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VIII

Alfred war Mediziner. Seine Kameraden labten sich vor dem ersten Eintritt in den Seziersaal im Kaffeehaus mit Kognak, nahmen starke Zigarren mit, um die bösen Düfte zu vertreiben; sie stützten sich mit Spazierstöcken auf den rauhen Asphalt, der, leicht sich senkend, um das schwarze Ablaufloch kreiste.

Alfred verachtete Kognak, Zigarren, Spazierstock. Er hatte ja Poldi, er dachte an seine Poldi, sah sie wieder, mit Gewalt rief er die grausigen Erinnerungen auf gegen die Totenkammergegenwart, gegen diesen Nachmittag, den dunstigen Herbstnachmittag des 23. November. Er erinnerte sich, er sah Poldi voll von Blut. Der böse Traum in böser Nacht, war nicht das die stärkste Abhärtung? Poldi, in empörter Verwirrung stolpernd auf dem steinigen Hang am Fluß, Poldi, schwanger, angesteckt mit dem verachteten Kind, Poldi, herabsausend die Treppe in der Kaserne, von Leutnant Rudi ins Elend gefeuert, das sollte dienen als Panzerung! Damals war das Lebende elendiglich krepiert (allzu starke Worte schrie der Erblassende sich zu), was war hier? Höchstens eine alte Leiche, ein längst »regelrecht klinisch« gestorbenes Individuum, tadellos konserviert! Er zwang seine hohle Stimme. Er zeigte den Kameraden die Wunde am Oberschenkel, von wo der Toten Karbolsäure eingespritzt war; noch hing ein kleines Endchen schmutzigen Fadens aus dieser letzten Wunde hervor.

Nicht mehr menschlich war das Wesen, das starr, glattrasierten Hauptes hingestreckt war auf braunem Marmortisch, bloß ein Etwas, Lehrzwecken Dienendes, Prüfungsgegenstand beim Rigorosum, ein Dauerkadaver!

Ein sechsflammiger Luster überstrahlte hell den abgezehrten Leib; über die kantigen Schienbeine flirrte elegant das Licht; im Schatten lag das Haupt, eingebettet war das Haupt in einen ausgehöhlten Block, niederhing zerschlafft das Haupt, auf schwarzes, schweres Holz, hartes; härter noch als das Kissen daheim, das Roßhaarkissen, für ihn gewohnt und weich, für Poldi ungewohnt und hart; aber er schlief schon Tausende von Nächten darauf, Poldi erst eine. »Alles Gewohnheit«, ein böser Witz wurde ihm plötzlich Würgen, Grauen, Entsetzen: Erbarmungsloses schlug den Erbarmungslosen.

Alfred sank nieder. Er verschluckte seinen krächzenden Schrei mit bitterem Speichel; mit Gewalt richtete er sich auf, befahl sich Ruhe, Charakter, anständige Haltung! Aus tiefster Zerknirschung kommandierte er sich empor, Lächeln kommandierte er sich, Abhärtung, Angewöhnung; hingehen, nochmals zu dem Kadaver zurückgehen, nicht zucken, sich niederbeugen, und jetzt den Menschen, den Kameraden, der Welt beweisen, daß er Angst und kindische Regungen nicht kannte.

»Sie heißt Maria Katharina Nepomuk, sie ist achtundfünfzig Jahre alt«, sagte er; ganz hatte er sich wieder, deutlich las er die Buchstaben ab von dem kleinen Papptäfelchen, das, blauen Nagel verdeckend, an der Zehe der Leiche hing, deutlich las er die Buchstaben, wie eine Zeitung am gedeckten Tisch daheim.

Zu den Kranken durfte er noch nicht, aber den Toten ließ man ihn morgens die Nieren ausschneiden, das blasse, schlaffe Organ in die gehöhlte Hand nehmen, es sorgfältig abspülen, in »Kayserling« konservieren, in klarer, scharf härtender Flüssigkeit; dann wurde das fremde Stück Mensch eingebettet in öligem Paraffin, zerschnitten mit breitem Rasiermesser nachmittags, mit seinem Haarpinsel fortgeschoben in kleine Schälchen, in denen rote Farblauge siedend kochte; andere Schälchen, mit Zedernöl, hart glitzernd warteten: durchsichtig wurde da das Schnittchen Mensch, die ein hundertstel Millimeter dünne Schicht Mensch, wie bunter Kristall leuchtete sie im Licht der Laboratoriumslampe, abendlich im Gegenlicht des Mikroskopspiegels, unter tausendfacher Linse; Zellen zeigten sich, der Kern war blau, noch im Tode hatte er nach blauer Farbe allein gehungert, die Zellwand war rot, hatte noch die Sehnsucht nach Rot bewahrt, lange über das eigene Leben hinaus, unsterblich, unzerreißbares Leben!

