Josef Wenter
Monsieur, der Kuckuck, der Sonderbare
Josef Wenter

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Der Graue

Es war Abend geworden. Das Nest stand verlassen. Die Jungfichte war leer. Die Haselstauden hielten sich still und schienen ohne Leben. In der Erle rührte sich nichts und nichts in der Zwergeiche. Eine Birke flüsterte, schwieg aber gleich wieder. Der Bach trieb es wie am Tage; aber der machte sich nichts aus dem Kummer der beiden Stelzen.

»Keine Zeit, keine Zeit!« murmelte er im Laufen, als sie ihn fragten, wohin der Mensch gegangen sei mit dem Pflegekind.

Sie saß mit hängenden Flügeln im weißen Gries und schaute zum Wald hinüber, wo der Mensch verschwunden war. Dann drehte sie das Köpfchen langsam gegen die Neststaude. »Quiririe!« Leise und bekümmert.

Er stocherte zerstreut unter Kalkbrocken herum, schluckte dort ein Häppchen, schritt mit hohem Kopfe weiter, biß einen Grashalm ab, der ihm gerade im Wege stand, flog auf seinen Hochstand und äugte in die Runde.

Schwer fiel es ihm, die großen Abenteuer der letzten Wochen ins Reine zu bringen. Wenn er an die friedlichen Sommer unten bei den Menschen dachte, kam es ihm vor, als habe er alles geträumt. Sie flog an seine Seite. Sie kam sich sehr verlassen vor.

»Quiririe!« Er konnte so zärtlich sein.

»Hast du an Monsieurchen gedacht?«

»Ja! Und an alles sonst. Ich bin in den vier Wochen um einen Meerflug älter geworden.« 79

»Ich auch!«

»Denke nur, was wir erlebt haben! Zuerst die Überraschung mit der Gauchin. Dann die blutige Rauferei mit den Älplern. Dann das schreckliche Wiesel!«

»Und der aufregende Nestflug unseres Jungen!«

»Ja, und dann die entsetzliche Schlange!«

»Und der große Mensch! Dieser starke Mensch! Wie die Blätter flogen und der Sand hochspritzte! Sogar die Äste hat er zerfetzt! Ich war sehr stolz auf den Menschen, und daß er unser Herr ist.«

»Die Schlange wird nicht stolz sein auf ihn!«

»Oh, – wenn sie das erlebt hätte!«

»Dann hätte er es nicht erlebt!«

»So ist er nicht ihr Herr?«

Der Bachstelz schwieg und sann. »Er ist nur Herr über uns, wenn er gut ist! Wenn er böse wird, macht er seine Arme mit Stöcken länger und mit Flinten. Dann ist er nicht mehr unser Herr. – Aber mit der Schlange kann niemand gut sein, weil sie böse ist!«

»Ob er mit Monsieur gut ist?«

»Ja, das glaube ich wohl!«

»Ich will es auch glauben! Kann er ihm Käfer fangen?«

»Erinnerst du dich nicht an die Menschenkinder, wie sie geschickt die Schmetterlinge und Käfer fangen? Und die waren doch erst flügge, und nicht so groß wie große Menschen.«

»Ja, ich erinnere mich.« Sie war nun auf einmal nicht mehr so traurig. – »Wie oft fingen sie mir die Weißlinge vor dem Schnabel weg, und die 80 Wasserjungfern, wenn ich im Menschengarten jagte. Oh, dann wird Monsieur schöne Happen futtern und stark werden beim Menschen.«

»Sicher! Und wir wollen auch wieder hinunter. Nicht wahr?«

»Quiririe«, sagte sie und kuschelte sich nahe zu ihm. »Und dann werden wir wieder eigene Kinder haben! Oh, wie ich mich freue! Sie sind doch unseres Blutes!«

Es raschelte in den Stauden. Sie erschraken; aber gleich fiel ihnen ein, daß das Nest leer sei und die Jungfichte. Für sich selbst fürchteten sie das Rascheln nicht. Sie äugten neugierig hinüber.

»Murrk, murrk«, kam es herüber und klang emsig und verdrossen.

»Stachelfriedolin«, kicherte die Bachstelze.

Aus der Staude tauchte ein feines schwarzes Schnäuzchen, windete nach allen Richtungen, schickte äußerst kluge Äuglein hinter dem Schnäuzchen her, blieb aber doch vorsichtig im Dunkel.

»Guten Abend! Haben Sie vielleicht die Kreuzotter gesehen? Hier riecht's nämlich famos nach Schlangenbraten.«

»Allerdings, allerdings!« Der Bachstelz knickste freundlich.

»Der Mensch hat sie schon zubereitet für Sie«, sagte die Bachstelze.

