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Einundzwanzigster Abschnitt.


Ich soll ein Student werden und ein wohltätiger Kobold greift für mich zum Bettelstabe. Der Eva widerfährt eine unverhoffte Ehre. Ich scheide aus dem Schneckenhause, womit diese Geschichte ihr Ende findet.

 

Schon seit längerem glaubte man in unserer Freundschaft sowie im Kreise wohlmeinender Nachbarn und vielmeinender Nachbarinnen zu erkennen, daß ich nicht zum Fabrikler oder Wollbuben geboren sei, sondern daß ich das Zeug habe, mich unter Beihilfe der lateinischen Sprache und anderer Wissenschaften in die höheren Stände der Kopfarbeiter empor zu schwingen und so ein leichteres Brötlein zu finden.

Einmal war es noch immer unvergessen, daß ich unter der heiligen Taufhandlung ein mörderisches Geschrei erhoben und also nach der maßgeblichen Ansicht des wunderalten Weibleins mein Verlangen nach dem Predigtamte unzweideutig genug geoffenbart hatte.

Sodann haftete es der gesamten Freundschaft immer noch frisch in der Erinnerung, wie ich vor Jahren schon meinen Wissensdrang durch Ausreißen von Türkenpflänzlein gezeigt hatte und wie ich vorzeitig und ganz allein zur Schule gelaufen war und zwar kecklich genug gleich in die oberste Klasse hinein, ohne daß mich ein Mensch dazu beredet oder irgendwie aufgemuntert hätte.

Meiner großen Vorliebe für Geschichten und wie ich, wenn mir ein Buch in die Hände fiel, jegliche Arbeit liegen und stehen und selbst das von der Jugend so sehr begehrte Essen kalt werden ließ, gedachte man gleichfalls, nicht zum mindesten aber des Umstandes, daß ich als Oberministrant gleichsam die Kirche beherrschte und mich am heiligen Orte früh und spät geschäftig machte und geziemend betrug.

Auch ging ich damals in die Zeichenschule und zeichnete mit großer Vorliebe allerlei Kreuzformen, was alle, die meine Kunstwerke erblickten, dahin deuteten, daß ich zweifelsohne zu etwas Höherem bestimmt sei und wahrscheinlich einmal ein recht frommer Geistlicher werden würde.

Ich selber war auch dieser Ansicht und las nun täglich zwei- und dreimal meine Messe; doch die Eva schüttelte den Kopf und meinte, so lieb ihr das auch wäre, so könne doch niemand wissen, wohin sich so ein Büblein wenden und wie es sich einmal entschließen werde, das Büblein selber am allerwenigsten. Ein braver Geistlicher und eifriger Seelenhirte, das sei wohl das Schönste auf Gottes Erdboden und für eine Familie eine gar große Ehre; ein erzwungener Geistlicher aber, der seinen heiligen Stand schände und doch nimmer zurückkönne, das sei das größte Unglück für ihn selber und für viele tausende, und davor möge mich Gott bewahren.

Das war die Ansicht der Eva über den geistlichen Beruf.

Da sich nun unsere Vermögensverhältnisse seit dem Scheiden des Stiefbruders so gestaltet hatten, daß man mir wenigstens einen Zehrpfennig in die Fremde mitgeben und die Kosten für Wohnung, Bekleidung und die teuern Bücher bestreiten konnte, so hatte die Eva nichts dagegen, daß ich den Versuch machen und das Studieren nach dem Sprichworte halt einmal probieren möge.

Besonders der Hilfsgeistliche an unserer Pfarrkirche, ein junger, für seine heilige Sache begeisterter Priester, der den Familiennamen Kobald führte, den die Leute aber seiner Frömmigkeit und kindlichen Unschuld halber den heiligen Aloisius nannten, hatte mich in sein Herz geschlossen und ließ nicht nach, die Eva und den Vormund Ludwig zu bestürmen, bis diese endlich nach langem Erwägen das Jawort gaben.

Es konnte aber selbst dem oberflächlichsten Rechenmeister nicht verborgen bleiben, daß meine geringe Habe für die lange Dauer der Studien völlig unzureichend sei und daß ich mein Vorhaben ohne die Hilfe wohltätiger Menschen unmöglich ausführen könne; denn mein Geldlein hätte bei der größten Sparsamkeit, so ich davon hätte leben wollen, kaum für drei, geschweige denn für zwölf Studienjahre gereicht.

