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XIX

Was Jons von dem Beginn seines letzten Schuljahres am tiefsten im Gedächtnis blieb, war das Gefühl einer grenzenlosen Einsamkeit, das mit dem Augenblick über ihn kam, als er Jumbos Zimmer wieder betrat. Er kannte den Zustand der Leere und der farblosen Öde, durch den er nach allen Ferien für eine Weile mühsam zu gehen hatte, aber es hatte immer eine Hilfe dafür gegeben: Jumbos stille Augen, das Feuer in seinem Ofen, die klare Rede aus seinem Mund. Oder ein Scherzwort von Old Firehand, oder Charlemagnes Hand auf seiner Schulter, oder das Bild des Vaters, auf seine Stange gelehnt, wie er am Meiler stand und die Wälder um sich wachsen ließ.

Aber nun waren sie alle fort. Sie waren schon lange fort, aber bis dahin war es gewesen, als seien sie immer noch zu erreichen, als habe nur der Raum oder die Zeit sie für eine kleine Weile entfernt. Nun aber war es, als seien sie hinter den Horizont hinabgetaucht, unwiederbringlich und nicht mehr einzuholen. Nicht nur Jumbo, sondern auch der Vater, ja, der Vater noch mehr, noch tiefer als Jumbo. Als brenne der Moloch nun heißer und gieriger, und ein fernes, hohles Sausen gehe durch seinen ehernen Leib, zu dem sie Kinder und Männer trugen, um sie dem finsteren Gott zur Speise zu geben. Die Pension war voll wie sonst, die Schule lief ab wie ein sich drehendes Rad, Stunde für Stunde, Tag für Tag, die Straßen waren hell, die Menschen wie sonst. Aber wenn er die Tür von Jumbos Zimmer hinter sich schloß, versank diese ganze Welt wie ein gespenstischer Traum, Menschen, Bilder und Gespräche, und das große, atembeklemmende Schweigen erfüllte den ganzen Raum, die Bücherreihen, die Ecken, selbst die Luft hinter dem Fenster, und inmitten des tödlichen Schweigens stand Jons, die Bücher noch in der Hand, und wußte nicht, wie die nächste Stunde vorübergehen sollte, die Monate, das ganze lange Jahr, ehe er dort sein würde, wo die anderen waren.

Sie hatten wohl nicht ganz ermessen, was sie ihm aufgebürdet hatten. Sie hatten nicht bedacht, wie jung er war und daß inmitten allen Strebens es schwer war, allein zu sein, nur Bücher um sich und Erinnerungen an Tote oder solche, die sich zum Tode bereiteten. Mitunter erschien die älteste der Schwestern wie ein Schatten, und wie ein Schatten saß sie für eine Weile am Ofen und wärmte sich die blutlosen Hände. Aus der Wohnung unter ihnen sei der Jüngste gefallen, sagte sie, und in dem Hause gegenüber die beiden einzigen Söhne. Und Kaffee gebe es nur noch hintenherum, und die Aufwartefrau habe gekündigt und gehe in eine Munitionsfabrik. Wie eine dunkle Klagefrau saß sie vor dem ersterbenden Feuer und ließ das große Schicksal in einem dünnen Faden durch ihre blassen Hände gleiten.

Jons hörte ihr zu und sprach hin und wieder ein Wort des Trostes, aber wenn sie gegangen war, blieb er noch lange so sitzen, die Augen auf den Schein des Feuers gerichtet, und dachte, daß die Armen nicht nur die seien, die kein Brot und kein Feuer hätten. Was war ein kurzes Menschenleben gegen ein Meer von Freudlosigkeit? Und wie weit war man gekommen, wenn alle Menschen Brot und Kleidung und ein Feuer im Herd hatten? Noch fehlte viel an der letzten Liebe, wenn man die Hungrigen nur satt machte, und es war wohl eine tiefe und schwere Weisheit in Christi Wort, daß der Mensch nicht vom Brote allein lebe.

Dann beugte er sich wieder seufzend über seine Bücher, aber hinter seinem Rücken fühlte er den großen leeren Raum, in dem nichts war als das Salz der Erde, das die Tränen der Menschen erfüllte, und auf die Hände wartete, die es dämpfen sollten.

Als das Semester wieder begonnen hatte, schlich er sich am Nachmittag oder Abend in die öffentlichen Vorlesungen der medizinischen Fakultät. Dort tauchte er auf einer der Bänke unter, und für eine Weile vergaß er die Leere der Zeit und das verlassene Zimmer, das auf ihn wartete. Seine Vorkenntnisse waren noch gering, und vieles ging wie in einer fremden Sprache über ihn hinweg. Aber wenn er dann aufstand und zwischen grauen Uniformen und Mädchenkleidern hinausging, war es ihm doch, als sei er schon aufgenommen in den großen Bund derer, die geschworen hatten, ihr Leben gegen den Tod einzusetzen. Auch unter ihnen war Kälte, Spott und die zynische Gelassenheit, mit der sie auf den Körper und die Seele des Menschen zu sehen vorgaben. Aber in den meisten Augen war doch das reine Licht der Verwunderten und Hungrigen und manchmal auch das der Barmherzigen. Manches würde sich verdunkeln und beschatten, manches von Ehrgeiz und Habgier entstellt werden, manches erlöschen. Aber einiges würde doch übrigbleiben, und nur langsam und zögernd löste er sich von dem Strom, in dem er die Treppen hinunterging, als gehe mit allen Gleichgesinnten auch der Trost wieder fort, mit dem die Stunde ihn erfüllt hatte.

Im Mai gab es noch einmal kalte Tage, und ein eisiger Wind kam vom Meere herüber, wo die letzten Eisschollen noch auf den grünen Wellen schwammen. Ein paar Abende fror er, in seinen Mantel gehüllt, aber dann holte er doch wieder den kleinen Wagen aus dem Schusterkeller und fuhr durch die gewohnten Straßen dem Hafen zu. Ein Teil der Lampen war nun in der Nacht gelöscht, und der Krieg machte auch das Stehlen leichter.

