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XX

Das Fürchterlichste war für Alfred der Wirbel der Namenlosen, die waggonweise anrollten. Sie erschienen dann, in Ambulanz-Autos zu je vier verpackt: wie in Schubladen eingeordnet, atmeten lautlos, feucht das Haar wie nach einem Bade, und ihre Beine in hohen Stiefeln waren machtlos, schwer und wie Stücke Erde bloß. Alfred schrieb sich ihre Namen auf, nahm ab von ihrem Halse kleine Zettelchen, die sie trugen mit Angabe des Regiments, des Assentjahrgangs, der Truppe, des Alters und des Namens. Auch Häufchen mit Heimaterde hatten viele umgebunden in Säckchen, zinnerne Muttergottesbilder, Kruzifixe neben Beutelchen mit Geld. Namen, Menschen waren:

Janusek, Johann – Bleschke, Karl Ferdinand – Zarzel, Leopold – Schmidt, Franz – Zaboynok, Johann – Gerrö, Ferencz – Sarmann, Imosan – Cohn, Salomon – Meyer, Georg – Panek, Josef – Kreß, Karl – Kosziban, Georg – Navel, Michael. – Nach zwei Tagen hatte er ein ganzes Buch voll. Er hatte Namen bei sich, und so träumte er auch Menschen bei sich zu haben, unverrückbar, mit Namen gefangen, wie eine Mutter Namen nennt für ihre Kinder. Den ganzen Tag blieb er in ihren Zimmern, er schmiedete sich wie für ein ganzes Leben eine Heimat aus Baracken.

In diesen Baracken gab es Wärter, die die bewußtlosen Kranken bestahlen, Unteroffiziere, denen in jeder Tasche eine gestohlene Uhr tickte, denen war Alfred zur Last und sie wollten ihn vertreiben.

Sie ließen die Kranken ungeputzt, warfen ihnen bloß frische Wäsche um, reine Hemden glitzerten starr unter schwarzen Gesichtern und über kotbedeckten Bäuchen. Nie kämmten sie die Kranken, sondern schoren rund an den Köpfen mit der Maschine, in der die spröden Haare mit Erde vermengt krachten. Vor Alfreds Füßen kehrten sie mit brutalen Besen Staub auf und nieder, sammelten lachend Haare in Büscheln vom Boden auf, Tabakreste, Reste des Lebens überhaupt.

Die ordnungsgemäß eingestellten Ärzte kamen und besahen Alfred mit ironischen Blicken: »Das ist ja prächtig, daß Sie sich nützlich machen bei unseren ›rührigen‹ Kämpfern«. In weißer Reihe gingen sie zwischen den Betten der Ruhrkranken durch. Kurz vor dem Ausgang blieben sie stehen, einer erzählte: »Auf der Kärntnerstraße in der Nacht um zwölf seh ich einmal ein junges Fräulein gehen, mit Lackschuhen, eine große Notentasche trägt sie unterm Arm. Was sind das für Noten, denk ich mir. In der Kärntnerstraße um zwölf? Ich gehe also hinter dem Musikfräulein hin und her und schau sie immer an, dann sag ich ihr: ›Gnädiges Fräulein, ist es Ihnen denn nicht unangenehm, daß Sie hier mitten in der Nacht so allein gehen?‹ – Sie dreht sich um, ganz verschämt: ›Küß die Hand, ich bin a Hur'!‹« – Alle lachten. Ein älterer Arzt nahm Alfred mit sich: »Was machen Sie eigentlich hier? Sie könnten längst auf Erholungsurlaub sein. Und dann machen Sie eine kleine Mastkur. So werden Sie alles tadellos überstehen. Im Grunde ist es gar nicht so schrecklich, die Hauptsache ist eine gute Gesundheit, stramme Nerven vor allem. Es gibt Erfreuliches, überall, erfreuliche Arbeit meine ich natürlich, vor allem nicht zu viel Arbeit, das bin ich meiner Familie schuldig und somit auch dem Vaterland!« Nachts wurde dieser Arzt gerufen, ohrfeigte jedoch den Wärter von seinem Bette aus und wurde grob gegen Alfred. Seit einigen Tagen gab es nämlich Hochfiebernde, die nachts die Wände ansprangen, die Nachtgeschirre an den Lampen zerhieben, so daß das ganze Zimmer beschmutzt wurde, tagsüber aber lagen diese Menschen ganz flach da, wurden als gemeine Wald- und Wiesenbronchitis geführt, während Alfred Seuchen fürchtete.

Die Ärzte waren nicht aus der Ruhe zu bringen. Ein älterer Herr meinte: »Es gibt nur ein Heilmittel gegen Typhus, und wissen Sie, was das ist? Die Aufbringung neuer Soldaten. Die Notwendigkeit frischen, ordentlichen Menschenmaterials ergibt sich auch aus medizinischen Gründen.«

Ein bosnischer Hirte wanderte allnächtlich aus. Gegen drei Uhr morgens war alles, Alfred, Wärter und Wache, zusammengesunken in Schlaf, der bosnische Hirte allein schlich sich durch, wankte dahin, um sich dann im Hofe neben den Misthaufen zu legen, auf dem Stroh sich zu wälzen, das aus Ungezieferbetten ausgeschüttet war und des Verbrennens harrte. Hunger nach dem Geruch der heimatlichen Ställe, nach dem Hauch der heimatlichen Himmel hatte ihn dahingeführt. Im Freien wurde er am 7. Dezember tot gefunden. Schwarz starrte sein armes Gesicht, sein hängender Bart unter dem Stroh. Er hieß: Viso Yovis.

Von jetzt an konnte Alfred die Namen schwer behalten, er konnte die Menschen vom Material nicht mehr gut unterscheiden. Gebrauchte Verbandrollen erkannte er wieder am nächsten Tage, ein schwarzes Lederbänklein, das den schweren Patienten unter das Kreuz geschoben wurde, merkte er sich. Aber die Menschen selbst nicht mehr.

Ein Klumpen Ruhr, eine Asbestbaracke Typhus, eine Scheune Verwundete, ein ständiger Belag, mit Kreide in der Kanzlei auf einer Schultafel notiert, das gab es. Seele gab es nirgends, Mensch gab es nirgends in diesem hohen Haufen getürmter Soldaten!

Er hörte ihr Schreien, stillte ihr Blut, flößte ihnen Tropfen ein, ließ ihnen zuteil werden Hilfe in Operation und Tat. Leben konnte er nicht mit ihnen, er war auch ihnen nur ein Tropfen Medizin, eine Art Verband, eine Gestalt trinkbaren Wassers und kühler Erfrischung. Während der vielen Wochen im Lazarett hörte er seinen Namen nur bei der Auszahlung seiner Gage und beim Empfang der Gebühren.

Plötzlich verschwanden die Kranken, fortgeschafft über Nacht. Züge rollten ab, Reihen von Betten standen leer. Auch jetzt arbeitete Alfred weiter, schichtete Matratzen und Keilpolster, zählte Stöße von Nachthemden und Krankenhosen, lange Nachmittage hindurch, der menschlichste Mensch wurde eine bloße Maschine der Energie, im letzten Willen weiterschwirrend und sausend dahin unter Maschinen!


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