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»Monseigneur, la sagesse d'une actrice
n'est que l'art de bien fermer les portes.«
Sophie Arnould.
In der großen Oper zu Paris drängen sich die Menschen. Nicht die erhabene »Iphigenie in Aulis« des Chevalier Gluck hält sie gebannt, sondern das seltsame Mädchen von 19 Jahren, das zwischen dem zweiten und dritten Akt der Tragödie singt. Man erzählt sich, Direktor de Vismes habe die Tochter eines venezianischen Gondoliere in einem Boulevardcafé aufgelesen, ihr einen Louis d'or geschenkt, sie in die Oper geladen und für das merkwürdigste Zwischenspiel gewonnen, das man den Stammbesuchern des Hauses bieten könne. Denn haben sie eben noch ein edles Pathos durch Vernunft und Kühlheit des Vortrages verdünnen hören, so vernehmen sie hier die Stimme urwüchsigster Natur. Dieses Mädchen, häßlich und untersetzt, aber mit glühenden Augen und einem Wald schwärzesten Haares, das sie wie eine Mähne beschattet, führt den Instinkt der Gasse in das hohe Haus, in dem die Steifheit thront. Aus einem Riesenbrustkasten wird wie aus einem Blasebalg eine Stimme gespeist, die alle Leidenschaft in üppigstem Klange herausruft. Nach der Höhe zu scheint Sie keine Grenze zu kennen. Brust und Kehlkopf wetteifern in der Verschwendung. Noch ist das Gold nicht schlackenfrei. Sie hat noch nichts gelernt, weiß nichts von reiner Musik noch von gebildetem Ton. Mit untrüglichem Ohr gibt sie ihm ganz selbstverständlich die Reinheit der Lage. Aber das Eigentümlichste sind die Wiederholungen, mit denen sie die Arie von Sacchini verlängert. Die Phantasie eines Naturkindes schwingt sich an dem Kunsterzeugnis in die Höhe, bedient sich des außergewöhnlichen Atems, um ihre Laune in endlosen Rouladen herauszujubeln, wie sie auch die zügellose Dacapo-Arie noch nicht kannte. Nur langweilt sie nie, fesselt durch die blutvolle Geschlechtlichkeit jedes Tones. Diese Brigitta Giorgi, das drängt sich auf, wird bald von den Opernbühnen Europas begehrt werden. Und sie wurde in der Tat jene Brigitta Giorgi-Banti, die Mozarts Textdichter Lorenzo da Ponte in seinen Erinnerungen als Furie anschwärzt: inmitten ihrer Primadonnensiege in London skandaliert sie hinter der Bühne und verbittert ihm das Leben. Vor dem Auftreten verschlingt sie geröstete Kastanien und gießt eine Flasche Wein herunter. Daß sie auch dem Mann heftig zuspricht und zusetzt, versteht sich. Mag sein, daß ihre Stimme, die an Kultur nie die Gewalt ihres Instinkts erreichte, später die Höhe eingebüßt hat. Dann aber hatte sie, immer eine Sängerin von hinreißender Kraft und rassiger Mimik, Reserven echten Gefühls, das ein Adagio tränkte und die klingende Tiefenlage zur Geltung brachte. Ihren Brustkasten scheute sie sich nicht, als Sehenswürdigkeit zu zeigen. Und als sie schließlich 57-Jährig 1806 in Bologna starb, vermachte sie ihren Kehlkopf dem Anatomen.
Nicht ohne Neid blickt die Sängerin des Hauses, die fille de l'Opéra, auf die Frau, die ihr Publikum in eine wärmere Stimmung zu zwingen vermag. Sie empfindet, wenn sie sich mit ihr vergleicht, einen Gegensatz der Naturen, der auch einen der Schicksale herbeiführt. Was hilft ihr die Gemessenheit, die sie als ihren Besitz von sich rühmt und dieser fessellosen Aeußerung des Instinkts verächtlich entgegenhält. Diese hier ist international, sie streng national. Ihr scheint die suggestive Wirkung auf ein nicht französisches Publikum versagt. Sie mag in Paris vergöttert sein, die übrige Welt weiß nichts von ihr, der Markt stellt sie nicht in Rechnung, sie kennt nicht jenen Karnevalsrausch, der die Sänger für ein paar Wochen neben- und auseinanderwirbelt. Hier ist der Betrieb durch Tradition gebunden, die das Vergängliche scheinbar ewig macht, während dort der unersättliche Heißhunger nach Abwechslung einen rastlosen Verbrauch an Menschen und Werken erzeugt.