Er versteckte den Wagen und blieb lange Zeit regungslos, um zu lauschen. Aber nur das leise gleitende Geräusch war zu hören, mit dem überall von den Kohlenhaufen die Beute der unsichtbaren Jäger herunterrieselte. Anfänger waren es, dachte er, die sich nicht Zeit nahmen, die einzelnen Stücke mit den Händen aufzunehmen. Aber solange der Wind mit seinem hohlen Sausen vom Wasser herüberkam, war die Gefahr gering, und er begann hastig, seinen kleinen Wagen zu beladen. Neben ihm lagen hohe Wellblechstapel, für irgendeinen Frontabschnitt bestimmt, und er hielt sich immer in ihrem Schatten, den Wagen halb in eine der Höhlungen geschoben.

Eine verhüllte Gestalt in einem dunklen Umhang tauchte neben ihm auf und warf schnell und ungeschickt Kohlen in zwei große Handtaschen, die sie rechts und links neben sich gestellt hatte. Eine der Frauen, wie er sie vor den Hafenkneipen wartend und frierend gesehen hatte, und als sein Wagen gefüllt und sorgsam bedeckt war, begann er ihr ohne ein Wort zu helfen.

Dann kam der leise Alarmpfiff aus der Ferne, ein lauter Fluch und das Geräusch vieler fliehender Füße. Jons schob den Wagen und die Taschen unter das Wellblech, nahm die Frau bei der Hand und zog sie in eine der vielen Höhlungen, durch die der Wind sausend fuhr. Sie kauerten beide auf den Knien, fühlten die kühle Erde unter sich, und als er den angstvollen Atem der Frau hörte, legte er warnend zwei Finger auf ihre Lippen. Sie waren warm und schlossen sich fest unter seiner Hand.

Die Rufe kamen näher und gingen wieder fort, und jedesmal zitterte die verhüllte Gestalt an seiner Schulter. Er legte beruhigend die Hand um ihren Arm, und dann wurde sie still. Er hätte lange so bleiben mögen. Er fürchtete sich vor Jumbos Zimmer, und obwohl der Wind durch die Blechdächer zog und schwere Regentropfen auf das Metall zu hämmern begannen, war es ihm doch warm und geborgen wie in einem stillen Haus, und er fühlte die Nähe eines Menschen wie einen Zauber gegen die Gespenster der Nacht und der Einsamkeit.

Zusammen schlichen sie sich dann fort, dem Strom zu, dessen farbige Lichter gedämpft durch den Regen schimmerten. Jons hatte die Taschen an die Wagenseiten gehängt, und ihre gebeugten, verhüllten Gestalten sahen aus, als zögen sie einen kleinen Sarg hinter sich her. Erst unter einer der flackernden Laternen sah er, daß es ein Mädchen war, nicht viel älter als er. Er lachte und sagte, er habe sie für eine alte Frau gehalten.

Nun, nach ihrer Angst, begann sie zu plaudern, zutraulich, als kenne sie ihn viele Jahre. Ja, es sei ihr erster Gang gewesen, und sie habe sich schrecklich gefürchtet. Es sei unrecht, aber sie wolle nicht erfrieren, und wenn jemand sie entdeckt hätte, wäre sie entlassen worden.

Wo entlassen?

Er erfuhr, daß sie Lehrmädchen in einem Geschäft für Damenwäsche war, armer Leute Kind, und da in ihrer Gegend eingebrochen worden war, so hatte die Inhaberin bestimmt, daß sie in einem der kleinen Räume hinter dem Laden zu schlafen hatte. Mehr zu wachen als zu schlafen, denn die Tür zum Laden mußte halb geöffnet bleiben, eine Lampe brannte in dem großen Raum, und ihr Licht fiel durch die geschlossenen Vorhänge und die Eisengitter gedämpft auf die Straße. Auch kam es vor, daß die Inhaberin in der Nacht anrief, ob alles in Ordnung sei, und dann mußte sie sofort an den Fernsprecher stürzen und sich nicht versäumen.

Das alles erzählte sie ohne Bitterkeit, mit dem leisen Spott, den die Armen für die Ängste der Wohlhabenden besitzen, und mit der Gelassenheit derjenigen, die von Kind an vor anderer Leute Türen stehen müssen.

Aber ob sie denn wenigstens entschädigt werde dafür, fragte Jons, daß sie ein paar Stunden von ihrem Schlaf hingebe und von der Zeit, die doch ihr gehöre.

O nein. Nur Arbeit werde bezahlt, und das sei doch keine Arbeit. Sie könne ein bißchen lesen und habe auch ein altes Sofa da, auf dem sie schlafen könne. Denn sie schlafe herrlich dort, setzte sie lächelnd hinzu, seitdem sie jeden Abend die Telephonschnur verlängere und den Apparat neben ihrem Kopfkissen habe. Nur wenn die Alte jetzt inzwischen angerufen hätte, dann wäre es schlimm.

Sie führte ihn durch dunkle Nebenstraßen bis an ein Eckhaus, wo sie geräuschlos den Torweg öffnete. Sie zog ihn mit dem Wagen hinein, führte ihn im Dunklen ein paar Stufen seitwärts in die Höhe und schloß eine schmale Tür auf. In dem matten Licht, das aus einem der hinteren Räume kam, sah Jons lange Gestelle mit braunen und weißen Pappkartons, Bündel mit Schnüren und Packpapier. Sie schloß die Tür hinter sich und führte ihn in den kleinen Raum, wo sie schlief. Er enthielt nichts außer dem alten Sofa, auf dem die blaugewürfelten Betten unberührt lagen, dem Fernsprechapparat, einem kleinen eisernen Ofen, einem alten Schreibtisch und einem grünbezogenen Ohrenbackenstuhl, aus dessen verschlissenem Bezug das Roßhaar herauskam. Aber die farbigen Vorhänge waren über dem schmalen Fenster zugezogen, und auf der Platte des Schreibtisches stand ein Küchenkrug mit grünen Birken.

