Josef Wenter
Monsieur, der Kuckuck, der Sonderbare
Josef Wenter

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Dämmerfrühe

Nächtige Frühe hüllt die Waldwiese ein; die Luft ist kalt und still, Sterne blinken aus dem Waldweiher, über die Kare ziehen dünne Nebel und schwinden hin. Die äußersten Ränder der Kalktürme ergrauen in der wachsenden Stunde.

Mai ist. Dünnes Berggras, rote Pechnelken, blaue Glockenblumen, Katzenpfötchen und Arnika, Schafgarbe und gelbe Maßliebchen, Thymian und rote Orchidee stehen grau und feucht auf der Wiese und warten sanftmütig auf den Morgenwind, der sie trocknet, auf Farbe und Duft in der steigenden Sonne. Ein heller Bach kommt gemachsam die Wiese her, spielt einen kurzen Reigen im besternten Weiher und verschwindet im Wald, der stundenweit das Land bedeckt; gegen Mitternacht steigt er an, wird steiler, bis nur mehr einzelne trotzige Bäume es unternehmen, dem Steingerölle zu widerstehen, das von den Kalktürmen abbröckelt und in breiten Schutthalden gegen das schweigende Heer andringt.

Am Rande des Weihers, versteckt in einer Berghasel, hoch genug, daß es nicht verschwemmt würde, im Falle der Bach stieg, und doch tief genug im Geäst, als daß der klatschende Hochwetterregen oder die gefährlichen Hagelschloßen es zerstören könnten, hatte das Paar sein Nest gebaut.

Es war ungewohnte Höhe für die Leute aus der Sippe der Bachstelzen. Aber sie waren in Gesellschaft der Gebirgsstelzen und Leinzeisige übers Meer gereist, und bei den mancherlei Rasten hatte die Bachstelze sich mit einer bejahrten und erfahrenen 8 Gebirgsstelze befreundet. Als diese nach dem letzten Aufenthalt schnurgerade mit ihrem Manne hierher geflogen und drüben im Buchenwald, wo sie seit Jahren ihre Sommer verlebten, ihre Kinder zur Welt brachten und aufzogen, gelandet war, da wollte es die Bachstelze auch einmal versuchen. Der grüne Bach gefiel ihr, die Ufer des Weihers versprachen Leckerbissen, und vielleicht war es unterhaltsam, in der Nähe der Waldleute zu leben, die viel munterer in Zweigen und Kronen und auf den Stämmen der ernsthaften Waldbäume sich tummelten, als drunten im Tale die zudringlichen Spatzen, die menschenfreundlichen Buchfinken, die für andere Vogelleute unerreichbaren Schwalben oder die eigenbrödlerischen Rotschwänzchen.

Sie blieb, und er mußte sich fügen.

Still war es freilich, und sie liebten beide Gesellschaft. Auch der Mensch, an den sie sich gewöhnt hatten, weil er sie unten nie beachtete –denn er hatte in ihrer Nähe immer etwas zu schaffen, sei es eine Schleuse aufzuziehen, einen Fisch zu fangen, Wäsche zu waschen oder sonst etwas – der Mensch war ihnen ein vertrauter Anblick. Freilich, wenn sie sich vorstellte, daß hier plötzlich der Mensch auftauchen könnte, wo er eigentlich nichts zu tun hatte, da wurde ihr ängstlich zu Mute. Denn soviel hatte die Erfahrung sie gelehrt, daß der Mensch nur dann gefährlich wird, wenn er nichts zu tun hat und zu seinem Vergnügen auf der Welt herumgeht. Auf der letzten Rast an einem Flußlaufe war es gewesen. Sie badeten eben mit vielen anderen Sommerreisenden, als plötzlich aus einem Gebüsch der Mensch trat. 9 Hurrh, waren alle davongestoben und harten vor Schreck noch lange in den Lüften gezetert. Nun, er würde nicht kommen! Hier herauf würde der Mensch nicht kommen, tröstete sich die Bachstelze.

Im April waren sie hierher gekommen. Nichts hatte sich ereignet, das ihren Frieden gestört hätte. Zwar der Bachstelz fühlte sich noch immer fremd in dieser Landschaft; seine Frau aber fand sich heimelig und zufrieden und war glücklich über das vierte Ei, das sie seit gestern im Nest hatte.

Noch schliefen beide. Im Osten wurde die Nacht leichter und hob sich mählich von der Erde. Die Sterne zergingen in grüner Dämmerung.

Da scholl wildes Gezeter vom Waldrand herüber. Der Bachstelz, der auf einem Zweige neben dem Nest schlief, schrak auf. Er sah seine Frau zornig aufgeplustert über den Eiern sitzen; sie hatte große glänzende Augen, und der Schnabel stand ihr offen vor heftiger Erregung.

»Was ist?« rief er schlaftrunken.

»Der Graue! Oder das Wiesel!« sagte sie atemlos.