Seit zwei Jahrhunderten schon muß Frankreich dulden, daß man ihm den Spiegel vorhält und auf die Zugkraft italienischer Opernkunst weist. Jeder in Italien reisende Franzose bringt etwas von dem Rausch heim, den er dort im Belcanto gefunden hat, und wird nicht müde, seinen Landsleuten Mittel für eine Treibhauskultur dieser Kunst, zu empfehlen. Es ist wahr: seine eigenen »comediens« bevölkern die Bühnen des Auslandes, siedeln sich in Deutschland zumal an. Man schätzt ihre Konversationskunst, die dort um so stärker widerhallt, wo die eigene Sprache noch auf Krücken geht. Aber diese verwünschten Italiener haben ja schon seit 1570 ihre Komödianten nach Paris entsandt, die comediens du Roy werden. Warum? Es ist in ihnen eine geniale Kraft der Improvisation, die ihre Harlekinaden über alle Konversation hinweghebt. Sie wissen sich nicht zu zähmen und übertreiben die Tollheit in der Zote. Man ächtet sie, der König lehnt sie ab. Schon sind sie wieder da. Und den Schlüssel zu den Herzen, denen der gute Ton und der gesunde Verstand abrät, hat die Musik, die im Munde von improvisierenden comédiens-chanteurs als intermezzo verführerische Macht gewinnt. Der Franzose hat freilich den auf eigenem Boden gewachsenen Tanz, dessen gemessene Grazie die Tanzharlekinaden der Italiener mit ihren wilden Tiermaskeraden und ihrer ausschweifenden Erotik als urzuständlich belächelt. Denn das ist gewiß: in Italien bedeutet der Tanz ein Sichausleben mimischen Ueberschusses in den Gliedern. Die Anmut einer gesellschaftlichen Kultur ist ihm fremd. Er wird sie von Frankreich zu lernen haben, das darin der ganzen Welt Lehrmeisterin wird. Nur daß im französischen Hofopernballet bis 1681 junge Männer in Frauenkleidern die Weiblichkeit vertreten. Des Anstands wegen. Aber wie lange noch, und Italien wird der romanischen Schwester seine Tänzerinnen senden, die der neuentwickelten Grazie den Reiz der Rasse schenken. Und dann wird es jenen Austausch zwischen ebenbürtigen Nachbarn geben, die in Casanovas Zeiten den Geist des Abenteuers beflügeln. Man denkt an Balletti, an den Florentiner Vestris, der wie ein König über die französische Bühne schreitet. Paris hat Venedig alle Künste eines verfeinerten Luxus gelehrt. Das Ballet, das in der Adriastadt ohne Sinn zwischen den Akten der Oper gedeiht, zeigt seine Herkunft von der Seinestadt. Die entrechats, pas de deux, de trois werden immer mächtiger. Eine Camargo, die in Paris ohne Hosen und mit verkürzten Röcken wie eine Rasende über die Bretter jagt, findet ihr Echo in Italien. Noverre, der Schöpfer der Pantomime, die den Sinn in die Tanzkunst bringen will, schafft eine der Oper gefährliche Nachbarschaft. Man hat mit den Beinen getanzt, nun wird man mit dem Kopfe tanzen. Dido, die Königin von Carthago, war in der operia seria eben noch außer sich vor Verlassenheit. Nun hüpft sie »Rigaudons« und stürzt sich vor atemlosen Zuschauern, die vorher sehr selten aufmerksame Zuhörer waren, in den Scheiterhaufen.
Das ist es: Frankreich gibt die Idee des Tanzes, Italien sorgt dafür, daß er nicht in steifer Grazie eintrocknet. Diese italienische Sinnlichkeit, die dem Franzosen so wider alle Aesthetik schien, bleibt doch die große Macht, die Frankreich überwindet. Und sie ist zwingend, unüberwindlich im Gesang. Man sah mitten in der Kultur des ballet de la Reine die italienische Oper zu Gast. Sie dehnte sich unendlich und konnte auch ermüden. Dann aber sprechen die Stimmen, voll Blut und Süßigkeit wie die Musik, zu den eingeschläferten Sinnen. Sie suchen die französischen Seelen heim und zeigen ihnen eine tiefe Lücke.