Jetzt erlebte er, unerschüttert, unmenschlich, Kollegienhefte schreibend, um die Prüfung mit Glanz zu bestehen und um Freude am Leben zu haben im künftigen Beruf:

Hunde waren bloß mit Kuraregift gelähmt, nicht betäubt; stumm, künstlich auseinandergeatmet mit exakt schnurrendem Motorapparat, lagen sie auf dem blutschlüpfrigen Brett, und die Augen schimmerten klug, das Tier lebte, wußte, die Augen wanden sich vor Schmerzen.

Der Nerv wurde gereizt, der Muskel zuckte prompt; das Tier lag ruhig. Nichts störte den Unterricht. Das Brustbein, steiler Kiel, senkte sich, taktfest sich wiegend, friedlich! Der Nerv wurde gereizt mit Hitze, mit aufzischendem Eisendraht, etwa 220 Grad heiß, da der Nerv gleich verkohlte, der Muskel zuckte.

Der Nerv wurde gereizt mit Salzsäure, der Muskel zuckte. Der Nerv wurde gereizt mit einer scharfen Zwickzange, der Muskel zuckte: aber friedlich wiegte sich der Kiel, zusammengedrängt von den rippenscharrenden Brustwänden. Der Professor sprach weiter, das Hundebrett wurde wieder abgetragen, der Kopfteil, das Kopfgestell, das Köpfchen, die schwarze Schnauze hinter weißem Nikkei nach unten gehängt. Das Tier lebte.

Nach der Stunde wagte Alfred sich hinein in den Vorbereitungssaal. Ein alter Diener, rotnasig, mit alkoholisch bunkernden Äuglein, stand beim Hundebrett und befreite das Tier von Stricken, Riemen, Kopfgestell und weiß umspeichelten Kinnketten.

»Dös Kurare, sehen's, läßt schon nach! Schaun's, wie's wieder zuckt und nach Luft schnappt, dös Hundsviech?«

Das Brustbein, steil umhaarter Kiel, reckte sich wild, es fielen zusammen die vier auseinander gekreuzten Pfoten in ein zappelndes Gewühl.

»Dauert das noch lange? Wie lange muß es noch leben?«

»No, wie's is, so is es, drei Stunden kann's dauern, oft an halben Tag. Eitrigen Pleuritis kriegt der Hund, sollt' man nicht glauben, daran stirbt er so meist.«

»Und können Sie nicht? ...« In drei Stunden, dachte Alfred, bin ich beim Mittagstisch, Reissuppe mit Champignons, Huhn mit Reis, Kompott, süße Mehlspeise, Zigaretten in warmer Stube, das habe ich vor mir. Was hat dieser Hund, diese Kreatur vor sich?

»Was denn? Wozu denn? Was fällt Ihnen ein? Das Objekt liegt ja bis zum Sterben soweit ruhig, Arbeit habe ich genug ... jetzt heißt es dreihundertfünfzig Meerschweindeln abmarkieren und die Hunde und die Affen... denken's nur, die Affen: ein Aff, der gibt Ihnen direkt aus für dreißig Hund'! ... Alles an einem Vormittag!«

Alfred steckte ihm fünf Kronen zu.

»Dank schön, Herr Doktor, gleich werden wir's haben!«

Er nahm eine Spritze, füllte sie mit Sublimat, rosenrotem Gift.

»Jetzt, Sie lieber Herr, werden's sehen, wie wir ihn bumsen, den Hund!«

»Schnell, so doch schnell!« sagte Alfred.

»Da hast!« sagte der Diener zum Hund.

Er stach die Spritze ins Herz, in einem Zuckkrampf verendete sekundenschnell das Tier. »Aus is«, sagte der Diener zu Alfred.

Endlich ließ man den Mediziner in die Klinik. Man transportierte die innerlich Kranken schonungsvoll im Lift, rollte sie herein auf Wägelchen, ohne Hemd lagen sie weiß auf weißen Tüchern. Armselige Krankheiten gab es, die üblichen Leiden des Proletariats, Durchschnittstuberkulose, Schusterkrampf, Bleivergiftung der Wasserleitungsmonteure. Andere Krankheiten konnten aber auch die Reichen treffen, niemand war gefeit, hier, endlich hier, waren alle gleich, und der einzige, der über der Sache stand, war der Sachverständige, Oberstkommandierende, der Chef. Statistiken, namenlose Zahlen wurden am klinischen Material gesammelt, Sprechen, Denken, Schreien wurde den Kranken verboten. Alle menschliche Kreatur war gleich auf dem Seziertisch, auf dem klinischen Qualenbett: Ein Napoleon konnte am Magengeschwür verbluten, daliegen weiß auf weißer Decke, Angesicht zu Angesicht eines Mediziners, der von der Höhe der vierten Bankreihe aus infernalischer Leere herabsah auf ihn und sein Gesicht, sein Schicksal, seine Hände, blutentleert.

