Josef Wenter
Monsieur, der Kuckuck, der Sonderbare
Josef Wenter

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Sehnen – Wandern

Das Jahr stand aufrecht. Unermeßliches hatte es geschaffen, gebeugt unter herrische Sonne. Jetzt hielt es Tafel auf geschmücktem Plan und lud zu Gaste mit heiterer Gebärde. Klaren Antlitzes schritt es durch den festlichen Raum. Aus schimmernder Wölbung höherer Kuppel strahlte ihm eine besänftigte Sonne, und in feuchterem Glanz funkelten die Sterne auf den Baldachinen tieferer Nacht. Sorgloser löste es die Glieder in gemachsamem Gange, tiefer holte es Atem aus Höhen und Tälern. Verklärt und stummen Dankes voll ruhte sein Auge über der gestillten Breite, unsäglich hingegeben staunender Rührung und süß bedrängender Müdigkeit.

Alles erzitterte unter dieser feierlichen Angerührtheit. Sie schuf Unruhe in Herzen, die zu fröhlich waren, um schlafen zu können. 106

Lange waren die johlenden Segler verbraust; zu neuem herrischen Dasein unter strengerer Sonne. Die Stille in den hohen Lüften beunruhigte die Vogelleute, die in ihren Träumen bereits an den Ufern des blauen Flusses westen.

Bei seinen Besuchen im Vogelhaus hörte der Mensch kleine, sehnsüchtige Rufe, die keiner Liebesstrophe, keinem Nestgesang glichen.

Der Gauch kannte sich selbst nicht mehr. Zwar aß er noch immer mit gleichem Appetit; aber ihm wurde eng in seinem Gefieder. Er hatte sich einmal böse die Stirne zerschunden, als er bei einem trotzigen Flugversuch gegen das Netz gestoßen war. Seither haßte er dieses Netz, saß aufgeplustert und übellaunig im dunkelsten Geäst der Fichte und übersah den Menschen geflissentlich. Er mochte ihn nicht mehr. Zwar die Mehlwürmer waren gleich gut, und jetzt gab es oft Grillen und sehr fette Heuschrecken. Alles war jetzt schöner und fetter. Aber ihm war, als bedürfe er des Menschen nicht. Er wettete hundert gegen eins, daß er mindest ebensolche Happen finden würde, wenn – ja wenn dieses Teufelsnetz nicht wäre.

Neulich hörte er den Bachstelz mit der Frau des Gartenrotschwanzes reden.

»Wann reisen Sie?« fragte der Bachstelz.

»Bald«, sagte das Rotschwänzchen, »es ist stilles Wetter über den Gebirgen.«

»Ja, das weiß ich. Gestern sind Ammers durchgekommen. Die reisen nur bei sicherer Luft.«

»Ich habe sie auch gehört. Bülows sind schon fort und Stieglitzs und Gimpels. Auch die 107 Blattmönche haben vorgestern Lebwohl gerufen. Von der Buchendickung drüben sind sie aufgebrochen.«

»Die Schwalbe vom Haus drüben sagte mir, daß sie nur noch ein paar Tage warten wolle. Ihr Jüngstes sei ein wenig im Wachsen zurückgeblieben, sonst wäre sie schon mit den andern fort. Aber sie trifft sie am Meeresufer. Dort wollen die ein wenig rasten. Es ist doch weit bis an den Tanganjikasee.«

»Gehen Sie auch bis dahin?«

»Ach nein,« sagte die Rotschwänzin, »mein Mann fühlt sich in den Gärten von Alexandrien immer am wohlsten. Wir sind dort ganz eingewöhnt. Man liebt uns sehr.«

»Ich war immer in Helouan. Meine Familie ist dort erbgesessen.«

»Werden Sie wieder eine Frau nehmen?«

»Oh ja, die Welt ist nicht schön, wenn man allein ist.«

»Sie werden eine leichte Wahl haben. Es sollen heuer sehr viel mehr Weiblein geboren sein, wie mir der Gartenpieper sagte.«

»Quiririe! – Ich wollte Sie fragen, ob ich mich Ihnen anschließen darf?«

»Gerne! Wenn Sie es nicht vorziehen, mit Ihrer Familie zu reisen!«

»Ach nein! Ich habe auf der Reise gerne Ruhe, und an Sie habe ich mich in den letzten Wochen gewöhnt.«

»Mein Mann und ich freuen uns natürlich sehr.«

Der Bachstelz knixte. 108

»Wenn wir nur ungerupft durch Italien kommen!« sagte er.