Mlle. Rochois als Armide
Denn auf französischem Boden ist im Anfang der Musik das Wort. Während hier die »machines« ein mythologisches Theater hervorzaubern, dort der Tanz die gesellschaftlich gerichteten Geister befriedigt, ist das Wort die Macht, die über alle Unterbrechung hinweg die Fäden des Spiels knüpft. Der Akteur ist zunächst Sprecher; und der Sänger vor allem Akteur. Eros ist nicht der leidenschaftspendende Gott; die Eitelkeit steht über ihm. Sie läßt den Akteur den Zuschauer nie aus den Augen verlieren, und dieser selbst folgt ihm ohne Unterlaß. Der Akteur ist sorgsam bemüht, jeder Silbe ihren Wert zu geben, der Zuschauer immer im Zuge zu urteilen, ein geistreiches, boshaft Wort an die Leistung zu knüpfen. Wird er sich lächerlich machen? Werde ich mich lächerlich machen? Dies die geheime Zwiesprache zwischen ihnen. Nie ist man ganz naiv. Nie dankt die Vernunft ab. Je naiver der Zuschauer ist, desto mehr kennt er ja nur Höhepunkte oder Ermattungen. Je vernünftiger, desto mehr verteilt sich eine überlegene Aufmerksamkeit auf alle Punkte des Spiels.
Die Musik, die hier wächst, wird notwendig zur Arabeske des Wortes. Sie scheint zwar im französischen Volkslied ein Stück Ursprünglichkeit zu besitzen. Kaum aber wird sie Kunstgesang, verrät sich ihr Mangel an eingeborener Kraft. Die Koloratur, mit der sie sich spielerisch schmückt, richtet sich sehr bald nach dem Vorbild Italiens. Die kleine Form ist dieser Musik angeboren, die kokett tänzelt, graziös klagt, aber sich nie völlig hingibt. Die Sprache, mit ihren nasal getrübten Vokalen der verhüllenden gesellschaftlichen Causerie so wohlgeneigt, scheint der ungeschminkten musikalischen Aeußerung den Weg zu sperren, keine reine, keine leidenschaftliche Cantilene zu dulden, wie sie über den prachtvoll offenen Selbstlauten der italienischen Sprache sich natürlich aufbaut und weiterspinnt. Das französische Ohr, das diesen klangnivellierenden Nasalen lauscht und sich mit einer die Kühlheit begünstigenden Glätte zufrieden gibt, verkümmert musikalisch und büßt jene Untrüglichkeit des Tonbewußtseins ein, die jenseits der Alpen das schöpferische Genie unterstützt. Was im Bau der Sprache und Singorgane begründet und begrenzt ist, wird in Frankreich durch eine Kultur entwickelt, die alles Gesellschaftliche zur Richtschnur des Künstlerischen macht. Das kann zur geistreich pointierten, wirksam akzentuierten Komödie führen, kann in der tragédie classique ein äußerliches Sprachpathos begünstigen, muß aber notwendig der Musik ihre Vollnatur, ihren hinreißenden Zauber nehmen. Ein Mozart, der noch die italienischen Klangwunder im Ohr hat, schreibt aus seiner unverbrauchten Naivität heraus 1778 von Paris aus: … »wenn nur die verfluchte französische Sprache nicht so hundsföttisch zur musique wäre.«
Hören wir ihm weiter zu: »… und dann erst die sänger und sängerinnen – man sollte sie garnicht so nennen – denn sie singen nicht, sondern sie schreien – heulen – und zwar aus vollem Halse, aus der Nase und gurgel.« Arme fille de l'opéra! Wer mit unverbildetem Ohr nach Paris kommt, findet ihren Gesang abscheulich. Ewig hält man ihr die Italienerin als Muster vor. Man zeige ihr aber, wie sie aus ihrer nationalen Haut heraus soll! Sie hat Vorschläge und Portament, ports de voix, hat Triller, cadences, als Schmuck, als agrément ihrer Cantilene nach dem Vorbild des Südens übernommen; aber die Cantilene selbst scheitert an einer Verschwörung von Natur und Kultur. Ihre Sprache, völkerbindend und dem Feuerwerk von Geist, den Winkelzügen der Diplomatie so freundlich gesinnt, gibt auch ihr stärkste Genugtuung, blitzende Einfälle, reizende Erlebnisse; ihre Musik aber gefällt nur denen, die mit nationalem Vorurteil ihre nationale Unbegabtheit überschminken. Unaufhörlich wird sie durch Vergleiche gekränkt. In den Jahrzehnten vor der Revolution aber lehnen sich freier gesinnte Geister, jenseits der Grenzpfähle zur Selbsterkenntnis erwachsen, gegen diese Karikatur von Gesang auf. Der ewige Vorwurf, den die in Paris auftauchende italienische Sängerin ihr bedeutet, wird zur brennenden Wunde, als die Italiener 1753 acht Monate lang als harmlosen Hauptspaß unter anderen die »Serva padrona« Pergoles es zum unveränderlichen Entzücken der Pariser in die Oper bringen und zur gefährlichen Nebenbuhlerin der Bewohnerin des Hauses machen dürfen. Aus dem Krieg, den