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VI

»Wach auf, Poldi!« sagte er, »wir müssen gehen.«

Sie hatte geträumt, wie hatte sie geträumt! Beim Einschlafen hatte sie vor dem Erwachen gezittert.

Mit fremden Augen sah sie sich im Zimmer um, wie ein Wahnsinniger, der aus dem Wahnsinn erwacht oder aus lichten Momenten wieder in Wahnsinn verfällt. Mit weiter Gebärde winkte sie ihm vorauszugehen.

Er wartete in der Küche. Ängstlich hielt er sich in dem winzigen Lichtkreis der kleinen Petroleumlampe, die ein wellig ausgestanztes Blech hinter sich hatte. Lange starrte er das verzinnte Eisen an, bis er müde wurde. Er hoffte, daß Poldi ihn allein in der Wohnung zurücklassen würde, seine Müdigkeit tat ihm wohl.

Die Lampe flackerte unruhig, Angst war in der bläulich zuckenden Flamme. An der Wand des Zylinders klebte eine dicke Kruste von Ruß, noch von der Zeit her, da die Lampe stärker gebrannt hatte. Durch die dumpfe Küche schritt ernst das fremde Mädchen. In den weißen Falten ihres wehenden Kleides lag etwas von dem Duft der Nacht, der durch die geöffneten Fenster zu ihr gestrebt war.

Der Fußboden zitterte leise; leise erzitterte die kleine Lampe, ein Stückchen Ruß löste sich, einer Schneeflocke gleich glitt es herab und erstickte die Flamme. Endlos war die Treppe; dumpfe Luft stieg aus der Waschküche und dem Keller empor, aber durch das geöffnete Haustor flutete eine wundervolle Nacht entgegen. Sterne, lodernd, wiegten sich strahlend in seliger Unendlichkeit.

Alfred fühlte nur, daß er Poldi nicht allein lassen konnte. Irgend etwas wartete noch auf ihn, etwas mußte getan werden. Er hatte vor, ihr schnell die Hand zu geben, zehn oder zwanzig Schritte von seinem Haus entfernt. Er wollte sie um den Abschied bitten, sagen, daß er müde sei, abgespannt, krank. Morgen sollte der Kommers zur Feier des Examens stattfinden, morgen konnte der Vater erwartet werden, und er mußte doch das Zimmer in Ordnung bringen, damit niemand etwas merkte.

Er streckte seine Hand aus und blickte Poldi an. Aber sie sah ihn nicht. Stumm, unberührt, wie ein Blinder in der Sonne, ging sie dahin. Er sagte sich, sie sei durch diesen fürchterlichen Tag wahnsinnig geworden. Es blieb nichts übrig, als sie ruhig weitergehen zu lassen, aber er rechnete damit, einem Sicherheitswachmann zu begegnen, dem ihr verstörtes Wesen auffallen mußte, aber er fürchtete, sie sei dazu doch nicht verstört genug.

Die Straßen blieben leer, niemand zeigte sich, niemand wußte von dem Grauen eines zum Tode verurteilten Menschen. Alle Häuser waren grau und ruhig, gemütlich leuchtete der Kassaraum einer Bank, in dem zum Schutze gegen lichtscheues Gesindel die ganze Nacht hindurch grüne Bürolampen brannten. Poldi ging einen Weg, aber sie schien diesen Weg selbst nicht zu kennen, schien wie ein Übermüdeter besonders großen Pflastersteinen zu folgen oder den Spuren einer Droschke nachzurennen, die sich auf dem vom Regen benetzten Asphalt abzeichneten.

Plötzlich jagte sie eine abschüssige Straße herab, neben der ein übelriechender Fluß vorbeizog, in Perlmutterfarben schillernd. Und mit ihm zog der Geruch von Maschinenöl und der Geruch zusammengepreßter Menschenleiber.

Sie zögerte, ging von einer Seite der Straße zur anderen, endlich trat sie durch ein Ladentor in einen Hof ein. Schief gewachsene Häuser standen da, irgendwo schlief ein Holzwagen, ganz verlassen, die hölzerne Deichsel zu Boden gesenkt. Rings um den Hof liefen eisenvergitterte Galerien, Blumenstöcke hingen verwelkt am Fenster, ganz ermattet von längst verflossenem Licht.

Alfred atmete auf. Was Poldi suchte, das war ihr Haus, jener Korridor, wo man auf Kohlensäcken schlafen konnte. Schließlich konnte man überall schlafen, wenn man so müde war, und sie war müde. Sie schwankte umher, hielt sich an der Mauer fest. Mit gebeugtem Kopf suchte sie nach Schwellen von Türen, die nicht da waren. Aber endlich mußte sie heimfinden, irgendwo mußte sie zu Hause sein wie jeder andere Mensch. Es gab keine Hilfe, sie mußte zurückkehren in ihr alltägliches Schicksal, das schon tausend Menschen mit Selbstverständlichkeit erlebt hatten. Nur er war der Phantast, er allein träumte von Liebe, Tod und Selbstmord.

Er fragte sie, ob sie müde sei. Sie starrte ihn an, kratzte sich in den Haaren mit kleinen unruhigen Händen, die einem fieberkranken Kinde zu gehören schienen.

