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Achter Abschnitt.


Mein Vater ist ärmer, als ich glaubte; dies bricht ihm das Herz und macht meine Mutter zur Witwe, uns zu Waisen

 

Der teilnehmende Leser weiß bereits, daß es mit dem Reichtume meines Vaters seine guten Wege hatte.

Während ich unverständiges Büblein wähnte, er habe die ganze Welt im Sacke, gehörte ihm eigentlich kaum eine Schindel auf dem Dache und kaum ein Apfel auf dem Baume; denn er war nur der Nutznießer dessen, was dem Bruder Friedrich gesetzlich zugeschrieben war, und das Erträgnis des kleinen Besitztums war viel zu gering, als daß es eine mehrköpfige Familie hätte erhalten können.

Also war des guten Vaters, einziges Erbteil die bittere Sorge, wie er seine Lieben nähren und kleiden möchte, und diese Sorge wuchs mit uns und zwang den ratlosen Mann, anstatt dem Hause ein Stockwerk aufzusetzen, dasselbe allsgemach abzutragen.

Die wenigen Wiesen gaben selbst in guten Jahren nicht so viel Heu, daß man ohne Zukauf mehrere Kühe hätte füttern und überwintern können. Nun kamen aber einige Mißjahre, die Heupreise stiegen ins Übermäßige, des Geldes war überall zu wenig und so wanderte eine Kuh nach der andern auf den Markt und bald konnten die Mäuse im leeren Stalle Kirchtag halten.

Waren die Kühe einmal fort, so erschien selbst das wenige Heu auf der Bühne als Überfluß und so wurde auch das in große Tücher gebunden, abgewogen und fortgeführt und unsere alte Katze, die sorgsame Minna, schaute sich auf den reinlich gekehrten Brettern vergebens nach einem weichen Lager für ihre Familie um.

Selbst das irgendwie entbehrliche Hausgeräte blieb vor der nun auch in unserm Schneckenhause überhandnehmenden Auswanderungssucht nicht verschont und ich gedenke heute noch mit Schmerzen einer schönen Stockuhr mit Marmorsäulchen und goldigen Knäufen und einem Rückenspiegel für das eitle, zierlich durchbrochene, leichtbeschwingte Pendel, die der Vater eines Tages zum Uhrmacher trug, auf daß er sie putze und einöle.

Ach, die gute Uhr, sie fand den Weg in unser Heim nimmermehr zurück und so oft wir darnach fragten, war sie immer noch nicht fertig geputzt und eingeölt.

Um auch etliche Kreuzer in die Wirtschaft zu bringen, verdingte sich der Vater, so schwer es ihm auch fallen mochte, bei den Nachbarn als Taglöhner, oder er trug den Feldmessern ihre Werkzeuge in einem großen Kasten über Berg und Tal und durch Sumpf und Busch nach.

Doch solche Arbeit wurde nur in wenigen Wochen des Jahres begehrt und das Handwerk seiner Jugend hatte er in der langen Militärzeit und bei seinen anderweitigen Beschäftigungen verlernt und konnte sich auch in die neue Mode nicht mehr hineinfinden.

Um jede unnötige Ausgabe hintanzuhalten, ging er den Sommer über mit einem Handkarren, auf dem wir jubelnd saßen, viel zu Walde, brach Dürrholz, grub Baumstrünke aus und sammelte so einen Wintervorrat für Ofen und Herd; aber all das wollte nicht reichen und die arme Mutter hatte oft wohl ein Feuer unter der Pfanne, d'rin jedoch weder Schmalz noch Mehl noch Salz, also daß wir manchen Tag mit höchstens drei Speisen vorlieb nehmen mußten, mit gesottenen oder gedämpften oder gebratenen Grundbirnen nämlich.

Zu all dem Elende kam noch, daß der Vater unvermutet vor die Vormundschaftsbehörde geladen und wegen unbefugten Kuh- und Heuverkaufes sowie noch mehr wegen gleichfalls unbefugter Verwendung des Erlöses als des unantastbaren Eigentumes des Sohnes Friedrich aus erster Ehe strenge zur Rechenschaft gezogen wurde.

