Josef Wenter
Monsieur, der Kuckuck, der Sonderbare
Josef Wenter

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Die fremde Frau

Vier Wochen sind seit jenem lärmenden Morgen vergangen. Sie haben nicht mehr darüber gesprochen. Er redete sich ein, daß seine Frau sich doch getäuscht haben müsse, und vergaß das geheimnisvolle Ereignis. Sie hatte sich bemüht zu erkennen, welches von den Eiern nicht das ihrige wäre, aber das gelang ihr nicht. Alle fünf waren gleich groß, gleichgestaltet, gleich gefärbt. Sie fand sich damit ab; 14 aber sie hatte nicht Freude wie sonst an ihrem Gelege und grübelte stundenlang. Ihr war dann, daß dieses Geschehnis große Folgen haben würde, und es beunruhigte sie, daß der graue Vogel seit einigen Tagen wieder im Revier erschienen war. Zwar hielt er sich nie auf; gewöhnlich kam er in der frühen Morgendämmerung vom Waldrand her, glitt lautlos, fast ohne Flügelschlag, über die Haselstaude und verschwand im Buchendickicht. Wahrscheinlich hatte er seinen Schlafbaum in der Nähe. Gestern war es, da hatte sie ihn im hellen Abendlicht auf der Jungfichte sitzen gesehen, die neben der Neststaude wuchs. Sie hatte auf einige Minuten das Gelege verlassen, um das abendliche Bad zu nehmen, und strählte am Rand des Weihers ihr Gefieder. Da sah sie, wie der graue Vogel schlank und lautlos auf den äußersten Ast der Fichte huschte und mit schiefem Kopf ihr Nest betrachtete. Sie wollte ihren Mann rufen, der eine Schnacke verfolgte. Aber da war der Ast leer. Heimlich, wie er gekommen, war der graue Vogel abgestrichen.

Die Bachstelze verschwieg, was sie beunruhigte. Sie wurde aufgeregter, je näher sie das Ausschlüpfen der Jungen fühlte. Er mußte öfter an ihrer Stelle über dem Gelege brüten, und das gefiel ihm nicht. Der Bachstelz wurde stets unruhiger, bevor das Geschäft der Fütterung begann, das ihn mehrere Wochen in Anspruch nahm, und so ward der Friede des sonst glücklichen Paares ein wenig getrübt.

»Wann sind wir so weit?« fragte er, als sie vom Frühstück zurückkam und ihn im Brüten ablöste.

»Ich erwarte es leicht«, sagte sie gereizt. 15

Er erinnerte sich, warum sie das sagte, und wurde ungehalten. »Kommt davon, wenn man in fremden Revieren baut und jagt und haust. Ich habe nichts davon gehalten! Gar nichts!«

Er war auf seinen Schlafzweig gehuscht und schaute ärgerlich an ihr vorbei auf die Kalktürme, die im steigenden Morgen purpurn zu glühen begannen.

»Du hast zugestimmt, daß wir diesen Sommer hier bleiben!«

»Sooo?« gab er gedehnt zurück.

»Die Gebirgsstelze versicherte mir, daß ihre Kinder in der hohen Luft besser gedeihen!«

»Möglich! Ich bin keine Gebirgsstelze und gedeihe tiefer unten besser«, sagte er und strich ab.

Gegen Mittag fanden sie sich am Rande des Weihers. Er war immer noch verstimmt. Er klagte über Leibschneiden, weil die Brunnenkresse, die im Tal unten so appetitanregend war, hier eine böse Schärfe habe. Das glaubte sie ihm, denn sie hatte es auch erfahren.

»Versuchs mit einer grünen Waldspinne! Mir hat das geholfen!«

»Dir auch? Auch Leibschneiden? – Ja, die hohe Luft!«

»Der Spinnsaft geht dir sanft durch den Magen!«

»Hausspinne wäre besser! Gibts hier oben aber nicht!«

Jetzt wurde sie böse.

»Halte endlich deinen Schnabel, Querkopf! Was treibst du den lieben Tag? Nichts! Und futterst dazu Schnacken! Sogar das Moos für unser Nest habe ich ausrupfen müssen! Mit leichtem Gras hast 16 du dich wichtig gemacht! Krähenflaum hast du angeschleppt, obwohl du weißt, daß unsere Kinder davon Läuse bekommen. Pferdehaare hat er gebracht, an denen sie sich wundscheuern. Wie weit bin ich geflogen, um ein paar Fläumchen! Selber habe ich mir welche ausgerupft! Geblutet habe ich!«

Sie ließ die Flügel hängen, steckte das linke Beinchen ins Gefieder und sah vor sich hin. Ihr fiel ein Gespräch ein, das sie am blauen Nil, am Rande des Papyrusdickichts, erlauscht hatte. Eine Störchin, die zur Meerfahrt rüstete, wurde von einem wunderschönen Schwarzstorch, der sich in sie verliebt hatte, angeredet. Der wollte sie von der Meerfahrt zurückhalten. Denn er reiste nicht mehr nach Europa, seit ihm der Mensch dort seine Frau erschossen hatte. Er war schwermütig geworden und haßte Europa.