solche Nachbarschaft entfesselt, geht nicht nur die französische Musik, sondern vor allem sie, die arme französische Primadonna, zu Tode wund hervor. Was hilft ihr der Beifall derer, die sich um die »loge du roi« scharen! Der »coin de la reine« wo Rousseau, Grimm, Diderot sich ereifern, ist mächtiger und zukunftsreicher. Unmöglich, sein Ohr der natürlichen Anmut des Genies zu verschließen, das die Arien wölbt, die Sänger in Duetten, Terzetten gegeneinander führt, ohne Aufwand der Maschine, mit äußerster Sparsamkeit an mitwirkenden Menschen die letzten, reinsten Ergebnisse der italienischen Stegreifkomödie zieht. Cantilene und Rezitativ verbrüdern sich gegen das musikalische Frankreich. Diese Italiener scheinen im Seriösen alles, was nicht Bravourarie ist, in Grund und Boden zu brabbeln. Aber man höre, wie sie hier mit dem Elan red- und singseliger Menschen im Seccorecitativ ihre Zungenfertigkeit und Schwatzhaftigkeit in die Musik einschmuggeln. Und wie blitzschnell lassen sie diesen Sprachgesang sich heben, sich senken und immer wieder mit Haarschärfe an dem Punkt einmünden, wo das Cembalo mit seinem Akkord ihn auffängt! Nun scheint also doch selbst die italienische Sprache ihrer vielgerühmten französischen Schwester und ihrer hinderlichen weiblichen Reime zu spotten.
Aus dem Hagelwetter von Streitschriften, die für und wider die Italiener auf dieses Paris niedergehen, gellt der französischen Primadonna immer nur der eine Vorwurf ins Ohr: Dein Gesang scheint aus den Eingeweiden heraus zu tönen. Du unterbrichst die Litanei mit dem Schrei. Du magst Deine faltigen Kleider mit einem Wunderwerk gleißender Schnallen und goldener Schnüre durchwirken, Deine Kopffrisur durch die ausschweifendste Kunst des Coiffeurs zu einem architektonischen Meisterwerk herauftäuschen, die Federn Deines Hutes in kühnsten Bögen schwingen: es wird die Sensation von Tagen, von Wochen sein. Deine Posen, die Du der klassischen Tragödie entlehnst, der Akzent, den Du den Worten und Versen gibst, mögen den Kritiker des Mercure de France außer sich bringen: immer nur ist dies ein Sieg Deiner Intelligenz, die das Komödienspielen überlegen beherrscht. Du wirkst inmitten einer erstarrten Tradition und machst den echten Musiker gähnen.
Dabei hat auch dieses Frankreich schöne Stimmen. Sie wachsen gern im Süden, wo es mehr Sonne gibt, die Menschen der Natur näher sind, Ohr und Sprachorgan einer erregteren Sinnlichkeit dienen. Aber seltsam: während Italien nicht nur den Opernheißhunger seiner Landeskinder stillt, sondern die Welt aus seinem Ueberfluß an Singvögeln beschenkt, vermag Frankreich seine vier Opernhäuser nicht mit Sängern zu nähren. Es fehlt die Zucht der Stimmen; es fehlen die »conservatorii,« die »scuole,« die in Italien mit Strenge und Geduld zum belcanto erziehen, und es fehlt am Ende der große Lehrmeister des reinen Tones, der Kastrat? Frankreich ist stolz darauf, den Sinn seiner mythologischen Oper auch dadurch zu retten, daß es auf den Halbmann verzichtet. Zu vernünftig, die Natur seines Komödienspiels durch die Widernatur zu durchkreuzen, liebt es seinen Tenor, ja seinen Baß, und ein Thévenard wird als erster Liebhaber die Leidenschaft seiner Zeit. Der Dichter, der, anders als in Italien, dem Musiker befiehlt, hat für den Verstümmelten keinen Raum. Ist nun wirklich Vernunft die Alleinherrscherin?
Mozart in Paris ist verstimmt. »Dann finde ich auch kein soulagement hier, keine Unterhaltung – keinen angenehmen und honneten Umgang mit leuten – absonderlich mit frauenzimmer – die meisten sind hurren – und die wenigen anderen haben keine lebens-art.« Der junge Mozart, der die Sängerinnen in seiner Herzenseinfalt und seiner Aloysia Weber voll, auf gut deutsch brandmarkt, zeigt uns jedenfalls, wo ihre Vernunft endet. Hören wir nun aber auch einen anderen minder Herzenseinfältigen: den jungen berühmten Venezianer, dem kurz nach seiner Ankunft in Paris sich die Augen öffnen. Casanova hat eben seine Laufbahn daheim verheißungsvoll begonnen. Da begegnet er in der Seinestadt der vergötterten Sängerin an der Oper: Mlle Le Fel. Er findet ihre drei Kinder einander staunenswert unähnlich. Seine echte oder gespielte Naivität wird angetastet durch die Begründung, die sie ihm lachend gibt: daß nämlich diese drei Kinder in der Tat drei verschiedenen Vätern von hohem gesellschaftlichem Rang gehören.