Also gedachte man, mich nach altem Brauche armer Schüler um den Gottesdank an den Tischen wohlhabender und mildtätiger Bürger des Studierstädtleins herum essen zu lassen; einstweilen aber fing mein geistlicher Gönner an, mich und meinen Freund Wilhelm, in dessen Prachtkleid ich das Hochzeitsfest des Bäsleins Nanne und des Vetters Eduard verherrlicht hatte und der gleichfalls die Leiter der Wissenschaften hinanklettern wollte, in die Geheimnisse der lateinischen Sprachlehre einzuweihen und uns mit den Schwierigkeiten der Wortbiegung und mit den schnurrigen gereimten Geschlechtsregeln soweit vertraut zu machen, daß wir den ersten Angriffen der furchtbar strengen Professoren gewachsen zu sein hoffen durften.

Wirklich prägten sich die von den heutigen Gelehrten als blühender Unsinn verschrieenen Verslein unserm Gedächtnisse so unvertilgbar ein, daß es meine Zeitgenossen, selbst jene, die sich nach ihren Studien wenig mehr um die edle Sprache der Römer gekümmert haben, in diesem Punkte getrost mit jedem Gymnasiasten der allerdings viel denkrichtigeren und doch das Seelenleben des Kindes viel weniger erfassenden Gegenwart aufnehmen können.

Als wir so etliche Monate hindurch ein Blatt der Sprachlehre nach dem andern in uns hineingearbeitet und ich dem kleinen Toni, dem ersten Kinde der Vettersleute in der Großmutterstube, alle Verslein beim tagelangen Wiegen manch liebes tausendmal in die Ohren geschrien hatte, weshalb er später wirklich ein Geistlicher worden ist, da sagte mein Gönner eines Morgens im September vor der Frühmesse, bei der ich wie gewöhnlich diente:

»Bub, jetzt sammeln sich die Schwalben bereits aus dem Dache des Kirchturmes und mahnen dich, du mögest dein Bündel schnüren; denn

Um Mariä Geburt
Ziehen Schwalben und Studenten furt!

Da ich mir's aber einbilden kann, daß sich deine Leutlein in der stockfremden Stadt nirgends auskennen und wohl auch keinen einzigen Kostort finden täten, so will ich mich nach der heiligen Messe auf die Beine machen und einmal selber nachschauen, ob's da unten noch, wie zu meinen Zeiten, gute Leute gibt, die einem dickköpfigen und großohrigen Walgaubüblein, das nun einmal ein Herr werden will, ein Essen gönnen. Bete also recht inbrünstig, Bub, daß Gott meine Schritte segne und daß ich nicht mit leeren Händen wiederkehre heute abends!«

So sprach der Freund meiner Jugend, und als er das Opfer gefeiert und ich meine ganze Andacht zusammengenommen hatte, ging er den wohl vier gute Glockenstunden langen Weg ins Studierstädtlein, lief den lieben langen Tag von Gasse zu Gasse, von Haus zu Haus, Treppe auf, Treppe ab, und kam spät am Abend noch in unser Schneckenhäuslein, wo wir beklommenen Herzens und in ernsthaftem Gebete des Ausgangs der Dinge harrten und uns bei jedem Geräusche der Türe zuwendeten.

Und da trat er ein, schwer ermüdet und doch mit lächelndem Antlitze, zog einen Zettel hervor und sagte:

»Sie sind noch eben so gutherzig und mildtätig im Studierstädtlein wie ehedem und etliche Studentlein finden allweil noch Platz an ihren Tischen! Auf diesem Zettel stehen sechs Häuser, die dich köstigen, jedes einen Tag der Woche; das siebente aber müßt ihr schon selber suchen, weil mich die Nacht überrascht hat, ehe ich's hab' finden können!«

Ich habe den Zettel noch ... in meinen dankbaren Gedächtnisse und könnte hier die Namen derer nennen, deren Kinder und Kindeskinder meine Freunde sind; doch sie gaben nach den Worten der Schrift, also daß ihre Linke nicht wußte, was die Rechte spendete, und die Guttat war ihnen Lohnes genug.

