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XXIV

Alfreds Kommandant, ein alter Oberst, wollte auf eigene Faust, um einen Beweis zu liefern von seiner persönlichen Tapferkeit und von dem prachtvollen Geiste seines Regiments, den berüchtigten Brückenkopf an der Bsura stürmen. »Acht Reihen Stacheldraht? Drei Maschinengewehr-Abteilungen auf dem Raum einer Kompagnie? Betonierte Stellungen mit Traversen? Das ist sicher übertrieben, der Überläufer hat sich groß machen wollen, oder gar, meine Herren, das ist ein Trick von den Russen, sie wollen uns nur Angst machen. Aber da kennen die Leute mich nicht. Die haben keine Ahnung von unserem Regiment. Auch das Divisionskommando unterschätzt uns sehr, bedauerlicherweise. Übrigens: wozu sind wir da?«

Man hatte alles sehr geheim gehalten aus Furcht vor Spionage. Man hatte sich vorsichtshalber im Unterstand des Obersten versammelt. Hurra und Tusch der Regimentsmusik brachen aus. Alfred drängte sich gegen den Obersten vor, schrie ihm Nein! ins Gesicht, doch der Oberst verstand »Heil« und trank ihm zu.

Alfred zog ab, richtete in seinem Schupfen alles her, spannte Billrothbattist um einen Bauerntisch, disponierte, ließ alle Patrouillen in voller Adjustierung antreten, um zwei Uhr fünfzehn nachts war der Feuerüberfall mit nachfolgendem Infanterieangriff geplant. Jetzt, um zwei Uhr fünf Minuten, als noch die Maschinengewehre schwiegen, legte Alfred Holzwolle in die Schienen und feuchtete Stärkebinden an, um die Glieder gebrochen transportieren zu können, die jetzt noch gesund waren und keinen Schatten fühlten von Schmerzen und Vernichtung.

Die ersten Leuchtraketen wurden losgelassen bei den Russen im aufsausenden Infanteriefeuer, als Alfred die Pferde einspannen ließ und die Fuhrwerke auffahren ließ vor seiner Hütte zum Transport der nicht gehfähigen Verwundeten. Dann kam er selbst vor, neben dem Obersten, der aufrecht und mutig, einen Spazierstock in der Hand, eine Zigarette im Munde, durch die Stacheldrähte schritt, die erste Stacheldrahtzone der Russen passierte, um seinen Leuten auf dem Fuße zu folgen. Aber rechts und links glänzten Kokarden von hohen Russenmützen; Ordonnanzen kamen und gingen in höchster Eile, die Reserve mußte heran, von überall tackten Maschinengewehre, die linke Flanke war gefaßt; plötzlicher Schwindel warf Alfred rasend hin, der Luftdruck einer explodierenden Granate nahm ihn auf, schleuderte ihn zusammen, wie wenn er sich von oben her in gewaltig aufspritzendes Wasser geworfen hätte. An der Stirn war Alfred leicht verwundet, erhob sich aber sofort. Das ruhig gezielte Feuer der Russen stellte einen Feuervorhang auf hinter den stürmenden Truppen, die Reserven kamen nicht, keine Patrouille wurde wieder gesehen, der Adjutant fiel durch Kopfschuß. Plötzlich erkannte Alfred neben sich die zwei geschlechtslosen Männer mit den Ringen im Ohr, die, wie er wußte, zum Reservebataillon gehörten, sie waren also schon eingesetzt. »Meine herrlichen Leute haben sich durch das Sperrfeuer durchgefressen, aber wir können die Stellung nicht halten.« Schon schwankte alles zurück, schon warf sich Verwirrung in die Gräben, die eben erst verlassen waren, das beharrliche Sperrfeuer, das auf die bekannte Distanz eingestellt war, verwirrte, tötete, vernichtete alles. Man hatte im ersten Ansturm zweihundertfünfzig Gefangene und drei Maschinengewehre erkämpft. Aber am Morgen fünf Uhr früh war alles zu Ende. Das ganze Regiment, zweitausendsechshundert Mann, davon achtzehnhundert Feuergewehre Stand, war zugrunde gerichtet, alle Leiterwagen waren bis oben gefüllt mit Verwundeten, die Blut durchtropfen ließen von oben nach unten, und ihr Gejammer ließ den alten Obersten erbleichen.