»Ja, das ist auch meine größte Sorge bei jeder Meerfahrt. Aber wir fliegen, sobald die Gebirge hinter uns sind, nur bei Tage, meiden alle Menschengärten und rütteln sehr vorsichtig, ehe wir uns setzen. Es ist sehr unmenschlich, was die Menschen in jenem Lande mit uns vorhaben! Wir leben doch so gerne und sind viel zu klein, um Menschenmägen satt zu machen!«

»Zwölf gehen auch bei uns auf ein Dutzend! Und wir schmecken offenbar gut«, sagte der Bachstelz.

»Schweigen Sie doch, bitte! Wir sollen in ihren Gärten singen, nicht in ihren Bratpfannen! So will es der liebe Gott!«

»Ach, was der liebe Gott will, weiß man nicht genau. Warum hat er denn meine Frau dem Sperber gegeben?«

Das Rotschwänzchen tat ein paar Schritte zur Seite und schwieg. Es wußte keine Antwort.

»Vielleicht werden Sie Ihren Pflegesohn in Helouan treffen«, bog es ab.

»Muß ein ordentlicher Rüpel geworden sein! Trage kein Verlangen danach! Obwohl ihn mir wahrscheinlich der liebe Gott geschenkt hat!« Sein Geschick hatte den Bachstelz ziemlich verbittert.

Die Rotschwänzin schwang sich auf den Hausgiebel, wo ihr Mann unruhig und reisefiebrig auf und ab schritt.

»Also morgen brechen wir auf!« rief sie zurück.

»Schön! Ich werde drüben auf dem 109 Brückengeländer sein. Schlafen Sie wohl!« Er knickste und flatterte einer Schnake nach.

Monsieur kauerte struppig. Der »Rüpel« hatte sein Herrengefühl verletzt, und die Reisepläne der freien Leute machten sein Blut rebellisch. –

Was war nur aus dem sittsamen Buchfinkenpärchen geworden? Täglich stritten sich die beiden Leutchen.

»Ich reise!« sagte sie.

»Du bleibst!« schrie er.

»Denke gar nicht daran!«

»Ich verbiete es dir!«

»Bitte! Aber ich reise trotzdem!«

Sie balgten sich, daß die Federn stoben. Die anderen Vogelleute waren erstaunt. Es war doch nicht Liebes- und Nistzeit? Wozu die Aufregung?

»Schämt euch«, schrie der Bergfink herüber. Er dachte an keine Winterreise. Anspruchslos wie er war, futterte er sich schlecht und recht durch, ging höchstens, wenn der Winter sehr hart wurde, ein wenig an die Alpensüdhänge.

»Kümmern Sie sich nicht um unsere Angelegenheiten, gelber Vetter«, rief die energische Buchfinkin. »Ich liebe es nicht, Winters bei den Menschen zu betteln wie Sie! Ich habe gehört, daß Sie sogar unter die Spatzen gehen und sich um Pferdemist balgen!«

»Wenn der Hafer gut war, warum nicht?« Der Bergfink war ein robuster und nonchalanter Patron. Sie überhörte.

»Ich treffe mich mit meinen Cousinen in der nächsten Woche«, sagte sie entschieden. »Die 110 Finkin vom Apfelbaum drüben hat mir Botschaft gebracht. Wenn du hier bleiben willst, bitte! Ihr Mann bleibt auch. Ich reise!«

Er gab es auf. Es war jedes Jahr derselbe Streit, und er hatte immer den kürzeren gezogen. Nur im ersten Jahre ihrer Ehe war sie Winters hiergeblieben. Aber sie kränkelte dann bis tief in die Nestzeit und hatte eine fiebrige Mauser zu erleiden. Ihrer Treue war er ganz sicher. Im März oder vielleicht gar schon im Februar kam sie froh gelaunt und wunderschön wieder, und darauf freute er sich eigentlich jetzt schon. Überdies, als Junggeselle brachte man sich in der knappen Zeit leichter durch.

»Nächste Woche also!« sagte er ein wenig resigniert. »Vielleicht früher. Jedenfalls vor Bartholomä. Da schaut der Schnee übers Joch, he! Und es ist nicht angenehm, im kalten Gebirgsnebel zu reisen.«

»Gut! Ich werde mich also damit abfinden!«

Wortstreit, Balgerei, Resignation, Reisefieber! Damit endete der fährlich wiederkehrende Streit des friedfertigen Buchfinkenpaares.

»Ich reise nicht, und wenn das Herz auch bricht«, pfiff er sich eins und stocherte zerstreut im Rasen herum.