Die »chronique scandaleuse« mag das Andenken der fille de l'opéra schwer belasten. Die Mémoires secrets de la République des Lettres mögen ihr Peinliches nachsagen, die Prozesse jener Zeit ihren Namen durch die Akten schleifen: sie bleibt eine fesselnde und aufschlußreiche Kulturerscheinung. Noch bevor die höfische Verdorbenheit unter Louis XV. ihren Wiederschein auf sie warf, hatte sie sich zu unbegrenzter Freiheit bekannt und selbst diese an Merkwürdigkeiten gewöhnte französische Welt in Aufruhr gebracht. Der Geist des genialen Bohemien François Villon, der die gesellschaftsunfähigsten Damen in seinen Dichterhimmel erhob, hat sich in ihr fortgepflanzt. Freilich ist Lully, der Italiener, der den Parisern zum ersten Male eine Oper schenkt und später im Saal des Palais Royal vorführt, ein gefürchteter, Kabalen spinnender, jähzorniger Mann, Maestro und Komponist von stärkstem, selbst den König bezwingenden künstlerischen Willen. Den haben natürlich zunächst Untergeordnete von minderem Vervollkommnungstrieb zu spüren; und er zerbricht nicht nur sein Instrument auf dem Rücken eines unwilligen Violinisten, er verabreicht einem zerstreuten Sänger Schläge, weist eine pflichtvergessene Sängerin scharf zurecht. Diese eiserne Zucht erreicht viel, wenn auch nicht alles. Denn der Kunstwille von ursprünglich der Musik nicht leidenschaftlich ergebenen, oft nur durch den Zufall der Stimme oder des Schicksals der Opernbühne zugeführten Menschen wird immer wieder durch den Lebenswillen gefährdet und erschüttert. Trotzdem findet der Meister eine Marthe le Rochois, sanft und pflichtbewußt zugleich, in Gesang und Aktion fähig, das Werk Lullys zu verfechten, mit Augen, die als ihr einziges Kapital an Schönheit den Zuschauer bannen. Zwanzig Jahre lang ist sie seine künstlerische Gefährtin. Aber schon taucht eine andere, eine abenteuerliche Gestalt auf: die Maupin. In ihr durchkreuzt das Leben die Kunst. Und welch ein Leben! Die Anekdote, ja die Legende hat ein unentwirrbares Netz um sie gewoben. Aber außer allem Zweifel bleibt ein Kreuz und Quer von Romantik, die schließlich die Heldin selbst rasch aufzehrt. Dunkel ist ihr Ursprung. Gewiß nur ein Uebergewicht des Maskulinen, eine alle Grenzen des Geschlechts verlassende Initiative: der Nachklang renaissancehafter Selbstentfesselung der Frau, die sich ihr Geschick zu formen berufen ist. Gern den Mann zu spielen, in Männerkleidern Frauen an sich zu ketten, das Abenteuer bis in die letzten Folgerungen zu treiben, den Mann zu lieben, ihn im Duell zu verwunden, scheint ihr Hauptberuf. Erscheint sie auf der Bühne, umgibt sie der Hauch des Abenteuers. Das Leben hat ihr Zwanglosigkeit und Kühnheit gegeben, ihr Blick ist Siegerblick, ihre Haltung chevaleresk, und eine Stimme von doppelgeschlechtlichem Reiz trägt ihre Leistung. Aber da die Kunst dieser Maupin nichts weiter ist als Probe und Bestätigung ihrer erobernden Natur, Mittel zur Vollendung eines geistreichen Experiments, verbrennt sie rasch und hinterläßt nur die Spur eines eigenwillig gestalteten Daseins. Oder die Trunksucht zerstört Leben und Kunst wie bei dem Tenor Dumesnil, der den Ernst und die Würde des Schauspiels durch die lächerlichsten Zwischenfälle untergräbt. Ein Schriftsteller sagt: »Man müßte an den Tagen, wo die Oper spielt, den Männern den Wein und den Frauen die Männer verbieten: das sind die beiden großen Quellen aller Zerstreuungen und aller Unverschämtheiten unserer Sänger und Sängerinnen!« Vergebliches Verbot!