Gegen Morgengrauen kam endlich die Divisionsreserve. Der Oberst wurde sofort vor den Divisionär geführt, der sich mit ihm und dem Generalstabshauptmann einschloß. Nach zwei Stunden wurde Alfred gerufen. Er machte sich vom Operationstisch frei; der Divisionär sagte zu ihm: »Wie Sie sehen, ist der Herr Oberst von einer Nervenzerrüttung befallen. Der Sanitätschef wird Ihnen ein Zeugnis mitgeben, Sie werden mit dem Kranken sich ins Garnisonsspital Krakau begeben, und Herr Hauptmann, übernehmen Sie zur Vorsicht alle Waffen vom Herrn Oberst.«

Der Oberst sagte auf der Reise: »Das ist schön, daß ich jetzt so mit Ihnen beisammen sein kann, das tut wohl. Ich lehne jede Verantwortung ab. Wir hätten ebensogut durchkommen können, das hätte dann den Herren beim Divisionskommando gepaßt, die Division wäre im Tagesbericht genannt worden, der Divisionär hätte einen Orden erster Klasse bekommen, ich zweiter Klasse, und die anderen Herren und die Mannschaften wären natürlich auch sehr schön dekoriert worden. Jetzt, weil es auf den ersten Hieb nicht geht, ist man ganz außer sich. Mein lieber Herr, Krieg kostet Blut. Aber mich will man in eine Anstalt stecken, will mich mit Gewalt pensionieren. Natürlich. In zwei oder drei Monaten ist Frieden, alle anderen in meinem Alter werden als Generäle nach Hause kommen, natürlich«, er versuchte Tränen und Brechen der heiseren Stimme, aber es gelang ihm nicht. Auf der Station hielt er sich lange am Büfett auf, trank zwei Flaschen Wein und mehrere Schnäpse und ließ den Zug abfahren, in dem sein und Alfreds Gepäck mitging. Im Rausch wurde er lustig, er wollte Karten spielen und spielte. Der Wartesaal wurde gefüllt von ankommenden durchreisenden Soldaten und leerte sich wieder. Der Oberst spielte mit Alfred um die Zeche Quodlibet, doch bestellte er unaufhörlich neue Getränke und bezahlte selbst. Spät nachts begann er zu zittern: »Es ist mir eigens, jetzt fühle ich meine Nerven. Mein Säbel ist fort, meine Pistole ist fort. Glauben Sie wirklich, daß ich wahnsinnig bin? Für meine Familie wäre das entschieden besser. Mein Sohn ist in der Kadettenschule, es ist besser, sein Vater ist im Garnisonsspital als im Garnisonsgericht. Der Divisionär war außer sich, ›Kriegsgericht, Sie kommen vors Kriegsgericht, ein Offizier wie Sie gehört vors Kriegsgericht‹. Beinahe hätte er mich geschlagen. Dabei werde ich Ihnen ein Geheimnis anvertrauen, dieses Husarenstück hätte gelingen müssen, wissen Sie, ich kenne den Alten und weiß, was für Geserres er macht, wenn im Gefechtsbericht ein bisserl größere Verluste sind als gewöhnlich. Aber ich hab' mir gedacht, du hast doch immer Glück gehabt, weshalb wirst du das Glück nicht riskieren, wo etwas Großes herausschaut fürs Vaterland? Und hab' ich nicht Glück gehabt? Meine Leute sind alle Helden. Zweihundertfünfzig Gefangene, ist das nichts? Und davon hat mich der Alte gar nichts erzählen lassen. Die Artillerie war es, mein lieber Herr Doktor, Sie waren ja dabei, Sie können es bezeugen, sie hat zu kurz geschossen, und vor allem viel zu wenig, die haben ja direkt geschlafen auf ihren Geschützen, sagen Sie, war es so? Es war doch so? Warum sprechen Sie nicht? Glauben Sie, ich habe Ihnen nichts mehr zu befehlen? Nun, war es so? Können Sie das protokollarisch bezeugen, wenn ich es von Ihnen verlangen sollte? Also, ja oder nein? Stehen Sie auf, nehmen Sie Habtachtstellung ein! Sie stehen nicht Habtacht, sofort werde ich Sie, nein, nichts werde ich Sie, o seien Sie mir nicht böse, ich bin Soldat, bin Soldat gewesen, dreißig Jahre trage ich Kaisers Rock, noch ein Jahr und dann Generalmajor, erblicher Adel, und jetzt. Vielleicht bin ich wirklich wahnsinnig, steh auf und geh und erwürge mich selbst in der Nacht im Klosett, da man mir alle Waffen abgenommen hat. Der alte Oberst ist ein Ehrenmann, dem Krieg und den Strapazen leider nicht gewachsen, und mein armer, armer Sohn bleibt in der Kadettenschule.« Endlich kamen ihm Tränen, die im dunklen Wartesaal niemand bemerkte. »Geben Sie mir Feuer!« Und als Alfred sein Gesicht hinbeugte zu dem seinen und Alfreds abgemagerter Hals im Flackerlicht der Gaslaterne schimnierte: »Oder wissen Sie, ich könnte ebensogut Sie erwürgen. Dann gelte ich als zweifellos nervenzerrüttet, während jetzt alle mich für einen Lügner und Feigling halten. Ich bin nicht betrunken, weiß, was ich rede, was hab' ich getan? Wie komme ich dazu? Ist das ein Benehmen, so mit einem hohen Offizier umzugehen? Man hat mich geliebt, sehen Sie diesen Ring, den hat der Hufschmied aus einem russischen Zünder gemacht. Fünfzig solcher Ringe habe ich bekommen, so lieben mich meine Leute, und neunundvierzig habe ich wieder an tapfere schneidige Leute weitergegeben, so liebe ich sie. Für jeden Russen, der umgebracht wird, kommt einer von meinen braven Leuten nach Hause, lebend und gesund. Sie glauben, ich habe noch keinen Moskalen abgeschossen? Oh, da täuschen Sie sich sehr. Wissen Sie, wann war denn das nur, ja, wie wir beim sechsten Marschbataillon gehalten haben, und entschuldigen Sie das schon einem alten Offizier, nach Marschbataillonen zählen, das ist meine Zeitrechnung und Kalender. Sie, mein Sohn, sind mit dem achten gekommen, na, stimmt's? Also vor Ihrer Zeit bin ich beim Sturm immer lustig mitgegangen, ich habe gelauert auf die Herrn Russen, einem ganzen Haufen habe ich den Rest gegeben.«