»Hihihi!« gellte die Amsel. »Das Herz bricht Ihnen ja gar nicht, Sie Pinsel! Scharmutzieren mit Lerchen, Meisen, Spatzen auf jedem Futterplatz in der Runde. Ich kenne Sie doch!«

Die Finken hörten nicht. Sie konnten die schwarze Frau mit dem bösen Schnabel nicht leiden. Überall stiftete sie Unfrieden. 111

»Guguh!« –

Von weit her läutete das. Einmal nur und märchenfern. Da rüstete einer zur Fahrt.

Monsieur war aufgeschreckt. Heiß floß es ihm durchs Geäder. Kühnheit und Herrschgier leuchteten aus den Goldaugen. Zittern flog durchs Gefieder. Klatschend stob er auf und hing am Netz, bohrte den Blick ins hohe Blau.

»Kurrh!« – Tief und rauh, sehnsüchtig und wild, herrisch und königlich einsam klang dieses Wort. Er war Mann geworden.

»Ich weiß, mein Gauch! Ich weiß!« sagte der Mensch, der draußen stand und das ferne Geläut gehört hatte. »Mir geht's wie dir! Nur daß ich nicht weiß wohin! Ich bin viel tiefer aus Nirgendwoweit als du! Aber morgen bist du frei!«

Als der Mensch seine Vogelkinder gefüttert hatte, ging er. Aber er ließ die Türe des Vogelhauses offen stehen.

Am nächsten Morgen war es dort sehr still. Ein paar Spatzen tummelten sich in der Voliere. Jetzt endlich hatten sie das Ding von innen gesehen, um das sie die vornehmen Vogelleute heimlich beneidet und laut verspottet hatten.

»Ihr Gesindel«, lächelte der Mensch. »Ihr Dauerhaften! Ich habe euch lieb, wie ihr seid! Ihr Stromer, ihr frechen, schlauen, quicken, anspruchslosen, vom schlechten Gewissen umgetriebenen Gaunerchen! Bleibt nur da!«, sagte er, als sie wie ertappte Diebe hinausstoben.

Alle waren sie fort. Zwar der Buchfink raspelte drüben am Apfelbaum; aber er war allein. Die 112 Meisen lärmten in der Stachelbeerhecke. Im Fallaub stocherte zornig die Amsel. Wohin die Wachtel war, wußte er nicht. Die hatte wohl bei Nacht das Quartier geräumt. Die Bergfinken und Blattmönche waren gewiß im Hochwald droben gelandet. Auch die Krummschnäbel klagten von weit drüben her.

Rrrrrtsch! Walzenpeter stob herein, knallte auf den Rasen hin. »Uittuitt! Mein Kürbiskern«, schrie er und schoß mit schiefem Kopfe hin und her. Wahrhaftig, er fand ihn. Die Meisen waren zu früh fort. Er schien selber erstaunt, daß der Kern noch im Maulwurfshügel steckte, saß eine Sekunde still, den Kern im Schnabel. Dann rrrtschte er ab und suchte einen Borkenspalt im Apfelbaum. »Uittuitt!« Sehr vergnügt flötete Walzenpeter und dachte an keine Reise.

Nur das feine Rotkehlchen war noch da. Es hatte sich vor den Spatzen versteckt. Jetzt kam es angehuscht.

»Pititit!« – Es bekam seinen Wurm.

»Wir werden bei Ihnen bleiben, wenn Sie es erlauben. Wir reisen nicht gerne. Wir haben uns an Sie gewöhnt. Ihre Mehlwürmer leben auch in der weißen Zeit, und die Ameisenpuppen waren nie erfroren.«

»Ja, du bleibst, ich weiß es«, sagte der Mensch, der den Sinn der kleinen, höflichen Rede ahnte. »Wir wollen den Winter mitsammen verleben und so glücklich sein als möglich.«

»Wir danken auch!« – Es huschte unter die Fichte zum Männchen. 113

Ein altes Lied stieg aus Herbstgefühl in die Erinnerung des Menschen.

Durch ein vergittertes Fenster
Schau ich hinaus in die Welt.
Durch ein vergittertes Fenster
Schimmern Wald und Feld.

Der Sommer ist fortgezogen,
Der Wind geht stark und lau.
Viel Wolken sind geflogen,
Der Himmel ist groß und blau.

Die Nebel werden kommen
Und ziehen tälerwärts.
All' Freuden sind verglommen!
Wie willst du's tragen, Herz?

 


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