Dann lief sie schnell aus dem Hof, sprang mit ihrer schlanken Gestalt über Balken, und in ihrer Hast stieß sie an alles an. War dies das Erwachen? Oder träumte sie noch? Sie mußte geweckt werden, er mußte sie wecken, mußte sie mit Worten, mit Liebkosungen aufrühren, überall lief ja das tausendfach gezahnte Rad des alltäglichen Daseins. Er durfte lügen, durfte ihr alles versprechen, damit sie erwache, vernünftig werde. Ihr Erwachen hieß: sich fügen, sich einordnen in die Wirklichkeit der Welt. – Die Wirklichkeit meinte es jetzt eher gut mit ihm, eher schlecht mit ihr. Aber alles ging vorüber, nichts war unüberwindlich. Man lebte ja in der Welt, in der morgen ein Studentenkommers abgehalten wurde, übermorgen wurde der Barbier von Sevilla gespielt, kein Mensch konnte Poldi zwingen, sich das Leben zu nehmen.

In einigen Tagen kam Andulka zurück, vielleicht wußte sie Rat. Ihre Schwester war vor drei Jahren in die Hoffnung gekommen. Auch sie hatte geweint, aber sie hatte sich schnell getröstet, war als Amme verdingt worden, sie hatte Geld gespart und später einen Ofensetzer geheiratet.

Ja, überall war Wirklichkeit, aber Poldi ging ja blind an allem vorüber, vielleicht war alles Wahnsinn, der Leutnant, das Kind, alles was sie erzählt hatte.

Er sah ihre Augen wetterleuchten, ihre Zähne knirschten und manchmal schlug sie die Hände zusammen, wie ein Kind im Schlaf. Sie schien auf Marschmusik hinzuhorchen, die sonst niemand hörte. Er wurde müde. Seine Augen brannten, schwere Gewichte hingen an seinen Wimpern.

Die Stadt lag fern. Getreidefelder knisterten leise in der Morgendämmerung. Ein ganz sanftes, mildes Licht schwebte einher. Eine Akazie schimmerte mit weißen Blüten in der Dunkelheit ihres Laubes. Poldi blieb stehen. Ihre Augen waren ohnmächtig, geweitet, häßlich, unnatürlich groß, dunkel wie die Rinde eines Baumes. Der Körper bebte, verkrümmt, wie der eines kranken Menschen. Ihre geöffneten Lippen waren stumm, angefüllt mit Dunkel. Poldi wandte sich ab von ihm, hinschleudernd die Brust gegen die Rinde eines Baumes.

Alfred schwieg, sah ihr zu, erstaunt, angeekelt. Als sie aber ihm ihr weißes Gesicht zuwandte, sah er, daß sie geweint hatte, daß es aus ihr geweint hatte. Langsam stieg der Weg bergan. In der Ferne rauschte der kleine Fluß an das Wehr der Tuchfabrik. In dem niedrigen Gehölz gab es Dornen und spitzige Zweige, Wurzelwerk legte sich ihnen boshaft in den Weg.

Aber der Weg war gefährlich, ein Steinbruch mußte in der Nähe sein.

Plötzlich fiel Poldi hin, mit einemmal ganz unbehilflich, dann raffte sie sich auf, erstaunt sah sie sich um, und an ihrer Bluse, ihrem Rock strich sie sorgfältig herunter, als verlasse sie eben ein Haus. Ihre Lippen bewegten sich, murmelten und es schien, als hätte sie schon die ganze Zeit hindurch gesprochen.

Der Steinbruch warf sich steil herab. Bröckliche Granitplatten wälzten sich plump durch den wogenden Nebel der Dämmerung. Brombeerranken, halb verfaultes Laub dunkelten auf lichtem Gestein, duftend schwankten die Dolden der Akazien. Irgendwo glitzerte eine Bierflasche, die ein Arbeiter vergessen hatte.

Lautlos ging unten ein Fluß vorbei, schwarz, glänzend, und nun im Nebel erschien er breit, gewaltig, uferlos.

Immer noch bewegten sich Poldis Lippen.

Wie zum Munde einer Todkranken legte Alfred sein Ohr an ihren Mund. Aber er verstand kein Wort.

Sie blieb stehen; ihr Blick ging durch ihn hindurch, der dunklen Tiefe zu.

Er erschrak. Nun begriff er den Augenblick, den letzten, entscheidenden Augenblick, die lodernde Sekunde, die letzte Gewalt, Mensch, den Menschen zu retten!

»Was tust du, Poldi? Du! Bleib! Ich liebe dich, ich will alles für dich tun!«

Sie schleuderte ihn von sich. Abscheu, Ekel, Entsetzen waren in ihrem Gesicht. Jetzt war sie erwacht. Lange sah sie ihn an, den Zitternden; er wich zurück. Sie sagte ihm etwas, wollte ihm etwas sagen, aber ihre Stimme war leer und ausgedörrt.

Sie hauchte ihm lautlos entgegen, mit Steinen schien ihre Brust angefüllt, wie eine niedrige Stelle in einem Morast.

Vor der Wahnsinnigen wich er zurück. Sie schloß die Augen, sie lächelte spitzbübisch, so daß man ihre weißen kleinen Zähne schimmern sah, dann aber warf sie sich vor, einer Tänzerin gleich, die bis zur Rampe des Theaters rast, warf sich vor, warf sich mit ausgebreiteten Armen über die Steine, in ihrem weißen Kleid durch die weißen Steine der Tiefe zu.

Kichernd rollte die Bierflasche mit.

Und dann, ganz sanft, weithin ausgebreitet, ertrank ihr lichtes Kleid im schwarzen Fluß.


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