Jons sah sich um, indes das Wasser von seinem Mantel auf den Fußboden tropfte, und trat erschrocken mit einem leisen Ausruf zurück. Durch die halbgeöffnete Tür, die zum Laden führte, sahen ihn drei rosige Gesichter von makelloser Schönheit mit großen, leeren Augen aufmerksam an. Es waren Wachsbüsten mit falschen Perlenhalsbändern, und sie dienten dazu, die Schönheit elfenbeinfarbener Büstenhalter zu zeigen.

Seine Begleiterin, die schon vor dem Ofen kniete, lachte leise und bat ihn um Streichhölzer. »Zuerst habe ich von ihnen geträumt«, sagte sie, »aber nun bin ich es schon gewohnt, daß sie mir zusehen. Wir können sie auch umdrehen nachher. Ziehen Sie nun Ihren Mantel aus, Sie bekommen noch einen Topf Kaffee, damit Sie sich erwärmen.«

Die Flamme loderte herrlich in dem trockenen Holz auf, und sie legte vorsichtig ein paar Kohlenstücke darüber. Aus der kleinen Tür kam der Schein des Feuers und die erste bescheidene Wärme, und sie blieb vor ihr knien, die ausgebreiteten Hände in das rote Licht haltend. »Wie wenig wir doch brauchen, nicht wahr?« sagte sie leise.

Sie hieß Margreta, nach dem Schiff, das ihr Vater entladen hatte, als sie geboren wurde, aber leider nannten sie sie alle Gretchen, und das mochte sie nicht. Sie waren sechs Geschwister, und die Mutter ging in Herrschaftshäuser waschen. Der Vater hatte gut verdient, aber nun wurde es immer weniger. Die Schiffe blieben aus, und dazwischen fand er auf einem Holzplatz Arbeit. Er trank nicht, und sie lebten in Frieden zu Hause. Aber mit sechs Jahren hatte sie schon Zeitungen ausgetragen, und hier lag sie auch nicht gerade auf Rosen.

Jons hatte den Mantel ausgezogen und den alten Stuhl vor das Feuer gerückt. Er war still und glücklich wie nach einem Schiffbruch, und ab und zu hob er den Kopf, um zu lauschen, wie der Regen an die Fensterscheiben schlug. Das Wasser in dem kleinen Kessel begann zu singen, und Margreta schüttete den gemahlenen Kaffee in die beiden irdenen Töpfe, die sie vor das Feuer gestellt hatte. Nein, einen Meiler hatte sie noch nie gesehen, und sie hörte ihm still zu, während sie auf der Erde saß und ihre Füße wärmte und trocknete. Das dunkle, feuchte Haar war ihr in die Stirn gefallen, und in ihrem sanften Gesicht waren die Augen das Schönste, tiefe, braune Augen, über die mitunter ein graugrüner Schein ging wie über ein lebendiges Wasser.

Sie hielten die braunen Töpfe mit beiden Händen, um sich zu wärmen, und tranken in kleinen Schlucken. Die Kohlen glühten nun mit einem weißroten Licht, und ein wunderbares Behagen begann Jons langsam zu erfüllen, nicht nur seinen Körper, seine Füße, seine Hände, sondern sein ganzes Wesen, als habe er noch niemals so tief und sorgenlos geatmet und gelebt. Die Worte kamen ihm leicht und schnell von den Lippen, die Bilder und Vergleiche, und selbst das Traurige, das er zu erzählen hatte, war wie in sanfte Farben gekleidet, schwerelos, von einer schönen Erinnerung beglänzt.

Sie hörte ihm zu, als lese er aus einem Buche vor, mit halbgeöffneten Lippen, und der Widerschein dessen, was er erzählte, ging mit Licht und Schatten immer wechselnd über ihr Gesicht. Am Schluß atmete sie einmal tief auf und sah lange ins Feuer. »Es ist wie in einem Märchen«, sagte sie endlich, »schön und traurig ... aber nun sind Sie doch ein Herr, und dort bei den Kohlen habe ich gedacht, Sie sind einer von uns.«

»Ein Herr?« sagte er erstaunt. »Du lieber Gott! Und vor zwei Jahren habe ich noch Eisen unter den Absätzen getragen ...«

Sie schüttelte den Kopf. »Darauf kommt es nicht an. Aber wir werden niemals etwas anderes werden, als was die Eltern waren, höchstens daß ich Verkäuferin werde, und Sie werden Student werden und danach ein großer und berühmter Arzt, der in einem Wagen fahren wird.« Eine leise Traurigkeit breitete sich über ihr Gesicht, als sei ein Maskenfest zu Ende und der graue Morgen scheine wieder über die Dächer.

»Ihr habt kein Zutrauen zu euch«, sagte er. »Ihr seht immer noch auf Pferd und Wagen, und ihr wißt nicht, daß man einmal die Menschen anders wiegen wird. Ich weiß selbst nicht, wann das sein wird, aber ich weiß, daß ich dazu helfen will.«

Sie faltete die Hände um ihre Knie und nickte. »Sie sind ein guter Mensch«, sagte sie. »Aber waren Sie einmal in einer Poliklinik? Ich war oft da, mit meiner Mutter, und ich habe gesehen, wie die Menschen dort gewogen wurden. Ich möchte nicht, daß Sie einmal so werden wie die jungen Ärzte, die ich dort gesehen habe.« Ein bitterer Zug erschien um ihren jungen Mund, und mit einem Male wußte er, daß sie viel mehr gesehen hatte als er.

»Ich werde niemals so werden«, sagte er leise.

Dann stand sie auf und sah nach, ob sein Mantel schon trocken war. »Meine Mutter hat ihn gewebt«, sagte er, als ihre Hand prüfend über den schweren Stoff glitt.

