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XIII

Um zwei Uhr fünfzehn kam die vierte Kampferspritze. Zu schwach war Milada, sich zu wehren: in dem Elend ihres Lebens fürchtete sie nun jeden Schmerz, sie überwand ihre Wut, ihren gedemütigten Stolz, sie bat, sie bettelte, aufreißend die Augen, die unzerstörbar strahlten.

Alfred legte die Spritze fort.

Drohend rauschte die Oberschwester, Schwester Oribunda, heran, versprach das Versäumnis dem Oberarzt, Dr. Eggenberge, sofort durchs Telephon anzuzeigen.

Hilflos bot Milada ihren abgemergelten Arm. Alfred ließ die Injektion.

»Unter all den Schweinen sind Sie der einzige Mensch!« sagte Milada.

Um drei Uhr wurde Alfred abgelöst.

 

Um einen Menschen war jetzt die Welt bereichert! Ein Mensch erholte sich, schwankte langsam die weiß lackierten Wände entlang, lachte über seine Unbehilflichkeit wie ein Kind, lachte!

Griff mit freudeglänzenden Augen nach Zigaretten, schluckte den süßen Rauch, atmete ihn ins Freie hinaus, in den Sommer, blau oder gold; ein Mensch, nicht mehr ein namenloser Patient, Fall VI der Statistik.

Beim Wechsel des Verbandes, der sich weiß löste von der zart getönten Wunde, überbreitete Alfred sein Gesicht der emporatmenden Kranken: in ihrem Haar, schwer gewellt, lag Äthergeruch, aber ihr Mund war gesundet, zu starkem Lächeln, zu ersehntem Kuß! Ihn nahm ein Mensch in die süße Atmosphäre seiner Nähe. Miladas Wimpern, so lang und schwer, schlugen an seine Wange! Holder Grund zur Freude, Grund zu sanftem Wort für Andulka, zu sanfterer Berührung der narkotisierten Kranken.

Liebe war für ihn: mit Freuden warten auf den Abend, auf das Sirenenkrachen beruhigter Fabriken, auf das Anströmen von tausend Menschen auf dem Weg zu Milada, mit Wonne einatmen den sonderbaren Duft der Asphaltstraßen, wenn der Sprengwagen kühle Nässe über sie streichelte, rieselnd in den glimmernden Abendstaub ... Sich freuen von einem Tag auf den anderen, mit Wonne die Messingknöpfe an dem Treppengeländer ertasten, wenn er morgens in die Klinik ging, abends, wenn er heimkehrte. Freude haben an sich selbst, an seinem Haar, an seinen Augen, an seinem Mund.

Jetzt liebte ihn ein Mensch, jetzt liebte er sich und wurde gut.

Geld war schön zum Kaufen der Geschenke: jetzt begriff er Luxusgeschäfte, Juwelierläden, Auslagen mit schillernden Pelzen, mit Seal und Blaufuchs, mit Seiden, die krachten in der Härte der Farben.

Sommer, grundlose Beglückung der Zeit.

Jünger fühlte er sich jetzt als mit siebzehn Jahren, näher atmete er heran an Menschen, Straßen, Stadt: stumm saß er neben Milada, denn Sprechen, Flüstern, selbst Atmen tat ihr weh; müde wurde er von allzu tiefer Ruhe, aber glücklich müde.

Wonne im Atmen, Wonne im Gang durchschritt er den malvenfarbenen Staub langer Vorstadtstraßen; in der Ferne, über einer Fabrik, standen in der Runde Bogenlampen, wie Sternbilder nächtlich geschart, niederschneidend weißes Licht auf leere Höfe; andere Luft, gesundmachende, wehte um ihn, nie hatte er solche Tageszeiten erlebt. Versunken waren mit Poldi auch die Schlossergasse, der Detektiv und die Hutmacherin, böse Erinnerungen wurden abgetreten, der Irrenhausvormittag, das fürchterlich zuckende Herz, die qualvoll stöhnende Geliebte, alles war ausgebürstet mit dem Staub der Kleider am Abend, endlich, vor der ersehnten Nacht, der herrlichen Heilung.