Mlle. St Huberti als Didon
Der Schöpfer der »Armide«, fruchtbar in der Kreuzung des französischen Tanzes, der französischen Deklamation mit dem italienischen Einfall, hat über sein Leben hinaus zwar sein Werk, nicht aber seinen Kunstwillen in das achtzehnte Jahrhundert tragen können. Immer stärker greift das Leben in die Kunst von singenden Menschen ein, denen keine eingeborene Leidenschaft zum reinen Ton die künstlerische Schaffenskraft nährt. Immer mehr hindert ein geistreiches Spiel, das sich in neuen, kühnen Kombinationen erhitzt, die Vollendung da, wo der leidenschaftliche Wille zum Aufstieg das Maß befiehlt. Die Leidenschaft hat nicht Zeit, sich zu sammeln, um auf den Schwingen phantasievoller Technik in einem großen Moment auszuströmen. Sie ist nur Lüsternheit, nie von Bewußtheit und Ueberlegenheit frei. Das Theater stellt dem Genießer von Rang und Kasse das Weib aller Spielarten. Die Sängerin vergißt das nie. Didon auf der Bühne will Aspasia im Leben sein. Sie wird eine Meisterin der Künstlichkeit. Sie weiß, daß nichts den Mann der höchsten französischen Gesellschaft reizt wie die künstlichste Verhüllung, gesteigert durch den Reiz der anmutigen, gesellschaftlichen Bewegung. Das gilt ihm mehr als die Schönheit. Was sich hier prunkvoll und erfolgreich ausstellt, im Salon und Boudoir genießen zu können, – heißt zugleich Ehrgeiz und Lust stillen. Das historische Kostüm hat darum dem Gesellschaftskostüm zu weichen. Nun sollen zwar diese mit goldenen Blumen und Flitter besäten, von Perlen, Korallen, Muscheln strahlenden Gewänder, deren Falten die Glieder einhüllen, die antike Tunika vortäuschen. Aber die nackten Arme, die auf der Höhe des Biceps goldene Spangen zeigen, die Taille, die ein mit einer Kamee geschmückter Gürtel schnürt, die Füße, die über den hohen Schuhen sichtbar werden, erzählen alles Wünschenswerte und rücken es in das Licht des Salons. Die Bühne wird ein Triumph der Verwandlungsfähigkeit. Diese kann zwar auch einem tiefwurzelnden Trieb zum Ernst gehorchen wie in der großen Schauspielerin Clairon, die sich im Bühnenlicht zu ungeahnter Größe reckt und so ihrer noblen Geste und ihrem durch eine klang- und nuancenreiche Stimme unterstützten Pathos Wahrheit antüncht. Ja, der Reiz der Verfeinerung kann hier und noch viel mehr von der Opernsängerin St. Huberty gerade in der Verachtung der Künstlichkeit, in dem revolutionären Verzicht auf Verhüllung, in Entblößung des Busens, der Beine, Befreiung des Haars gesucht werden: der einmalige Effekt schafft noch keine Sitte.
Ja, das Erotische hat hier nicht die Kraft, eine Kantilene zu durchglühen, es gibt nicht Höhepunkte und Erschöpfungen, wie sie echter Aussprache der Leidenschaft folgen. Alle cadences und ports de voix bleiben Arabeske des Wortes, und überall wird der Effekt eines Komödienspiels belauert, das auf der Musikbühne selbst die Uebertreibung liebt, weil ihm der echte Ton nicht erreichbar ist.