»Oh, danke, danke!« Friedolin war herausgekommen und windete am Ufer. »Aber das wäre nicht notwendig gewesen. Ich besorge das selber sehr gerne. Seit dem Morgen laufe ich ihr nach. 81 Und bin doch eigentlich ein Nachtläufer. Meine Augen vertragen die Sonne nicht gut, wissen Sie. Drüben hat sie zwanzig Junge; unter einer Lärchenwurzel. Ein fetter Knäuel! Aber graben traue ich mich nicht, wissen Sie, weil ich mich den Giftleuten nicht von hinten aussetze. Und dann ist da er und sie. Aber ich bin allein, weil meine Frau bei den Kindern drüben im Streuschober bleiben muß. Aber jetzt ist nur mehr er! Mit ihm nehme ich's auf. Sie ist schlimmer. Wie ja wohl meistens!« kicherte er. »Na, und dann grabe ich die zwanzig aus. Damit versorge ich meine Familie eine Woche lang. Nun haben Sie schönen Dank und gute Nacht!«

Eilig trollte sich der Igel, das Näschen voll herrlicher Witterung, denn der Wind kam mit dem Bache. Dann hörten die Bachstelzen, wie die Rippen der Otter krachten.

»Wollen wir heut noch hinunter?«

Er prüfte die Schatten und den Wind, der stärker talaufwärts zog. »Heut nicht mehr! Wir kämen in die Nacht. Und so aufs Geratewohl möchten wir doch nicht in die Menschennähe. Unser Platz vom Vorjahr ist besetzt, wie mir Walzenpeter neulich erzählte. Natürlich hat ihn ein Spatz.«

»Pack!« Die Bachstelze zuckte die Achseln.

»Na ja! Gewiß! Aber sie sind dort in der Mehrzahl, und wo sie das sind, haben andere Leute kein Recht mehr!«

»Also morgen mit Tau und Tag und Morgenwind! Tirili, tirililie!« Sie schnäbelten zärtlich. Wie sie ihn liebte! Sie hing ihm jetzt noch mehr an. Die 82 große Fremdheit, die sie aus dem Wesen des Gauchs angeweht und sie fast unsicher in ihrer eigenen Welt gemacht hatte, ihr dunkle Schächte andersgearteten Lebens aufgetan hatte, hatte sie gelehrt, sich begrenzt zu halten und das sanfte Dasein, an das ihre Art sie wies, glücklich zu preisen. Ihre heimlich gehegte Abenteuerlust war gestillt. Mütterlich hatte sie oft über den Sohn nachgesonnen und seine Art nicht ausgefunden. Sie ahnte, daß ihr Abenteuerwille ein freventliches Ausdehnen des streng zugewiesenen Lebensraumes war, und daß solches Leben mit Vereinsamung und seine Fülle mit Verlassenheit bezahlt werden müssen. Oh, tief erkannte sie die Wahrheit des erschütternden Ausrufs jener alten Gauchin. »Beneidet uns nicht!« Ja, ihrem Ziehsohne waren weite Lebensräume gewiesen, und er würde sie durchstürmen. Aber es war ihm versagt, zu bauen und zu hausen und Liebe als Glück und Dauer zu erleben.

Sie schaute ihren Mann an, der gelassen mit kühlen Augen hinaufblickte, wo die Kare blaß wurden vor der hereinbrechenden Nacht. Es war ganz still geworden. Grillen und Heuschrecken hoben den Lobgesang an. Da kam ein Gefühl großen Glücklichseins über die Bachstelze. Sie wußte nicht, wohin damit.

»Quiririe, tirililie!« Sie stieg hoch, hoch hinauf in den kühlen Abendhimmel und jubelte, daß es aus dem Walde widerscholl.

»Komm herunter! Du bist keine Lerchenfrau!« rief er erstaunt und ängstlich und wollte sie holen. 83

Da schoß der Graue aus dem Föhrenwipfel. Wie ein Stein sauste er heran ohne Flügelschlag.

»Weh! Ach weh!«

Dann nichts mehr. Sein Fang hatte das unsäglich glückliche und zärtliche Herz durchstoßen.

Laut aufschrie der Bachstelz und hetzte dem Grauen nach.

»Meine Frau! Meine geliebte Frau!« schrie er.

»Ich hab' Kinder zu versorgen!« gellte der Sperber eiskalt und war im Wald verschwunden, noch ehe der Bachstelz die halbe Wiese überflogen hatte. –

Über die Kalktürme kam der Mond und sah einen kleinen Vogel in der Haselstaude neben einem verlassenen Neste sitzen. Der Mond wunderte sich, daß der seine kleine Vogel allein war und noch nicht schlief. Denn er sah ihn ängstlich umheräugen, ein paar Male aufflattern, und hörte manchmal ein wimmerndes Ziwieh. 84


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