»Also sind Sie doch noch nicht ganz ein Herr«, erwiderte sie lächelnd. »Und zum Kohlenfahren ist er auch besser.«

Bevor er ging, sah er sich noch einmal in dem kleinen Raum um. Ob er einmal wiederkommen dürfe?

Sie sah ihn eine Weile mit ernsten Augen an. »Ja, Sie dürfen immer wiederkommen«, erwiderte sie schließlich.

»Und Dank für die Bewirtung!« sagte er, als er aus dem Torweg auf die feuchte Straße trat. Erst später fiel ihm ein, wann er das zuletzt gesagt hatte, und er schüttelte ärgerlich den Kopf.

Er war nun zweimal oder dreimal in der Woche in dem kleinen Raum, durch dessen Tür die schönen Puppen ihn ansahen, und er täuschte sich nicht darüber, daß ein neues Leben für ihn begonnen hatte. Er war nicht aus einem Hause, in dem man sich über seine Gefühle lustig machte oder sie mit einem Lächeln abtat. Man verschloß sie hinter den Lippen, aber man machte vor sich selbst kein Hehl daraus, daß sie da waren. Auch nicht daraus, daß ihr Leben voller Süße oder Bitterkeit war. Es war nicht wahr, daß die Herzen in den armen Dörfern langsamer schlugen als in der Stadt, und jedesmal, wenn er die Hand auf den Griff des schweren Tores legte, ging die Berührung des kalten Metalls wie ein Schauer durch seinen ganzen Körper. Es war mehr als ein hölzernes Tor, was sich unter seiner Hand auftat, und oft blieb er eine Weile in dem dunklen Torweg stehen und wartete, ob sein Herz nicht ruhiger schlagen würde. Aber es hatte keinen Zweck, darauf zu warten.

Zuerst war es wohl nur das gewesen, daß ein lebendiger Mensch da war, der den Ring seiner Einsamkeit zerbrochen hatte. So war es schon unter dem Wellblech gewesen, als er die Hand um einen zitternden Arm gelegt und noch gedacht hatte, daß es eine alte Frau sei oder doch eine von denen mit den dunklen Umschlagtüchern, die ihn gefragt hatten, ob sein Vater auch dabei sei. Aber dann war es mehr geworden. Zuerst ein Mensch seines Alters und seiner Armut, zu dem man sprechen konnte, viel und lange und unaufhörlich sprechen, als verscheuche man damit die Gestalten der Toten und den Bannkreis des Schweigens, der um sie ausgebreitet lag. Und dann ein Mensch, der nicht seines Geschlechtes war. Der aus der ewig geheimnisvollen Welt der anderen war, in der das Haar anders in die Stirn fiel, die Augen anders schimmerten, die Glieder sich anders bewegten. Ein Mensch, der wohl mehr erfahren hatte als er, es auch auf dunkleren Wegen erfahren haben mochte, aber der bei allem Wissen noch so jung war, daß er den Schimmer der Kindlichkeit nicht von seinen Wangen und Worten abgewischt hatte. Ein Mädchen, wie sie es in Sowirog vor dem Herrn von Balk versteckt haben würden, aber umsonst, nicht nur, weil den Augen des Habichts auf die Dauer nichts entging, sondern auch, weil es selbst nicht geneigt war, sich verstecken zu lassen und der Gefahr auszuweichen, die ihm süß erschien, wie sie seiner Mutter und Großmutter einmal süß erschienen war. Der Frühling der armen Leute endete früh, und sie wußten, daß er niemals mehr wiederkam. Die Pfarrer mochten von Sünde und Fluch des Leibes sprechen, aber nicht jeder hatte wie sie einen Platz in den Freuden des Jenseits verbürgt, und auch in zweitausend Jahren hatten sie nicht vermocht, den Leib der Menschen zu einer Wohnung des Teufels zu machen. Die armen Leute wußten sehr gut, daß dieser Teufel barmherziger war als viele Götter, die seit Beginn der Welt über die Erde gegangen waren.

Jons war viel zu ordentlich, als daß er seine Arbeit vernachlässigt hätte, und es gab keinen Pfennig, den er nicht in der Hand umgedreht hätte, ohne sich zu erinnern, daß es Herrn Stillings Pfennig war. Aber er hielt es für keine Sünde, daß nun mitunter zwischen den Formeln des binomischen Lehrsatzes oder den Versen der Odyssee der kleine Raum auftauchte, in dem er seine Hände vor dem Feuer gewärmt hatte. Und daß zwischen den kahlen Wänden sich eine kleine, lebenssichere Gestalt bewegte, deren früh verarbeitete Finger einen Knopf an seinem Rock festnähten oder eine Naht an seinem Ärmel zuzogen.

Er wußte überhaupt nichts von einer Sünde dieser Art. Das Leben des Dorfes war nicht so geartet, daß es diesen Teil des Lebens zu einem Schauplatz der Sünde machte, und Pfarrerworte waren nicht Kätnerworte. Nicht alles, was süß war, war ihnen Sünde. Weder die Fische, die ihnen nicht gehörten, noch der Hase, den Daida fing, noch das Holz, aus dem sie eine Kirche bauten. »Sünde« war ein großes Wort, das schwer und schön von der Kanzel herabklang, aber der Alltag war nicht für die schweren Worte, und manchmal dachten sie ganz im stillen, daß die Herren das Wort nur erfunden hätten, damit die Armen nicht begehrten, was sie allein behalten wollten.

Was ihn erschauern ließ, wenn ihre Hand oder ihr Atem ihn streifte, war nicht die Angst vor der Sünde, sondern vielmehr die Angst vor dem Glück. Die Jerominkinder hatten nicht viel Glück gehabt, und die es gehabt hatten, hatten teuer dafür bezahlt. Er konnte es nicht wissen oder sagen, aber es ahnte ihm, daß, wer die Frucht pflückte, auf die Blüte für immer verzichtete. Daß er aus dem einsamen, ganz in sich beschlossenen Leben heraustrat und in ein anderes Leben mündete. Daß die Rüstung zerbrach und er fortan verwundbar wurde, tödlich verwundbar. Daß der Tod nicht nur auf die Krieger wartete, sondern auch auf die Liebenden.