Mögen ihre Enkel wissen, daß das Studentlein die milden Großeltern bis zu seinem Ende im Herzen trägt, und mögen sie sich die schönsten Zinsen der Wohltat an armen Studierbüblein auch ferner verdienen!

Ich war damals überglücklich und erklärte ohne langes Besinnen, wenn ich sechs Tage in der Woche mein Essen habe, so bringe ich es wohl zuwege, am siebenten Tage mit den Gemalten zu tafeln, d. h. zu hungern; ich wolle schon wacker einhauen vorher, daß ich mir über den magern Tag hinüberhelfe, und brumme der Magen gar zu sehr, so sei ja eben der Bruder Hippolyt, der Pförtner des Kapuzinerklösterleins, ins Studierstädtlein versetzt worden und der habe allweil einen Korb voll weißen, duftenden Türkenbrotes in seiner Zelle für wandernde Handwerksburschen, irrende Zigeuner und andere Schwerenöter, und also werde er das Ministrier-Joseflein gewiß nicht verkommen lassen.

Dieser heldenhafte Vorsatz, bei vollem Brotkorbe hungern zu wollen, nötigte meinem wohltätigen Kobolde ein Lächeln ab. Er klopfte mir auf die Achsel und ermahnte mich, den Zettel ja nicht zu verlieren und bei meiner Ankunft im Studierstädtlein sogleich zu allen Familien zu gehen, sowie auch zum Leiter der Schule, bei dem er mich bereits angemeldet habe.

Ehe wir aber allen Ernstes an die Abreise denken konnten, waren noch einige Schritte zu tun, die der guten Eva unendlich sauer vorkamen. Das in die Fremde ziehende Büblein mußte nämlich mit allerlei Schriftstücken ausgestattet werden, die den Beweis liefern sollten, daß es geboren, getauft und geimpft sei, daß es lebend und tot der Gemeinde Bludenz angehöre, daß es bislang eine Schule besucht und zur Errichtung des Turmes der Wissenschaft den Grundbau gelegt habe.

Da hieß es mit allerlei teuern Stempelmarken von Pontius zu Pilatus laufen und dergleichen ist den Leuten aus dem Volke allweil zuwider, und der Heimatschein mit der »Personsbeschreibung« mußte nun gar von demselben Bürgermeister ausgefertigt werden, der die Eva eines unwürdigen Verdachtes halber so schwer gekränkt und ihr Herz beinahe gebrochen hatte.

Aber die Eva machte es wie ein vernünftiger Kranker, der süße und bittere Heilmittel zu nehmen hat. Der schluckt den bittern Trank schnell hinunter und gießt die süßen Tropfen obendrauf.

Also nahm mich die Eva bei der Hand, führte mich zuerst ins Rathaus, klopfte an die Türe des Stadtobersten und schob mich vor sich her gegen den Schreibtisch des Bürgermeisters.

»Der Bub da braucht einen Heimatschein,« sagte die Eva eiskalt und schaute an die Stubenecke nach einer Fliege, die sich eben ein Plätzlein aufsuchte, wo sie den Winter über gut und sicher schlafen möchte.

Der Bürgermeister kritzelte noch etliche Minuten fort, ohne unser zu achten. Hierauf nahm er die geduldige Kielfeder quer in den Mund, schüttete das Sandfaß über die fertige Schrift, bog diese zu einer Rinne und ließ den Goldsand wieder ins Geschirrlein zurückrieseln.

Dann erst blickte er auf, erkannte uns und sagte freundlich:

»Wa ... wa ... was muß ich sehen? Ei, guten Tag, Eva! Wa ... was wär' g'fällig?«

»Der Bub da braucht einen Heimatschein,« sagte die Eva womöglich noch kälter und beschäftigte sich so angelegentlich mit der sich nach einer Heimat umtuenden Fliege, daß der Bürgermeister leicht merken konnte, er sei vor der Jungfer Eva soviel wie die Null vor dem Einser.

Deshalb suchte er um den Einser herumzukommen, selbst auf die Gefahr hin, die Eva in ihrem Werte zu heben.