Aber hätte die Primadonna nicht ein Recht, ihre Brotgeberin, die Regierung, anzuklagen? Man nennt sie wohl Königin der Oper. In der Tat wird sie zum Courtisanentum, dem sie von Natur zuneigt, durch die kärglichste Gage genötigt. Die große italienische Primadonna, scheinbar vom Instinkt bis zur Sinnlosigkeit beherrscht, ist eine Gewinn und Verlust abwägende, marktgängige, hoch und immer höher bezahlte, mit Bedacht zur Wohlhabenheit aufsteigende Künstlerin. Sie verbäte es sich, mit der prima ballerina als gleich zu gelten. Die »fille de l'opéra« aber mag froh sein, von der Regierung 2–3000 Livres als jährlichen Entgelt zu erhalten. Ist sie premier sujet und ohne ernstliche Mitbewerberin, kann sie kühn Gratifikationen fordern, auch wie die rücksichtslose St. Huberty, die Paris oft hochmütig im Stich lässt, um in Marseille unerhörte Primadonnenehren einzuheimsen, ihre Einkünfte bis zu 9000 Livres, doch nicht so weit steigern, daß ihr berechtigter Aufwand aus eigenen Mitteln zu bestreiten ist. Die Aristokraten müssen beispringen. Man weiß, wie der Kraftmensch Marschall Moritz von Sachsen, der in seiner langen Liste auch eine Adrienne Lecouvreur führt, sich im Dienste der Theatervenus verbrauchte. Jene gefeierte Mlle. Le Fel, die übrigens Farinelli in Paris mit Schrecken hörte, der Deutsche Grimm aber, intimster Beziehungen zu ihr verdächtig, als Ausnahme unter den Schreihälsen der Oper rühmt, ist nur eine der vielen »actrices«, die zur Aufbesserung ihres Einkommens Erziehungsgelder von den Vätern ihrer bunten Nachkommenschaft einstrichen. Und unter ihnen leuchtet als höchstbezahlte Frau die Tänzerin der Oper Mlle. Guimard, die dem Prinzen von Soubise allmonatlich 2000 Frcs. kostet und sich überdies in England bereichern darf.
Merkwürdige Doppelstellung der französischen Primadonna: hier pensionsberechtigte Hofbeamtin, scheinbar auf ein Mindestmaß von Genuß beschränkt, ist sie dort die verwöhnteste Herrscherin. Sie kann sich nicht zweiteilen. Ihre Laune ist nicht minder heftig, nicht minder unberechenbar als die ihrer italienischen Schwester. Sie will ihre Partie nie einer anderen lassen. Sie gestattet nicht, daß eine andere, selbst in ihrer Abwesenheit, ihren Ankleideraum benütze. Sie hustet; will heute, morgen, die ganze Woche hindurch nicht singen. Man sperrt sie ins Fort l'Eveque. Dort läßt sie sich's wohl sein. Verschwörungen gegen den Directeur des Spectacles zwischen der prima donna und der prima ballerina. Sie gibt nicht nach. Krankheit wird vorgeschützt. Man beginnt zu schmeicheln, zu bitten. Der König spricht ein Machtwort. Er hat sie in Fontainebleau zur Erstaufführung dieses Piccini gehört und erlebt, wie der Dichter Marmontel sich vor seiner Heroine verneigt. Kann man ihr ernstlich böse sein? Alles löst sich in Frieden.
*
Der Typus zeigt seine höchste persönliche Prägung in Sophie Arnould. »Ohne den Zauber der Betonung und der Deklamation der Mlle. Arnould«, bekennt Gluck, »hätte meine Iphigenie nie ihren Einzug in Frankreich gehalten.« Der 82-jährige Voltaire läßt sich zu ihr tragen und schwärmt von verklungener Herrlichkeit. Die Goncourts, die ihrem Zauber forschend nachgespürt haben, nennen sie die jüngere Schwester der Ninon. Die böse Zunge aber macht sie zur »doyenne des putains«, und dagegen kann, will sie sich nicht wehren.
In der Tat ist sie die singende Frau, in der das Erotische als »agrément de l'esprit« ein Leben erhellt und umschattet: die große, scheinbar absichtslos kunstfördernde Courtisane, die eines Fragonard würdig wäre, stets ihrer Macht und ihrer Grenzen bewußt, souverän in ihrem Reich, den Becher der Lust bis zum Grunde leerend, zuletzt aber als entthronte Königin der Oper die Vergangenheit liebkosend, bis die »citoyenne« Sophie arm wie eine Kirchenmaus im Beginn eines neuen, anders gerichteten Jahrhunderts sich von der Welt verabschiedet.
Aus dem Oval eines gewinnenden Gesichts schauen uns zwei große Augen an, deren Brauen leicht miteinander verbunden sind. Der Kopf, von dichten Haarwellen umrahmt, krönt einen nicht langen, aber in allen Gliedern vollendeten Körper. Ein weißes Gewand umhüllt sie: Tragödin mit dem Taschentuch in der Hand. Sie wirkt schön, weil die Anmut sie umspielt, Wärme von ihr kommt, der Roman ihr aus dem offenen Blick leuchtet. Die Stimme ist dünn, aber sie trägt. Die Schülerin der Le Fel und der Clairon gibt eine Synthese von gepflegtem Gesang, der doch nicht Belcanto ist, und von Aktion, die zwar nicht letzte Hingabe, aber nicht ohne Seele ist. Klage, Liebe, Sterben werden beredt. Und sie ist unerreicht ausdrucksvoll im stummen Spiel.