Er hielt sich noch wie ein Mensch über einem tiefen Wasser. In seinem eigenen Element, bevor er sich an ein anderes hingab. Er würde nie mehr der gleiche sein. Er würde Abschied nehmen und nie mehr wiederkehren.

Doch wußte er, daß es längst beschlossen war, in ihm oder außer ihm, und seine Hand zuckte nur davor zurück, das Rad anzustoßen. Das Rad sollte ihn anstoßen, und dann würde er gehorsam sein. Er wußte noch nicht, daß es keine Trennung zwischen Befehl und Gehorsam gab und daß das Schicksal nur ein Gesicht hatte. Er wußte noch nicht, daß eine helle und eine dunkle Seite nicht zwei Gesichter machten, sondern nur zwei Hälften des gleichen Gesichtes. Wer sein Schicksal aus seinem Leben und Blut hinausstellte als etwas Fremdes und ihm einen fremden Namen gab, tat nichts anderes, als daß er sein Spiegelbild »Herr« nannte und um den Spiegel herumging, um ihm die Hand zu reichen.

Er war jung und einsam, und also »spekulierte« er, auch in der Liebe, obwohl der weise Herr von Balk ihn gewarnt hatte, und es war gut, daß bald darauf, als er sich eines Nachts mit gequältem Gesicht verabschiedete, Margreta die Arme um seinen Hals legte und sagte: »Quäle dich doch nicht, Jons. Weshalb quälst du dich?«

Und nun versank alles in einem tiefen, tiefen Meer, und auf dem Grunde lag er selbst und sah zu, wie das Wasser über ihm sich färbte und erlosch, in dunklen, nie gesehenen oder geahnten Farben, von der Sonne vielleicht oder von einem neuen Mond, und wie die Geschöpfe der Tiefe langsam und leuchtend ihre Bahnen über seine offenen Augen hinzogen. Ein dunkler, auf- und abschwellender Ton stand über dieser Tiefe, wie von einem anderen Atem oder einem anderen Herzen, ein Ton von unendlicher Ruhe und Seligkeit, und das Ganze war wie der Tod, von dem sie soviel gesprochen hatten, als er noch auf der Erde gewesen war, oder wie das ewige Leben, von dem in den Büchern geschrieben stand, in jenen fernen, versunkenen Reichen, in denen er sie gelesen hatte.

»Jons«, sagte sie leise an seinem Ohr, »schläfst du, Jons?«

Aber er schüttelte den Kopf. »Ich wußte das nicht«, sagte er nach einer Weile ebenso leise. »Ich habe das nicht gewußt ...«

Er hörte den Vorhang hinter sich wehen und den warmen Wind in der Kastanie des Hofes rauschen. Ein Pferd ging langsam die ferne Straße hinunter. Wahrscheinlich zog es einen Wagen, aber er hörte den Wagen nicht. Er hörte nur die Hufeisen auf dem Pflaster, so regelmäßig wie den Schlag eines Herzens, und er dachte, daß es Kiewitts weißes Pferd sein könnte, das ausgegangen war, um ihn zu holen. ›Wie machen sie das‹, dachte er, ›daß sie von einer solchen Stunde aus in den Krieg gehen? Wie machen sie das? Wahrscheinlich ist es gar nicht der Tod, den sie fürchten, sondern daß dieses ihnen unter den Händen zerrinnt ...‹

Er nahm ihren Kopf in beide Hände und beugte sich so dicht über sie, daß er den feuchten Glanz in ihren Augen sah. »Wirst du ein Kind von mir haben?« fragte er.

Aber sie schüttelte den Kopf. »Das ist nichts für uns«, sagte sie.

»Aber so ist es gemeint?« fragte er eindringlich. »So wie wir jetzt beide sind? Das ist der Sinn von dem, was wir tun, ja?«

Ja, das war der Sinn, und sie konnte es nicht leugnen.

Die Gesichter der beiden Brüder standen nacheinander in der Dunkelheit vor ihm auf und versanken wieder. Ein unendlicher Friede erfüllte sein Herz, so als sei der Tod nun nicht mehr eine dunkle Macht, die in einer Höhle auf ihn wartete, sondern als habe er seinen Vertrag mit ihm unterschrieben. Er war durch das Tor gegangen, und er fürchtete sich nicht mehr. Er hatte das letzte Geheimnis angerührt, und es hatte gesprochen. Von nun an war er aufgenommen in den letzten Grad. Das war es also, weshalb sie den Apfel nicht hatten essen sollen. Weil er ihnen Macht gab über den Tod und sie über alle Drohungen lächeln ließ, die hinter den Wolken oder hinter den Sternen waren.

Er legte seine Hand leise um die junge Brust des Mädchens und beugte sich noch einmal über sie. »Es gibt keinen Tod, Margreta«, sagte er. »Hörst du? Es gibt keinen Tod.«

Sie sah ihn unsicher an, aber dann lächelte sie, halb demütig und halb weise. »Denkst du immer noch, Jons?« fragte sie. »Du mußt nicht denken, wenn du mir am Herzen liegst.«

Was war es doch für ein Sommer, und wie war es möglich, daß er Tausende und Tausende erschlug, indes hier die weißen Wolken über den Strom zogen und die fernen Nachtgewitter ihr blaues Licht über das Gesicht des Mädchens warfen? Es war nicht der Sinn des Lebens, daß Menschen erschlagen wurden, weil einige von ihnen es wollten. Es war auch nicht der Sinn des Todes. Sein Sinn lag darin, daß er erschien, wenn die volle Scheibe im Gipfel stand und die dunkle schmale Sichel sich leise um ihren Glanz zu legen begann. Er war ein Vollender und kein Vernichter. Er war ein einfacher Schnitter mit einer einfachen Sense, und erst der Mensch hatte ihn verzehnfacht und vertausendfacht. Er war ein Knecht geworden, und wie ein Knecht kannte er kein Maß. Sie hatten ihn entheiligt, und es war müßig, daß sie ihn priesen und mit Kränzen behängten. Sein Schritt war so vertraut geworden wie der des Briefträgers auf der Straße, und sie scherzten über ihn, als sei er ihresgleichen.