»Lassen Sie die Männer des Nordens«, sagte er. »Die wissen nichts von Leidenschaft. Sie sind kalt und haben davon das Denken gekriegt. Aber dabei werden ihre Frauen unglücklich. Wir denken nicht! Wir leben! Unermeßlich wie das unermeßliche Afrika leben unsere Seelen. Fühlen Sie die Gewalt unserer Sonne und die Hoheit unserer Nächte! So gewaltig leben wir! Und so hoch fliegen unsere Seelen! Die Seele Europas ist klein geworden. Es hat einen Ersatz gefunden, den es Geist nennt. Ich weiß das. Der Reiher hat es mir erzählt. Aber daran sterben sie. Bleiben Sie bei uns! Wir wissen zu lieben, und wir sterben nur durch unsere Seele! Und das ist tiefer und höher, und ist der Wille unseres Gottes!« 17

Aber die Störchin hatte nur einmal freundlich mit dem Schnabel geklappert. Dann hob sie sich auf, schraubte sich empor, wo ihr Gatte die Richtungskreise zog, und beide rauschten unter dem funkelnden Nachthimmel dem Meere zu.

Lange schaute ihr der Schwarzstorch nach. Dann schlugen die Papyrushalme hinter ihm zusammen. Er wußte, daß nur der Tod trennt.

»Ziwieh«, sagte die Bachstelze leise.

Sie tat das Beinchen herunter und spazierte langsam, Schritt vor Schritt, das Ufer entlang. Er hinter ihr. Er dachte, daß sie von dem grauen Kappenstelz geträumt haben mochte, mit dem sie auf der Sandbank im Nil gerne geredet hatte. Er war sogar eifersüchtig geworden, hatte sie dann aber gewähren lassen. Er wußte, daß der Kappenstelz ein ausgepichter Afrikaner war, und von Europa nichts hielt. Und er wußte, daß sie, sobald das Geklingel der Wildgänse nächtens über den mondblauen Nilmarschen anhub und die Reiher auf den Dünen und in der Rohrwildnis sich zusammentaten und laut quarrend ihre Kreise begannen, daß sie dann, das wußte er, nachts an seiner Seite leise zu piepen begann, weil durch ihr Herz ein Traum ging. Der zeigte ihr eine bunte Wiese, einen sanften Bach, weiße Häuser, einen grünen Weidenbusch oder ein griesiges Ufersäumchen, wo man ein feines Nest unterbringen konnte; und über dem allem hing ein zartblauer Himmel, zogen langsame weiße Wolken. Das war der sehnsüchtige Himmel ihres Sommerlebens, der Himmel Europas, der Himmel ihrer Vorfahren. 18

Beide haben den grauen Schatten nicht wahrgenommen. Vom Fichtenwipfel ist er herabgeglitten, ist lautlos in steilem Falle über Wiese und Bach gehuscht und in der Haselstaude verschwunden.

Dort geschieht jetzt sehr Seltsames, Grausames und Herrisches. Der graue Schatten hockt auf dem Nestrand. Der Sperber? – Nein! Er sieht dem Grauen nur ähnlich. Der Schnabel droht nicht mörderisch. Die Schwingen hat er ein wenig gespreitet, um sich am Rand des Nestes zu halten. Wie schön sind sie geschweift! Und sehr spitz! Er braucht sie so, denn er fliegt ruhlos und sehr rasch durch die Wälder und muß behend durchs Gestämm steuern. Was sollten ihm da die schweren Flügel nutzen, wie sie Krähen und Enten haben? Den langen Schwanz stemmt er gefächert an die Nestwand. Oh, das goldene Auge! Aber kalt und herrisch, fremd und überaus klug blickt es aus goldenem Rund.

Drei Eier hat der Vogel aus dem Nest geworfen. Sie liegen zerbrochen im Geäst der Haselstaude. Jetzt pickt er mit vorsichtigem Schnabel das vierte an. Aber der runde häßliche Kopf, der sich aus dem platzenden Ei reckt, bedarf kaum der Hilfe. Bachstelzen haben dünne Eihäutchen, und der viel stärkere nackte Fremdling ist gleich seiner Hülle ledig. Der kleine Kugelkopf fällt nach links, nach rechts, nach hinten über. Ein gelber Spalt tut sich auf, bleibt himmelwärts offen stehen. Jetzt zerbricht der graue Vogel das fünfte Ei, nimmt den Inhalt mit seitlich gelegtem Kopf in den Schnabel und stopft ihn rasch aber vorsichtig in den gelben Spalt. Noch einmal und noch einmal! 19

Hilflos schluckt das nackte, blinde, himmelstarrende Geschöpf. Schluckt und reckt sich schwach.

»Siep! –« So leise, daß es fast unhörbar ist.

Aber das Paar am Bachufer hat es gehört. Stumm schauen die Beiden einander an. Sonst nistet niemand hier!

»Also ausgeschlüpft –?« Sie will auffliegen.

Da rauscht es in der Haselstaude. Schlank und sehr vornehm ist der Bogen, in dem der graue Vogel, ohne die Schwingen zu rühren, an den Erschrockenen vorüberzieht. Eine Sekunde schaut er aus goldenem Aug die Bachstelzen an. In der nächsten ist er oben, wo der Forst sich schwarz hinstellt vor das im hohen Mittag weiß schimmernde Kalkgefels. In einer Wetterzirbe bäumt die Gauchin.

»Jikikickick«, lacht sie aus dem Geäst und sitzt aufgeplustert in frohem Stolz.

»Guguh! Kuckuck! Guguh!« – Vom Tat herüber! Weich, melodisch, unbekümmert, sicher, frei und über die Maßen verliebt antwortet er ihr.

Tief auf horcht die Landschaft dem Ruf des erlauchten Einsamen.

 


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