»Ist schon recht, Eva, ist schon recht! Den Schein soll er gleich haben, der Bub, und er soll nur wacker darauf los studieren, auf daß er dir noch viele Freuden macht, der Bub.«

Die Eva verfolgte die Fliege mit ihren Blicken in den Herrgottswinkel, der damals noch selbst in den Amtsstuben nicht fehlte, und meinte etwas wärmer: »Geb's der lieb' Gott, daß er brav bleibt; sonst macht einem so niemand eine Freud' auf der Welt, wenn's nicht die Kinder täten!«

Dann beschäftigte sie sich wieder angelegentlich mit der Fliege und sagte so kalt wie zuvor:

»Und bis wann kann er ihn überkommen, den Schein, der Bub?« Ich habe eben keine Zeit, hier Maulaffen feil zu haben; denn ich muß haspeln Tag und Nacht, daß die Buben etwas zu essen haben und daß wir nicht alle miteinander nackt umhergehen müssen.«

Jetzt nahm der Bürgermeister einen tüchtigen Anlauf, um endlich einmal um die böse Eins herumzukommen. Er legte die Feder aufs Tintengeschirr, stand auf, kam auf die Eva zu und sagte:

»Eva, jetzt sei gescheit, und wenn du eine gute Betschwester bist, so verzeihe mir und dem Vormund des seligen Friedrich, was wir dir und ihm, dem Scheine und einem Bösewicht Glauben schenkend, in der Hitze angetan haben! Wir sind halt auch Menschen und haben viel zu sorgen und zu kümmern im Großen, also daß wir des Kleinen oft zu wenig achthaben, und wir können halt auch nicht jedem ins Herz hineinschauen, sonst hätten wir wohl früher schon gewußt, daß du ein goldenes hast, Eva, und mit Unrecht bist verschrieen worden.«

Da überließ die Eva die Fliege ihrem Schicksal, wandte ihr Antlitz gegen den Bürgermeister und zwei schwere Tränen entquollen ihren großen, treuen Augen und fuhren schnell über die Wangen zutal.

»Verziehen,« sagte sie wehmütig, »verziehen hab' ich euch allen und selbst dem Buckel schon lange; denn wie dürfte ich den Leib des Herrn empfangen, wenn ich das Gebet des Herrn nicht in aufrichtigem Ernste spräche? Aber ... vergessen ... vergessen kann ich mein Lebtag nimmer, was mir Leides ist geschehen und denen, die in meiner Hut stehen, und dem armen Friedrich, den sie unter den Boden gebracht haben!

Und könnt ihr die Flaumfedern einer Bettdecke wieder alle einfangen, wenn ihr sie ausgeschüttet habt auf hohem Berge und wenn der Wind sie zerführt hat in alle Weltgegenden?

Ebensowenig könnt ihr mir den guten Namen und die Ehre wiedergeben, die ihr mir geraubt habt, und also muß ich das schlechte Mensch bleiben bis zu meinem letzten Atemzuge oder bis ein Mächtigerer, als ihr seid, mir wiedergibt, was ihr mir leichtfertig gestohlen habt

Verlangt also nicht, daß ich euch mit ganz besonderer Liebe in mein Herz schließe und vergesse, was ich verziehen habe; denn das geht über meine Kräfte!

Diese aus der Tiefe des Gemütes quellenden Worte der Eva gingen dein Bürgermeister zu Herzen, und da er im stillen schon längst zur Erkenntnis gekommen war, man habe der Eva schändlich Unrecht getan, so entschloß sich der brave Mann, die Gelegenheit zu nützen und seiner persönlichen Schuld ledig zu werden.

Also faßte er die Eva bei der linken Hand, schob selbe unter seinen rechten Arm und sagte lächelnd.

»Eva, du magst wohl recht haben mit deinen herumfliegenden Flaumfedern und ich erkenne leider, daß es schier unmöglich sein wird, allen Lästermäulern im Ländlein, allen Klatschbasen vom Arlberg bis zum Bodensee den Mund zu stopfen; aber hier im Städtlein wenigstens sollen die Leute sehen, was ich von dir halte und wie ich dich schütze, und wenn der Bürgermeister mit dir Arm in Arm durch alle Gassen geht, so wird sich hoffentlich niemand mehr getrauen, dir etwas Böses nachzusagen!