Aber so wenig es erlaubt war, über Gott oder über das Leben zu scherzen, so wenig war dieses erlaubt. Es war ein falsches Heldentum, das Heldentum von Straßenjungen, die nach einer Wette einen Prinzen bei der Hand nahmen, um ihm einen schönen Tag zu wünschen.

Jons wußte, daß er so nicht hinausgehen würde. Auch Jumbo und sein Vater waren nicht so gegangen, aber ihre letzten Gedanken waren ihm verborgen geblieben. Man mußte noch anders darüber denken können, als die Lehrer auf dem Pult in der Aula es taten, und man mußte es wissen, bevor man antrat zu diesem Wege. Man ging nicht in der Masse in den Tod, so wie man in ein Theater oder auf den Jahrmarkt ging. Man wurde auch nicht in der Masse geboren, sondern ganz allein. Es gab keine Geburtsartikel, wie es Kriegsartikel gab.

Er fragte Margreta nach dem Kriege und erfuhr, daß sie ihn haßte. »Alle Frauen hassen den Krieg«, sagte sie, »so wie wir als Kinder den bethlehemitischen Kindermord haßten. Und alle Armen hassen ihn. Auch diesmal. Du weißt nicht, wieviel Haß unter ihnen ist, allein in dieser Stadt. Euch allen kann man den Tod in ein süßes Blatt einwickeln, und ihr schluckt ihn. Aber bei uns kann man das nicht. Wir sind zu alt, so alt wie die Erde steht. Man hat uns die Armut in ein süßes Blatt gewickelt, und wir haben sie gegessen. Man hat uns hundert andre Dinge eingewickelt, und wir haben sie gegessen. Aber nun merken wir von weitem, was unter den süßen Blättern verborgen ist. Nun wollen wir nicht mehr. Wir wollen Kinder haben, nicht tote Helden, verstehst du? Kinder, Jons, Kinder, denn dazu sind wir geboren.« Sie drückte seinen Kopf an ihre Brust und weinte über ihm, als sei sie eine uralte Frau und er ihr Enkelkind, das zum Opfer bestimmt war.

Danach fragte er sie nicht mehr. Wie in einem schnell und lautlos sich drehenden Spiegel hatte er ein Gesicht gesehen, aufblitzend und wieder verlöschend, und von nun an sah er sie mit anderen Augen an. Er hatte nie eine Mutter gehabt und es nie anders gekannt, und manchmal hatte er gedacht, daß die Mutter in der Frau erst beginne, wenn die Liebe aufhöre. Aber nun sah er, daß sie immer da war, von Anfang an, daß sie still daneben stand und zusah und wartete. Lag sein Kopf in Margretas Schoß und fuhr sie schweigend mit ihren Fingern durch sein Haar, dann wußte er, daß sie nicht an die Liebe dachte, sondern an das Kind. Und solange das Kind nicht da war, war er das Kind. Sie nähte für ihn, sie sorgte für ihn, sie wachte für ihn. Sie war nur ein paar Monate älter als er, aber wenn er das Gesicht in ihrem Schoß wendete und zu ihr aufblickte, sah er, daß ihre Augen Jahre und Jahrzehnte älter waren als die seinigen.

Es ergriff ihn auf eine viel tiefere Weise, als ihre Hingabe ihn ergriff. Er wußte, daß er nicht der erste war und daß er nicht der letzte sein würde. Er hatte nie gefragt, aber einmal, bei einem Gespräch, das daran streifte, hatte sie gesagt: »Weißt du denn nicht, Jons, daß dies der Himmel der Armen ist? Einen anderen haben wir nicht ...« Manchmal, wenn er ihre Augen mit einem jähen Schmerz auf sich gerichtet sah, wußte er, daß sie an die Zukunft dachte. Alle Mütter denken an die Zukunft. Wie alle jungen Menschen, die zum erstenmal liebten, war er ohne Zweifel, daß er sie heiraten würde, aber sie lächelte nur, als er einmal die Rede darauf brachte. »Das hast du aus deinen Büchern, Jons«, sagte sie nur. »In unsren Büchern steht es anders.« Aber ob sie denn nicht die gleichen Bücher hätten? O nein, nicht die gleichen. Ein Mädchen, das sich verschenke, habe ein anderes Buch. Und sie zog seinen Kopf an ihre Brust und küßte ihn in sein helles Haar, als sei er ein Kind und sie müsse ihn trösten für einen Wunsch, den sie ihm abgeschlagen habe. Ein stiller, wehmütiger Kuß. Der Kuß einer alten Frau, die daran zurückdenkt, daß auch sie einmal jung gewesen ist, so jung wie das Kind, das sie im Arme hält.

Ein traumhafter, ein ganz und gar unwirklicher Sommer. Weit draußen dröhnt der Krieg an den Grenzen entlang und wirft seine fernen Feuer an den nächtlichen Himmel. Sie hören die Transportzüge über die Gleise gehen, während ihre Herzen aneinanderschlagen. Die Nacht ist still, und das Rollen der Räder dringt bis in ihre Kammer. Nach Osten, nach Westen und wieder zurück. Sie sehen die Verwundeten auf der Straße, die frischen Regimenter, die ausziehen, um in den blutigen Strudeln zu versinken, die verhärmten Gesichter der Frauen, über denen die Not langsam zusammenschlägt. Langsam aber unerbittlich wie die Zangen einer gewaltigen Maschine.