Da war er auch schon fort. In hastigem Bogen schoß er über den Weiher gegen die Waldwiese, von wo der Lärm herkam. Da saß auf einer Fichte ein Vogel, so groß wie der Sperber, der gehaßte Graue. Um ihn herum schwirrten und flatterten, schimpften und keiften die Wäldler.

Allen voran die Meisen, die am mutigsten waren und dem großen Vogel gefährlich nahe rückten. Hinter ihnen zeterten Ammern und Bergfinken; der Zaunkönig teckte aus dem Dunkel der untersten Äste gell und wütend, und das schlickernde Pititit 11 des Rotkropfs kam aus dem benachbarten Busch.

Der Bachstelz rüttelte über dem großen Vogel und erkannte gleich, daß der nicht der gefürchtete Graue war. Der wäre auch längst hohnlachend über alle Wipfel davongestürmt. Diesen Vogel kannte er nicht. Nie war er ihm im Tale begegnet. Er begriff die Wut der Wäldler nicht, aber er fühlte sich zu ihnen gehörig und pfiff rüttelnd sein scharfes Tirilie.

»Tirilie«, kam es vom Weiher zurück, und dann sah er seine Frau über die Wiese herfliegen. Sie bäumte nahe auf einer Jungbuche. Nach uraltem Gesetz hatte sie das Nest verlassen, um nahende Räuber vom Gelege weg und auf sich zu locken. Aber auch sie hatte gleich erkannt, daß das nicht der Graue war; sie blieb angespannt und schlank auf dem Buchenast sitzen und beteiligte sich nicht an dem Lärm. Sie sah, daß der große Vogel sich recht wenig zur Wehr setzte, hie und da gegen eine anstürmende Meise mit seinem kleinen ungefährlichen Schnabel drohte und mit den Flügeln schlug, als wollte er auffliegen. Jetzt mußte er doch einen Schnabelhieb bekommen haben. Er hob sich auf, und würde nun wohl das Revier verlassen. Keineswegs! Er bäumte auf einer größeren Fichte höher am Walde. Der Schwarm lärmte ihm nach und griff wieder an. Es sah aus, als ob der graue Vogel das beabsichtige.

»Warum zieht er nicht ab?« fragte die Bachstelze ihren Mann, der nicht mehr gefolgt war.

»Weiß nicht!« sagte der Bachstelz.

»Wie heißt der Mann?« fragte sie wieder. 12

»Weiß ich auch nicht. Er hat keine Fänge und keinen Räuberschnabel. Aber sie hassen ihn wie den Grauen. Er wehrt sich nicht und zieht sie hinter sich her. Das ist unheimlich, und ich traue dem Wald nicht. Wir hätten bleiben sollen, wo wir immer waren. Drunten im Tal bei Menschen und Häusern.«

Sie war schon vorausgeflogen. Sie wußte, daß er hier heroben nicht heimisch wurde. Aber das war nicht mehr zu ändern. Im Nest hatte sie vier Eier. Die mußte sie ausbrüten, und ehe die Jungen selbständig wurden, konnte der Juli kommen. Dann vielleicht, ja dann wollte auch sie wieder ins Tal hinab, zu Menschen und Häusern.

Als sie den Nestrand anflog, fuhr sie zurück, rüttelte einen Augenblick erschrocken ziwiehend und kehrte um. Fast wäre sie mit ihrem Manne zusammengeprallt. Sie landete am Rand des Weihers, flog aber sogleich auf, um zurückzukehren, drehte wieder um, setzte sich und ziwiehte erschreckt und hilflos. Da kam der Bachstelz.

»Sie sterben, wenn sie kalt werden!« sagte er.

Sie antwortete nicht. Sie schritt am Ufer hin und her, drehte den Kopf nach allen Seiten, verhoffte, schritt wieder aus, tat einen ziellosen Flug, kehrte um und setzte sich ängstlich rufend nieder.

Er setzte sich neben sie. Er begriff sie nicht.

»Was ist? Bist du krank?« fragte er.

»Fünf! Es sind fünf!« flüsterte sie scheu.

»Nun, was weiter! Wir werden also fünf Kinder füttern! Das war schon einmal so!«

»Heute Nacht waren noch vier«, sagte sie und flog auf. Aber sie kehrte auf halbem Wege wieder um. 13

»Als ich das Nest verließ und dir nachflog, waren auch vier. Jetzt sind es fünf!«

»Ziwieh!« Er stob auf. Sie schaute ihm nach, wie er in die Neststaude schlüpfte, sah ihn am Nestrand sitzen, wie er mit schiefem Kopfe das Gelege betrachtete, sah seine glänzenden schwarzen Augen. Dann kam er wieder.

»Es sind fünf! Eins gleicht dem andern! Du mußt dich verzählt haben!«

Sie schaute ihn aus großen klugen Augen an, daß er sich schämte und mit schüchternem Tirilie abstrich.


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