Verwehr dich nicht, Eva, und laß mich wenigstens einigermaßen wieder gut machen, was ich gefehlt habe!«

Also führte der Bürgermeister die sich anfangs sträubende Eva unter freundlichen Gesprächen durch alle Gassen des Städtleins und ich hielt mich an ihrer Schürze fest und ging auch mit.

Nur als der Bürgermeister mit uns im Postwirtshaus, dem ersten und vornehmsten Gasthof, einkehren und uns ein Ehrenmahl auftischen wollte vom Feinsten und Besten und Teuersten, was dort zu haben war, da weigerte sich die Eva zu meinem größten Ärger und trotz meines wiederholten Schürzezupfens auf das entschiedenste, die wohlgemeinte Ehrung anzunehmen.

Sie sagte:

»Wenn das Herz voll ist, kann der Magen nichts aufnehmen und die Kehle wird einem nicht nur vom Leid zugeschnürt sondern auch von der Freud'!«

Mein Magen hätte schon etwas ausnehmen können: er war damals noch nicht so empfindlich!

Also gingen wir an der Post vorbei und der Bürgermeister sagte lächelnd:

»Mich nimmt nur ums Himmelswillen wunder, woher dir diese Weisheit kommt, daß du mit jedem Worte den Nagel auf den Kopf triffst, und hast doch in den Schulen beinahe gar nichts gelernt!«

Sagte die Eva:

»Daß ich etwas Gescheites gesagt hätt', weiß ich nicht; aber wenn meine Red' manchmal gescheiter ist als ich selber, so mag's wohl gerade daher kommen, weil ich nicht lange überleg', sondern kurz heraussag', wie ich s drinnen hab' und wie's mir ums Herz ist. Ich mein' halt, unser Herrgott hat's jedem recht ins Herz gepflanzt; aber der Verstand und die Berechnung und die Klugheit und die Hinterlist und die Selbstsucht, die halten Wache und wollen das Gute nicht herauflassen.«

»Na,« erwiderte der Bürgermeister, »jetzt redest beinahe gescheiter als zehn geprüfte Dökter der Weltweisheit; nur würden's die in eine Formel fassen und meinen, du seiest halt eine Natur, und die Gottesgelehrten täten hinzufügen, du seiest eine durch das Christentum veredelte Natur.«

»Und jetzt,« sagte die Eva lachend, »jetzt steht mir der Verstand still und ich begreife nimmer, was Ihr meint! Und mein Haspel steht auch still und kennt sich nimmer aus, was mit der Eva los ist auf einmal. Da ist's am allergescheitesten, wir gehen heim und ich hebe wieder zu drehen an, drehst nicht, so gilt's nicht.«

Also gab uns der Bürgermeister das Ehrengeleite bis in den Hof des Schneckenhauses in der Mühlgasse, und wo wir vorbeikamen, stürzten alle Leute aus den Verkaufsgewölben in die Gassen und streckten ihre Köpfe aus allen Fenstern und lüfteten die Hüte und winkten und nickten und von Stunde an hatte die Eva im Städtlein lauter Freunde und es war niemand, der an ihr auch nur ein böses Härlein aufzufinden suchte.

Für mich aber rückte der Tag, an dem ich mein Schneckenhaus verlassen sollte, immer näher heran.

Schon waren die Schwalben über alle Berge, schon hatte ich alle zur Aufnahme in das Gymnasium nötigen Schriftstücke beisammen und las im Heimatschein täglich sechsmal mit ganz besonderer Wonne die Worte »besondere Kennzeichen ... keine,« schon hatte der Fuhrmann mein Bett und andere unentbehrliche Habseligkeiten ins Studierstädtlein entführt, schon war mir ein Ränzel geschnürt worden, daß ich's leichter auf dem Rücken trage, da kam der letzte Morgen über die Berge des Klostertales herein und mahnte mich an die Pflicht des »Behütens«.

Also ging ich zu allen Verwandten und Bekannten, zu allen Nachbarn und Freunden und streckte die Rechte gegen sie aus und sagte:

»So, jetzt b'hüt Gott!«

Und sie gaben mir viele wohlgemeinte Lehren, deren sie genug hatten, und wenig Reisegeld, woran sie selber Mangel litten, mit auf den Weg. So erhielt ich vom guten Vetter Eduard ein schweres Vierkreuzerstück mit der Mahnung, recht sparsam zu sein, und andere beschenkten mich in ähnlicher Weise, also daß ich meine Studien ganz getrost beginnen konnte.