Seine Verteidigung, der Hunger tue allen seinen Kindern gleich weh und er bringe es nicht übers Herz, ein Junges vollzustopfen, die andern aber zuschauen zu lassen, wurde zwar von der Menschlichkeit hinreichend befunden, nicht aber vom starren Buchstaben des Gesetzes. Demnach wurde für unseren Stiefbruder ein scharfer Vormund bestellt und der umwandelte unser oder vielmehr des Stiefbruders Schneckenhaus Tag und Nacht, streckte seinen langen Hals zu allen Fenstern herein, zählte die Obstbäume im Garten und die Ziegel auf dem Dache, hatte fortwährend zu brummen und zu schelten und bewachte so das Eigentum dessen, der nun einmal doch unser Bruder war und in seiner Gutherzigkeit seinen letzten Blutstropfen gerne mit uns geteilt hätte, beinahe eifersüchtiger, als es das Gesetz ihm vorschrieb.

Das alles und die Aussicht in eine noch trostlosere Zukunft kränkte und quälte den Vater dermaßen, daß er zusehends vom Leibe fiel und bald nur mehr wie ein Schatten in der Sonnenseite des Hauses fröstelnd auf und abschlich oder gebeugten Hauptes stumm auf dem Bänklein saß und ein Leben voll der Mühen und des Mißlingens überdachte.

Zuletzt legte er sich ganz nieder, um nimmer aufzustehen.

Da ging das Gerede durchs Städtlein, der »Grazer« habe eben die galoppierende Auszehrung, seine Lunge sei schon wie ein Sieb, und wenn er's noch ein paar Wochen ermache, sei es ein kleines Wunder.

»Und sein Weib, des Schneckennazis Katharina«, züngelten etliche Nattern, deren es überall, selbst im kleinsten Dörflein, genug gibt, »das hustet auch, daß es Gott erbarm', und pfeift auf dem letzten Loch und die kleinen Buben werden wohl auch bald ins Gras beißen, wo es am saftigsten sprießt; haben sie ja alle keine Hälse am Kopf und das ist das sicherste Zeichen, daß sich die Auszehrung in die Lunge genistet hat. Na – tröst's Gott; es geht ihnen so besser im Himmel, als auf Erden! Ja und der große, magere, gelbe Friedrich, dem gibt's in der Fabrik den Rest – er hat so nichts zuzusetzen – und dann fällt das Vermögelein wieder dorthin, wo's her ist, in die Freundschaft des ersten Weibes!«

Also wurde über uns alle etwas lieblos der Stab gebrochen, obschon wir noch lebensdurstig den Gottesodem schlürften, und die in den Nachbardörfern zerstreute Freundschaft des ersten Weibes rieb sich in der Erwartung der Stadterbschaft bereits die Hände und teilte in ihren Träumen die geringe Habe des Bruders, dem es in der Fabrik jedenfalls den Rest geben mußte.

Der arme Vater aber sah auf dem Schmerzenslager dem Tode ins Angesicht und seine treuen Augen füllten sich mit Tränen, so oft er einen Blick auf uns werfen wollte.

In seine Pflege teilten sich die kränkliche Mutter und die Base Eva. Diese schonte ihre eigene Gesundheit so wenig, daß sie bis zum Hinscheiden des Vaters die Tage bei der Fabrikarbeit, die Nächte am Krankenbette zubrachte und wochenlang des Schlafes beinahe gänzlich entbehrte.

Wie nun der Pfarrer mit dem süßen Gottestroste erschienen war und dem Sterbenden das Brot des Lebens als Reisekost in die Ewigkeit gereicht hatte, da sagte er zur Base Eva die bedeutsamen Worte:

»Das Leiden dieses Mannes hat beim Herzen angefangen; ihn hat die Sorge um die Seinen getötet! Du aber mache dich gefaßt, gute Eva: der Leidenskelch ist noch lange nicht bis zur Hälfte geleert und dich hat der Herr erkoren, ihn zu trinken, in Liebe und Entsagung. Doch sei getrost! Keinem wird mehr aufgebürdet, als er zu tragen vermag, und du hast kräftige Schultern, auch für ein schweres Kreuz; denn dich stärkt jener Glaube, der selbst Berge zu versetzen vermag, dich ermutigt jene Hoffnung, die selbst im Tode das Leben erblickt, dich beseelt die Liebe des Erlösers, der selbst am Kreuzesstamme seine Arme öffnete, um die ganze Schöpfung zu umfangen und an sein Gottesherz zu drücken.«

Da schaute die Eva dem Pfarrer mit ihren großen Augen voll ins Angesicht. Dann wandte sie ihr Haupt auf unsere Mutter, die am Bette des Scheidenden kniete und bitterlich weinte. Dann blickte sie auf uns, die wir zagend in der Kammer standen und kaum begriffen, daß uns unser Ernährer sollte genommen werden, und dann – nickte sie langsam und verständnisinnig und der Pfarrer nickte auch und drückte dem wackeren Mädchen die Hand.