»Sie?«

»Obwohl ich das als Oberst natürlich nicht nötig hätte.«

Der Oberst trank ein Glas nach dem anderen, sehnte sich nach einem Rausch, der nicht kam: »Jetzt erheben wir uns. Sprung auf und vorwärts ins Nachtcafé.« Dort war das Büfett reich besetzt mit Fischen, Schinken, Wein und Torten. Der Oberst nahm das Schinkenmesser in die Hand. »Ob das schneidet? Na, aber auf Schinken habe ich eigentlich keinen Appetit.« Damen drängten sich heran: »Auf Sie? Auch nicht sehr.« Zu Alfred: »Eine kleine Frage, die mich oft sehr bedrückt. Passen Sie auf, hören Sie zu: Ich habe ein kleines Kind gehabt, eineinhalb Jahre alt, ein wunderbarer Kerl von einem Kind. Dieses Kind fiel am 21. Juli in heißes Wasser. Ich war gerade aus, die Garnisonsarreste inspizieren, die Frau war am Tennisplatz, kurzum, das Unglück ist geschehen. Wie ich heimkomme, schreit das Kind, daß die Scheiben klirren, zum Entsetzen, fürchterlich. Die ganze Brust verbrannt und die Arme. Nach zehn Minuten hört es auf, liegt vollständig still, redet nur nichts, ist etwas kalt, trinkt Milch. Das war um fünf Uhr nachmittags. Um elf Uhr spricht es noch etwas und schaut auf mich. »Addi, addi«, sagt es, und ist schon recht kalt. Um zwei Uhr morgens ist es tot. Was, glauben Sie, hat dieses Kind gelitten diese neun Stunden? Hat das Kind viel ausstehen müssen? Das bedrückt mich oft!«