Sie drücken sich enger aneinander, damit sie den Tod vergessen, aber sie vergessen ihn nicht. Für Jons ist er immer da, eine stille, dunkle Gestalt, die die Schnur der Monate in den Händen hält und sie ruhig ablaufen läßt, Perle auf Perle, Tag auf Tag. Er weiß, daß dies nicht ewig dauern wird, und er will auch gar nicht, daß es ewig dauert. Er hat nichts vergessen, nicht den Vater, nicht Jumbo, nicht den Herrn von Balk. Sie warten, und er wird kommen. Er ist keiner von denen, die sich verlieren, wenn man auf sie wartet.

Und Margreta weiß, daß er gehen wird. Für sie ist er einer der armen Toren, die man nicht halten kann. Ein geliebter Tor, ach, so sehr geliebt, der in den Wäldern aufgewachsen ist, wo sie von Jehova reden, und wo jeder Tag mit ›du sollst!‹ beginnt. Ein Kind ohne Falsch und Makel, so rein, als habe seine Mutter ihn eben gebadet, eine Stirn mit unendlichen Gedanken, ein Herz, das von Liebe für die Armen überfließt. Ein junger Gott in ihrem kleinen, dunklen Leben, und doch von ihr zum erstenmal gesegnet und beschenkt. Aber doch nicht zu halten auf seiner tödlichen Bahn, eben weil er ein Gott ist, mit ehernen Flügeln an den jungen Füßen, nicht zur Liebe geschaffen, nicht für einen kleinen Herd, sondern für Arbeit und Pflicht, für Tröstung und Heilen, für einen großen, großen Plan, in dem die Liebe nur eine stille Morgenstunde ist, bevor die Lerche singt und das Kammerfenster sich rötlich färbt.

Und während er schläft, tief und glücklich, und der reine Atem seines Mundes über ihre Brust dahingeht, liegt sie mit offenen Augen, die Hände um sein Haar gefaltet, und sieht zu, wie die Morgendämmerung die kleine Kammer erhellt, die armseligen Wände, den kleinen, nun längst erkalteten Ofen, ihr helles, billiges Sommerkleid auf dem zerschlissenen Stuhl, die lächelnden, leeren Puppengesichter in dem großen Raum hinter der halbgeöffneten Tür. Sie sieht die Jahre lautlos ziehen, blutige, tödliche Jahre zuerst, und dann graue, müde und erschöpfte Jahre, einen wenig geliebten, fremden Mann, Kinder in Armut und Not, Arbeit und Schmerzen, und hinten, ganz weit hinten, am verdämmernden Anfang des Weges, unwirklich schon wie ein Traum, das Kind aus dem Walde, mit der Wange an ihre Brust geschmiegt, als ob es aus ihr trinken wollte, aber die rechte Hand fest geschlossen, wie um eine eherne Lanze gelegt, ein junger Gott im flüchtigen Schlaf, aber schon zu seinem Wege bereit, zu einem Wege, der im fernen Staub verdämmert, wo die Trommeln rufen und die große Sense mäht.

Und zwei schwere Tränen sammeln sich ganz allmählich in ihren Augen, füllen sich in den Winkeln der Lider und rollen langsam an den Wangen herab, auf das blaugewürfelte Kissen, wo sie in dem rauhen Leinen in zwei dunklen Kreisen versiegen.

In den letzten Oktobertagen fiel Jakob Jeromin. In einem der dunklen Wälder fern im Osten, an einem der dunklen Ströme mit den seltsamen traurigen Namen. Er fiel, während er auf Horchposten stand. Eine verirrte Kugel hatte ihn ins Herz getroffen. Der Oberförster schrieb einen langen Brief an Marthe, den Brief eines einsamen Mannes, der seine letzte Freude verloren hatte, und ein paar Tage später kam Herr von Balk nach Sowirog, der es wußte, weil er in einem Nachbarabschnitt gelegen hatte. Er kannte den Oberförster, und ein paar Tage vor Jakobs Tod hatte er auch diesen gesehen. Er hatte nicht gewußt, daß sie so nahe beieinander waren.

Er saß vor dem Herdfeuer des neuen Hauses, ein müder Mann mit grauem Haar, und erzählte, was er wußte. Ja, Jakob hatte es erwartet, daran war kein Zweifel. Er war nur verwundert und fast leise ungeduldig gewesen, daß es sich noch nicht ereignet hatte. Er hatte einen schönen Tod gehabt, und es gebe eine Menge Leute, die ihn beneideten. Mehr, als sie ahne.

Sie stand am Herd und rührte in der kochenden Milch. Ihr Gesicht war nun wie aus Stein. Ein fremder brauner Marmor, über den ein Geflecht zarter bläulicher Adern lief. »Er hat es nicht allein gewußt«, sagte sie nur.

Er trank eine Tasse von der heißen Milch und stand dann auf. »Ich fahre zu Jons«, sagte er. »Muß sowieso in die Stadt.«

Als er in der Tür stand, glitt ein Schimmer des alten spöttischen Lächelns um seinen schmalen Mund. »Jetzt ist es wohl zu spät, Marthe«, sagte er.

»Es war immer zu spät«, erwiderte sie. Sie spülte schon seine Tasse im heißen Wasser aus.

Aber sie schrieb es doch sofort an Jons, damit er es von ihr erfahre.

Diesmal saßen sie nicht in der Halle des Hotels, sondern vor Jumbos Ofen, in dem schon ein kleines Feuer brannte. Balk hatte seinen eigenen Wein mitgebracht und trank in kleinen Schlucken. »Man verlernt das draußen, Jons«, sagte er, »Worte darüber zu machen. Es ist so selbstverständlich, wie daß jetzt die Blätter fallen. Nur Dichter und alte Mädchen klagen über den Blätterfall. Er war so etwas wie ein Heiliger in der Kompanie. Sie hatten längst verlernt, über ihn zu lachen. Wie sie überhaupt das Lachen verlernen werden. Eine gute Spur geht dir voran, Jons, eine gute und gerade Spur. Keine Richtung zu verfehlen.«

Er werde sie nicht verfehlen, sagte Jons finster.