Bald darauf lag der Vater in den letzten Zügen, die Nachbarn kamen mit brennenden Wachsrollen hereingestürzt, warfen sich neben der Mutter auf die Knie und beteten laut für die Seele, die so schwer schied, weil Weib und Kinder in blutiger Armut zurückbleiben mußten.

Die Eva aber nahm mich und mein Brüderlein bei der Hand und sagte leise zur Mutter:

»Das ist kein Anblick für Kinder!«

Sie führte uns, die willig Folgenden, in den nahen Friedhof.

Dort knieten wir vor ein Bild, das des Herrn Todesangst am Ölberg darstellte, falteten die Hände und beteten, von häufigen Tränen unterbrochen, für den sterbenden Vater den Rosenkranz, der des bittern Leidens und Sterbens unseres Heilandes gedenkt, des Gotteslammes, das die Sünden der Welt hinweggenommen und unsere Todesangst durch den Hinweis auf eine glückselige Ewigkeit gemildert hat.

Und wie der Rosenkranz zu Ende gebetet war, da hob die Eva die Hände hoch gegen den blutschwitzenden Heiland und rief mit einer Stimme, daß es selbst uns Kindern durch Mark und Bein drang:

»Herr, wenn es möglich ist, so gehe dieser Kelch an mir vorüber; doch nicht mein, sondern dein Wille geschehe, in Ewigkeit, Amen!«

Im nächsten Augenblick faßte sie uns fest bei den Händen und ging, infolge eines geheimen Vertrages, den ihr Herz mit dem göttlichen Herzen geschlossen hatte, jetzt schon unsere Mutter, mit uns nach Hause.

Auf dem Heimwege erzählte sie uns gar vieles von der Schönheit des Himmels und wie die Seele des Vaters eben gleich einer weißen Taube hinaufgeflogen sei und von nun an allweil auf uns herabschaue, ob wir wohl brav wären und in allen Stücken gehorsam. Wären wir nicht brav, dann müßte er selbst im Himmel weinen und die Engelein alle mit und dann täte es so viel regnen, daß auf den Feldern alles zugrunde gehen würde.

So kamen wir nach Hause und erblickten des Vaters irdische Hülle, kalt und starr, in den gefaltenen Händen das Zeichen der Erlösung, zu Füßen das geweihte Wasser mit dem Buchsstäudelein, zu Häupten brennende Kerzen, das Sinnbild des Fortlebens auch nach dem Scheiden.

Die Mutter stand in der Küche und bereitete für Freunde und Nachbarn, so zur Totenwache kommen sollten, einen stärkenden Kaffee und hustete viel, wenn sich ein Rauchwölklein in ihren Atem mengte, und weinte und sprach uns gleichfalls liebreich zu, daß wir brav sein und des Vaters täglich im Gebete gedenken möchten.

Es kamen auch in den folgenden Tagen viele in die Leichenkammer, um dem Geschiedenen das Weihwasser zu geben, und ich stand ohne Bangigkeit oder Furcht an dem Bette und deckte das Antlitz des teuren Toten auf, wenn es jemand zum letztenmale zu schauen begehrte.

Und dann – ja dann kam der Totentischler und hämmerte darauf los, daß uns die Nägel, obwohl wir uns in den fernen Holzschuppen geflüchtet hatten, mitten durchs Herz gingen, und der Totengräber schleuderte die schweren Schollen vor unsern Augen mit geschäftsmäßiger Eile und Gleichgültigkeit auf den Sarg, daß es nur so polterte und Steine und Knochenreste hoch aufhüpften.

Die Mutter sagte noch lange, die Schollen seien ihr aufs Herz gefallen und deswegen atme sie immer schwerer und schwerer, und hätte sie damals der Schlag getroffen, wär's kein Wunder gewesen; aber deswegen dauerte es doch auch in meiner Heimat noch gar manches Jahr, bis die Begräbnisordnung auch zartfühlend wurde und davon abstand, die Hinterbliebenen nach besten Kräften zu foltern.


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