Zuvor aber suchte ich zum letztenmale alle die schönen Plätze heim, wo ich geträumt, gelebt, gejubelt und auch gelitten hatte.

Ich kniete in der Kirche, wo ich der Gnaden überreiche Fülle genossen und den Engeln gleich dem Herrn gedient hatte, ich stand an den Gräbern meiner Eltern und Geschwister und erflehte mir die Fürbitte der in Gott Seligen, ich umschlich das Schneckenhaus am Marktplatze, wohin mich der Ruprecht vor zwölf Jahren gebracht hatte, ich blickte in die falben Wipfel der Kastanienbäume, in denen meine Höslein so arg waren mitgenommen worden, ich sah das Dorngestrüppe, durch das ich barfuß ins himmlische Jerusalem hatte pilgern wollen, ich ging zur Stelle, wo einst die wilden Tiere geheult und meine Märchenprinzessin Emma mich mit schillernden Federn geschmückt hatte, ich ließ mein umflortes Auge zum fernen Bergwalde schweifen, wo ich nebst dem Holze für unsere Küche das Gold des Burgfräuleins von Rosenegg gesucht und das Gold der im Tannendunkel irrlichternden Sonnenstrahlen gefunden hatte, ich schritt allein durch Feld und Au, und, so jung ich war, ich empfand es doch: der Traum meiner Kindheit war ausgeträumt, des Lebens schönste, wonnigste, seligste Zeit, sie war entschwunden und kehrte nie und nimmer zurück!

Mittags gab's ein Schöpplein Wein zum Abschiedstrunke.

Hierauf segnete mich die gute, wortarme und tieffühlende Senza, die Heldin der Arbeit und der Liebe, und eilte, die Tränen verbergend, in die Fabrik. Dann segnete mich die Mutter Eva mit dem geweihten Wasser und dann gaben sie und mein Brüderlein Lorenz, dem ich, da er des Stammelns Herr geworden, meine Ministrantenwürde vererbt hatte, und das Brüderlein Johann, das mein Ränzlein trug, mir das Geleite mehr denn eine halbe Stunde talab bis zur zweiten Illbrücke und bis zum Bildnisse des gekreuzigten Heilandes, das am Wege den müden Erdenpilger zur duldenden und hoffenden Ertragung aller Leiden aufmunterte.

Hier hielten wir an und warfen uns auf die Knie und beteten mit lauter Stimme zu unserem Gotte und riefen die Himmelskönigin an, von der es nie erhört worden, daß sie einen verlassen hätte, der zu ihr seine Zuflucht nahm, und dann ... band ich mein Ränzlein um und schwang mein Wanderstüblein und ging, nun erst eine Waise, in eine unbekannte, fremde Welt und in eine ungewisse Zukunft, um mir mein Glück zu gründen.

Ich hätte mich am liebsten hinter der nächsten Heuhütte auf den Boden geworfen und hätte am liebsten geweint .... wohl stundenlang; allein ich wollte meinen Lieben, die mir mit jedem unserer Schritte immer mehr entschwanden und immer wieder zurücksahen und mit ihren Tüchlein winkten, das Herz nicht noch schwerer machen.

Deswegen band ich mein Tuch an mein Stöcklein, schwang es in den Lüften und hüpfte wie ein mutwilliges Lämmlein und jauchzte, so laut ich konnte, bis mir der nächste Hügel, ach, nur zu früh, den Anblick der teuern Menschen entzog, die vielleicht allein ein Herz für mich hatten.

Man kann auch im Schmerze tanzen und jauchzen!

Und die Eva eilte mit den ihr gebliebenen Kindern heimwärts und drehte den Haspel Jahr für Jahr und die Senza lief gleich einem Wiesel in die Fabrik Jahr für Jahr und das Glück der heiligen Armut wich nicht von ihnen; denn sie waren reinen Herzens und schauten Gott schon hier auf Erden und die Werke, so sie in aufopfernder Selbstlosigkeit übten, waren die Wonne ihres Lebens. Die Fortsetzung und den Schluß dieser Selbstbiographie findet der Leser in den Büchern »Im Studierstädtlein« und »An der Hochschule«.

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