sank zurück, die Schuppenkette schimmerte, und ein tödliches Schweigen breitete sich langsam in dem Dunkel der Tannen aus.

Es fröstelte Jumbo. Ein leiser, eisiger Schauer lief einmal von seinen Schulterblättern bis in die erstorbenen Füße und verschwand dort. »Exitus«, murmelte er. »So sagen die großen Ärzte ...« Er trank den Rest aus der Flasche und ließ sie dann fallen. Seine Finger gehorchten ihm nicht mehr, aber er glaubte, daß sie warm seien. Alles war warm, die Füße, die Hände, der Leib, in dem es ganz leise klopfte wie vorhin der Köhler an seinen Baum. Es war nicht so schlimm, wie sie immer behauptet hatten. Alles Behauptete war falsch, auch dieses. Be ... haupten, ent ... haupten ... so seltsame Worte hatte die Sprache, und auch darüber hatte er zu wenig nachgedacht. Zu viel getrunken, zu wenig gedacht ... Für den Vater würde es schlimm sein. Zu Weihnachten gerade ... oder war es schon vorbei? Stille Nacht, heilige Nacht ... ja, eine heilige Erde hatten sie gemacht aus dieser Erde, das konnte man wohl sagen. Auch Jons würde sie nicht bewegen. Niemand ... dreißig Morgen, Mönchlein, hörst du? Dreißig Morgen ...

Er schlief ganz still ein, ohne Schmerzen. Die Augen fielen ihm zu, und mit dem letzten müden Blick sah er die hohen silbernen Sterne, wie auf einen schwarzen Betthimmel gestickt. Seine Finger hielten die kleine Tabakspfeife umklammert. Sie waren schon erstarrt, bevor er gestorben war.

Gegen Morgen begann es zu schneien, lautlos, mit großen Flocken, die senkrecht herabfielen. Sie legten sich auf die grauen Mäntel und in die offenen Augen, und um die Mittagszeit war nur noch die Helmspitze des kleinen Leutnants zu sehen. Sie ragte nicht senkrecht aus dem Schnee heraus, sondern wies in einem schrägen Winkel nach vorn. Wie der Finger einer Menschenhand, die in das dunkle Geäst der Tannen zeigte oder höher hinauf, zu einem Stern, der nachts geschienen hatte und längst versunken war.


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