Die Klinik der gebärenden Frauen: waren das nicht die Mädchen des Parks, der Abendwiesen am Sonntag, der schützenden Gebüsche? In frecher Lustigkeit die Spazierstöcke der Herren schlenkernd, in widerlich berauschter Sinnlichkeit sich auf Bänken unter nächtlichen Bäumen, im nächtlichen Parke sich an »fesche Mannspersonen drängend? Nie hatte Alfred eine »intime« Bekanntschaft gehabt, nie war er in Gefahr, eine von ihm verlassene Geliebte auf dem Kreißzimmer wiederzufinden, er liebte keinen Menschen, nie hatte er um seine Frau zu zittern; zittern mochten die anderen, rabiate Arbeiter, drohend herantretend an nervöse Ärzte; aber auch mit diesen wurde man rund fertig, hauchte sie an, verwies sie auf das Reglement, auf die offiziellen Besuchsstunden, das Prinzip. Stundenlang machten sie nachts die Runde um die Frauenpavillons, die Frau aber, eine Stunde vor ihrem Ende, septisch bis in die letzte Ader, lag da: im Mikroskop war bereits eingestellt in tausendfacher Vergrößerung ihr »Stamm«, die blaue Kette giftigster Bazillen; der Oberarzt zeigte sie den Studenten, sprach vom sichern Exitus letalis, entsprechend der Statistik, einer Mortalität von neunzig Prozent, »und das ist praktisch soviel wie hundert.«

Die Frau aber, ein Schulfall der Schule, der junge sterbende Mensch, sang, umflossen von blonden Haaren, trillerte, mit trügerischer Freude gefüllt bis in die letzter Ader, lustige Gestanzeln oder: »Wien, du Stadt meiner Träume«. Der Arzt sprach von septischer Euphorie, am nächsten Tage fehlte die Frau in der Reihe der Kranken.

Es gab kleine und große Chirurgie:

Pülcher, Vorstadtapachen starrten wütend, zeigten unter schwarzbrauner Wäsche schmutzige, harte Leiber, kreuz und quer zerstochen vom Messer des Kameraden; nie nannten sie Namen, murmelten etwas von: »Lumpiges Pech, halt a klan's Malheur, durch an Zufall, halt beim Spaziergeh'n!« Böse zuckten sie, wenn die Wunde genäht wurde: »Den Faden sollt's endlich kürzer nehmen, Dreiteufelgesellschaft, schäbige, umeinand, immer wieder tut ihr an vivisekieren mit eure ellenlange Violinsaiten ...«

Große Chirurgie war: Nachtrunde in endlosen Zimmern, mit Gummiläufern gepflastert; die Nonnen, flügelrauschend mit breiter, zart gezackter Haube, mildes Gesicht, überstrahlt von kleiner Lampe, mildes Gesicht, im Dunkel leuchtend wie Phosphor; das Nachtlicht war abgeblendet durch ein Gebetbuch, das wie eine schwarze Hand, breit entgegengefaltet dem Licht, auf der Kante stand in der Stille, und leise raschelten die Blätter, der Hitze der Flamme zugewendet im Schlafe der Nacht.

Im Wasserbett lagen Maurer, mit gebrochenem Rückgrat, schlaflos plätscherten sie matt, schweren Dunst verscheuchend durch Zigaretten, die nur langsam schwelten in der Feuchtigkeit: die gebrochene Wirbelsäule heilte nie, unrettbar waren sie und blieben sie nach dem Staubsturz vom Gerüst. Doch konnten sie noch sehr lange leben, sich lange wohl fühlen im lauen Wasserbett, rauchend feuchte Zigaretten, plätschernd im Wasser die lange Nacht, haschend nach Zeitvertreib.

Alfred war ein guter Mediziner. Tatsache war: Hier bestand keine Möglichkeit menschlicher Hilfe. Doch ging man täglich als sorgsamer Arzt vorbei, betrachtete die Temperaturkurve, auch wurde die Hand des Falles angefaßt, zur Untersuchung und auch zum Trost: denn energisch drückte der »Fall« seine aufgeweichte, schwammig zerfließende Hand in die Rechte des Mediziners, lachte und freute sich, daß die Lähmung nicht bis zur Hand reichte. Die Schwester stand dabei. Die Beaufsichtigung, die Pflege war stets sachgemäß. Alfred lächelte ein ruhiges, beruhigendes Ärztelächeln, als er den graudunstigen Raum, das ewige Rasseln von Wasser, den feuchten Fußboden, den grau rasselnden Menschen verließ. Er wurde nur kurz vor dem Tode herübergebettet aufs Land, aufs trockene Bett: und schon sah Alfred über Leiden und Tod hinweg, hinweg über jeden Menschen das »Präparat« vor sich, das spitzgeknickte Rückgrat des lebenden Maurers in der anatomischen Sammlung des Professors.


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