Balk zog die Augenbrauen hoch. »Keinen Hader, Jons. Mit dem Staat etwa. Ebensogut kannst du mit dem Sternbild des Perseus hadern. Natürlich war er zu alt, und sie haben genug Schweine, die sich hier herumdrücken. Aber draußen brauchen sie eben Soldaten und keine Schweine. Und er war ein Soldat, verstehst du? Keiner von denen, die ihren Rock aufreißen, um Lanzen in ihre Brust zu bohren und nachher von einem Gedicht verewigt zu werden, das die Sextaner aufsagen. Weiß Gott, was er vom Krieg gedacht hat. Nichts Schmeichelhaftes wahrscheinlich. Aber er hat es für sich behalten. Die besten Soldaten, Jons, die ihre Meinung über den Krieg für sich behalten. Gibt auch solche, die an jedem Morgen ankündigen, daß sie ihr ›Blut verströmen‹ wollen. Zum Kotzen, solche Burschen. Patriotische Blutspender. Er wollte es nicht verströmen. Wußte ganz genau, daß Blut nicht zum Verströmen da ist. Aber er hat es verströmt, verstanden? Eine ordentliche Ehrentafel haben die Jeromins, Jons. Sauberer als mancher regierende Herr. Schreibe deinen Namen dazu, Jons. Auf die weiße oder die schwarze Seite, das ist mir gleich. Aber schreibe ihn!«

Ob der Herr von Balk glaube, daß er nicht schreiben wolle, fragte Jons böse. Weshalb rede er so viel davon?

»Recht so, Jons. Gib es ihm! Schwatzhaft geworden im Urlaub. Kommt von den großen Wäldern da unten, wo du verlernst, auf zwei Beinen zu gehen. Kein Wort mehr davon. Zusehen, wie wir der Mutter helfen können. Eine große Frau, Jons. Eine Makkabäerin. Singt noch Lieder, wenn ihre Kinder im Feuerofen schmoren.«

Er sprach allein, und er hatte es die ganze Zeit gemerkt. Es war ihm schwerer gefallen, als Jons annahm. Er trank seinen Wein aus, stand auf und glitt wie Jumbos Vater mit der Hand an den Bücherreihen entlang. »Da stehen sie nun und schweigen«, sagte er endlich. »Verfluchte Schweinerei ...«

Jons fragte ihn nicht, was er meine. Er brachte ihn durch den dunklen Gang bis zur Tür und sah ihn die Treppe hinuntersteigen. »Das nächste Mal, Herr von Balk ...«, sagte er mühsam.

Die weißen Handschuhe winkten. »Schon gut, Jons, schon gut ... war ein Esel. Vergessen, daß ihr am Meiler aufgewachsen seid. Auch Rittmeister können Esel sein. Berittene Esel sozusagen.«

Die hellen Sporen verklangen, und die Tür fiel zu.

Zurück zu dem kleinen Feuer, wo noch die leere Flasche stand. Das Feuer war das Lebenselement der Jeromins. Der Großvater war in ihm gen Himmel gefahren, den Vater hatte es Tag und Nacht erfüllt, in seine eigenen frühesten Träume hatte es geschienen. Die Flamme verbrennt, die Kohle bleibt. Die Namen erlöschen, aber die Ehrentafel bewahrt sie auf. Weiße Seite und schwarze Seite. Kein Strohtod, sondern den Tod auf dem Moos. Ob er schreiben wollte ... weshalb sollte er nicht schreiben? Sie hatten keine zittrigen Hände im Geschlecht, auch nicht, wenn sie hundert Jahre alt wurden. Weder Fischer noch Köhler, weder Knechte noch Ärzte. Und weshalb hadern? Da würde Gott viel zu tun haben, wenn alle Söhne und Mütter und Frauen mit ihm hadern wollten, auf der ganzen Erde. Für ein paar Jahre ließ er sich nicht sprechen. »Verreist.« Aber wohin? Gleichviel. Zum Sternbild des Perseus etwa. Tausend oder hunderttausend Lichtjahre. Alles verjährt, bis er wiederkam. Tod und Verstümmelung, Marter und Pein. Wiederaufnahmeverfahren abgelehnt. Beweise verschwunden, Kreuze vermodert, Särge zerfallen. Neues Blut zum alten geflossen. Spuren verweht und versunken.

Die Glut im Ofen erstarb, das Gesicht aus Flamme, Kohle und Asche erlosch. Nur die beiden Augen blieben, leuchtende Augen, die von der Schwelle aus über das Dorf geblickt hatten. Zukunft war auch über den grauen Dächern, und in den Reihen der Zukunft stand sein Sohn. ›Wasserbäche am dürren Ort, Schatten eines großen Felsen im trocknen Lande‹ ... Wo waren Verheißung und Verkündigung? Lieber Vater ... lieber Vater ...

Erst unter Margretas Händen lösten sich Starre und Bitterkeit. »Du denkst nicht mehr, wie wir denken, Jons. Nur die Herren hadern, wir hadern nicht mehr. Weine ruhig, Jons, weine ruhig. Das dürfen wir noch. Lieben und weinen ist uns noch geblieben ...«

Noch einmal saß sie über ihm, die verarbeiteten Hände in seinem Haar, und fühlte seine Tränen durch ihr Kleid bis auf ihre Haut brennen, und während sich ihre Finger langsam und tröstend bewegten, immer hin und her, sah sie mit großen, stillen Augen über ihn hinweg, über seinen und ihren Schmerz. Die Straße der großen Schmerzen entlang, und zu beiden Seiten der Straße sah sie andere Frauen kauern, stumm wie sie, den Kopf eines Mannes im Schoß, eines Erschöpften oder Erschlagenen, eine neben der andern, kleiner und kleiner werdend, und am Ende der Straße, wo die beiden Reihen zusammenliefen, erglänzte kein schönes Symbol, keine aufgehende Sonne, kein erhobenes Kreuz, sondern sie verschmolzen mit der Dunkelheit, einer rötlich glühenden Dunkelheit, die wie über tiefen, feurigen Öfen stand.


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