Nun besuchen wir sie an einem ihrer Empfangstage. An welchem? Etwa am Donnerstag, der nur den Frauen gehört? Wo der in der Pfütze gezeugte »calembour« zur bezaubernden Gassenbüberei verklärt wird und als Motto über der Eindeutigkeit des Lesbischen steht? Oder am Dienstag, wo freigebig bewirtete Künstler und Literaten Sophies beißende Schlagfertigkeit belachen und aus eigenem Geist zur Herabsetzung der Pompadour beisteuern? Hier ist die Arnould unübertrefflich im Prägen von Bonmots, die durch Paris fliegen. Das kann Mlle. Guimard nicht, die dreimal wöchentlich, heute Staatsmänner, übermorgen die Literatur und am Wochenende die verführerischste Demimonde empfängt.
Aber unsere Arnould ist auch auf der Gasse zu treffen, an der Seite eines Friseurs, den sie heiraten zu wollen scheint. Doch nein! Da ist sie wieder bei ihrem geliebten Mr.de Lauraguais, mit dem sie alle Schattierungen amouröser Raserei und Eifersüchtelei erlebt, den sie um irgendeinen Prinzen verläßt, um schließlich von ihrem früheren Geliebten gegen den neuen die Anklage wegen gesundheitsschädigender Langeweile erheben zu lassen. Oh, es gibt andere Schädigungen der Gesundheit, die man Sophie vorwirft!
Indes ist die Frau, die behauptet, 1745 geboren zu sein, längst über das Jahr 1757 hinaus, das die knospende Größe zuerst auf der Bühne sah. Man beginnt zu vergessen, wie diese Arnould aus dem Kloster in die Welt geführt, als Psyche, Thetaïre, alle, die Direktion, den König, die Kolleginnen, den Kapellmeister, die Prinzen, das Publikum beherrscht und gegängelt hat. Die an sich klangarme Stimme ist vom Leben der Ninon angetastet und bricht. Nun scheint die Grenze erreicht, wo Künstlichkeit eben noch Kunst heißt. Die Künstlerin, die den wahren Geist von Paris darstellt, streift nach einem Jahrzehnt schon der kalte Hauch halber Ablehnung, der die Presse ihren Hymnus entgegensetzt. Und noch ist ihr der Triumph durch Gluck aufgespart. Gut, daß der unerbittliche Meister kommt, nachdem die Gewarnte längst angefangen hat, pünktlich und gewissenhaft zu werden. Der Sieg der Iphigenie in Aulis im April, des Orpheus und Eurydice im August 1774 ist zugleich ihr Sieg. Dann aber stößt der Wille des Meisters gegen die Anmaßung eines dummen prinzlichen Geliebten. So hat die Soubrette Rosalie Levasseur die Unterweisung Glucks, der bei ihr wohnt, und die Rolle der Alceste. Es gerät ihr schlecht. Denn ihre unbiegsame Stimme hält es nicht aus, sie speit nach wenigen Jahren Blut und muß bald vom Schauplatz abtreten.
Sophie Arnould hatte sich vor ihr zurückgezogen, verwandelte sich, wurde Grundbesitzerin, die zärtlichste Freundin ihres Baumeisters, die gesuchteste Gastgeberin der Wortführer einer Revolution, die ihr auch die Pension raubte.
Mlle. Guimard als Terpsichore
»On est trop malheureux avec trop d'esprit«, sagte sie.
Mit halber Seele hatte sie dem Werke Glucks den ganzen Erfolg erobert. Die den Takt als ein »dummes Tier« zurückwies, den Kapellmeister den sehr ergebenen Diener der Primadonna nannte, mußte einem dienen, der sein schöpferisches Herrenrecht bis in die geringste Vorschrift behauptete. Ein Uebermaß an Stimme brauchte sie nicht. Sie hatte den Ausdruck, der aus innerem Reichtum kam, und der sie einem Garrick wertvoller machte als alle französischen Tragödinnen. Sie hatte die Kraft sinn- und seelenvoller Rezitation. Die Iphigenie, die zu den Göttern flehte, ließ keinen unbewegt. Mit dem Kopf, ja mit dem Gefühl verneinend, hatte sie einer neuen germanischen Kunst ihre nationale geliehen. So war doch das Erotische Zärtlichkeit und Zärtlichkeit Musik geworden? So daß sie in diesem Paris, wo die Entthronung des schöpferischen Instinkts durch den überlegenen Geist sich zeigt, dünne Fäden zur Urkunst knüpfte?
Es ist ihre Zeit nicht mehr. Die italienische Primadonna als dauernde Mahnerin zur Natur ist nach der Revolution, durch die Revolution hierher geweht. Gluck versteinert, und es lebt die Koloratur.