»Schmerzen hat Ihr Kind nicht gelitten, es war im Choc. Gott hat es schließlich doch noch gut gemeint.«

»So, Choc, das ist sehr interessant. So, jetzt entschuldigen Sie mich, ich erscheine gleich wieder.«

Nach fünf Minuten kam eine Kellnerin: »Herr Doktor sollen sofort zum Herrn Obersten kommen, ihm ist schlecht.«

Der Oberst hatte sich das linke Handgelenk mit dem Schinkenmesser aufgeschnitten. Alfred legte einen Verband an. Der Oberst schlief. Alfred wachte.

Totschläger erschlugen in Massen Totschläger, doch Mensch war überall, den Menschen zu retten.

Versöhnung der ganzen bösen Zeit: war es, Aufatmen und Beseligung, diesen Menschen lieben zu können, selbst diesen Menschen, der sechzehnhundert Menschen vernichtet hatte in einer Stunde. Auch dieser hier war menschlich, erschütterbar von anderer Leiden.

Am nächsten Morgen, auf der Reise: »Sehen Sie«, sagte der Oberst, »wie die Leute mich jetzt ganz anders ehren, wie sie strammstehen, alles denkt, ich bin verwundet.«

»Sie sind verwundet, Herr Oberst.«

»Ja, alles recht gut und schön, aber wenn nur dieses infame Zeugnis vom Sanitätschef nicht wäre. Können Sie es nicht verlieren?«

»Nein.«

»Aber wenn es gestern unter Ihren Sachen gewesen wäre, die im Zug geblieben sind, so etwas kann einem Soldaten passieren.«

»Das ist mir als Soldaten unmöglich.«

»Aber als Menschen, Sie tun mir Gutes damit. Ich werde Ihnen dankbar sein. Ich werde selbst ...«

»Kein Wort«, sagte Alfred. »Ich zerreiße das Zeugnis.«

Nachher nahm der Oberst seine Hand mit eiliger Rührung, als wolle er sie küssen. Dann steckte er seinen eigenen Soldatenring an Alfreds Mittelfinger: »Bitte, nehmen Sie es, tun Sie es mir zuliebe, zum Zeichen, daß Sie mich nicht verachten!«

In Krakau wurde der Oberst auf Grund seiner Verletzung auf die chirurgische Abteilung gebracht, wo jetzt Doktor Eggenberge Dienst tat.

»Sie hatten doch ein Zeugnis von dem Sanitätschef mit, Herr Doktor, wo ist dieses Zeugnis?« fragte der Oberst.

Alfred schwieg.

Menschen lieben! Menschen erwirklichen. Gut sein zu Menschen. Güte war Freude am Menschen. Wo aber waren Menschen, unschuldige Opfer, von Güte geschwellt?

»Sie, Herr Fähnrich, Sie sollten sich eine strammere Haltung angewöhnen! So machen Sie unserem Regiment keine Ehre, wenn ich auch nicht über Sie klagen kann. Wir brauchen Sie hier nicht mehr. Ihre Verwundung ist ja auch kaum der Rede wert. Denken Sie sich, der Friseur hätte Sie beim Haarschneiden mit der Maschine gezwickt. Sie gehen also wieder zum Standort des Regiments zurück, die Marschordre erhalten Sie in der Kanzlei.«

Als Alfred schon ging: »Pardon! Ihr Ring? Hm, sonderbar, sieht meinem ähnlich, den ich gleich nach der Verwundung am Hilfsplatz verloren habe. Übrigens wertloses Andenken, spielt gar keine Rolle. Adieu, adieu, lassen Sie nur!«

Doktor Eggenberge hinter Alfred her: »Ich kenne ihn ja, den Herren, den Schmeichler, ein Speichellecker, nehmen Sie mir das Wort nicht übel, Herr Oberst, das ist ein geübter, raffinierter Mastdarmtourist.«


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