Er führte Milada in ihr Zimmer, in die lange nicht aufgeräumte Räuberhöhle. Die Betten, noch zerrauft von der unglücklichen, im Delirium tobenden Milada, wälzten sich breit im Staub, ein hoher Spiegel durchblinkte grau das dumpfdunkle Zimmer. Weit öffnete Alfred das Fenster dem Julitag, aufzitternd scheu vor der schweren Glut der ersten Berührung, aber ihr Atem, ihre Wärme hauchte in seinen Nacken, beseligend, wie der Hauch warmer Asphaltstraßen, flimmernd im Abendstaub.

Sie umfing ihn an den Hüften, zog ihn zu sich; zu schwach war Milada zum Sprechen, zu schwach für die fanatische Liebe, für die fanatische Sehnsucht, jetzt, jetzt endlich zu leben, alles zu leben, sich jetzt ganz in Feuer und Flamme zu zerleben, nichts mehr aufzuheben; zu viel hatte sie erlebt, zu viel hatten andere an sie heran gelebt. Auch Milada hungerte nach Güte, nach Vergütung der bösen Zeit; warten, weitere Geduld ertrug sie nicht, sinnlos war jetzt »nachher« ... In den Phosphorlichtnächten des Krankensaales war sie entschlossen, entschlossen war sie jetzt, nieder sank sie an Alfred, an den Knien beugte sie ihn sanft zu sich auf die Erde, weiß wie die Kissen, auf denen sie lag. Hilflos waren sie beide, stumm. Von kaltem Schweiß war bedeckt seine Stirn, wilde Ströme ergossen sich von seinem Nacken unter dem Tasten ihrer Hand. An ihrem Schweigen, an endloser Stille, erstarkte er; zusammenkrampfend seine Gewalt, ließ er sich nieder in sie, in Ungeheures ohne Grund und Boden. Ein fremder Körper streichelte seinen Körper wild heraus, beide tranken ein das erste Glück des Gelittenen, aber dann wurde in ihm groß Trotz, Stärke, Wucht, Nähe, immer mehr, wie ein heißer Stein, gegen ihn geschleudert. Langsam rötete sich ihr Gesicht, sie nahm ihn auf, entfaltend Namenloses ... Schmerzen rissen ihr die Augen auseinander, sie stammelte, raffte sich auf, Böses sammelte sich in ihr, Tücke war unzerstörbar, selbst jetzt: gesinnt war sie, sich Gutes zu tun, nicht ihm! Schmerzen, wieder Schmerzen! Wälzte seine Brust gegen ihre Brust, gegen die kaum vernarbte Wunde! Blind atmete er nie erlebte Wonne aus, sah ihr Weinen nicht, das Zucken ihrer Lippen schien ihm Leidenschaft. Er lächelte, und in seinem Lächeln fühlte sie ihren Schmerz nicht mehr, jetzt spiegelte sie ihren Neid in seiner Lust!

Stumm verlebten sie die Nacht, verloren die Woche, die Zeit. Stille suchten sie auf, den schwarzen Wald, die schwarze Nacht, Kiefernbäume, die Julihitze aushauchten in der Finsternis. Übervölkert war der Wald mit niedrigen Bäumen, an den Rändern des Weges starrten sie dicht, Korridorwände, gut, sich an ihnen fortzutasten. In der Ferne schwankten vorüber schaukelnde Laternen, knirschte träge vorbei ein Bauernwagen, aber Stille wurde wieder, Angst, Sausen der Hitze im Geäst, tiefe Saite, wegzitternd beide aus der Wirklichkeit:

Einzige Menschen in der nächtlichen Hitze; letzter Augenblick vor dem ersten Kuß, stummes Voneinanderweichen, Anstoßen an die schwarzen Wände des Korridors, an dichtgepreßte, harzhauchende Stämme, an rissige Rinde ... Auf harten Boden zog eines den anderen; von Räderspuren war die Erde tief gefurcht, mit spitzen Steinen tückisch gepflastert und dreieckigen Kieferzapfen. Das Sausen der Zweige sauste in beider Atem, süß verschwimmend in der namenlosen Dunkelheit ... Erwachen war die Landstraße, von Häusern zu Häusern führend, freier Himmel, freier Luftzug, Worte, Lachen, Heiter-Sein, Essen im Bauernwirtshaus, Zigarettenrauchen auf der Heimkehrstraße, einander Wiedererkennen.


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