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X

Ausgleich gegen Lessing, Beruhigung, Aufheiterung suchte Alfred bei Kameraden, bei Menschen »ohne krankhafte Erscheinungen«.

Die Gegenwelt mußte bestehen. Die bürgerlichen Menschen, die ordentlich fundierten Existenzen, waren doch weit in der Überzahl; künftige »Steuerkonzeptspraktikanten«, Herren aus der zehnten Rangklasse, kaltblütige Juristen gab es zu Tausenden, viele von ihnen kamen in die Vorlesungen über gerichtliche Medizin.

Zu offen kameradschaftlichem Verkehr waren sie »allezeit mit Wonne bereit«, ihre Nachmittagssitzungen im Kaffeehaus erforderten ohnedies einen Partner beim Tarock und Königsrufer. Sie stellten Bedingungen, sie verbreiteten Ruhe um sich und Sicherheit; sie rollten ruhig: Nebenmenschen in der gleichen sozialen Sphäre. »Kiebitzen ist nicht erlaubt, aber das Spiel beginnen wir mit Ihnen speziell niedrig, direkt eine Volksschule im Tarock, übrigens durch Schaden wird man klug, wird schon schiefgehen«, man wies ihm das Blatt, beschimpfte ihn gutmütig wegen seines »idiotisch naiven Spieles«. Alle waren gesund, alle wirkten ihr geordnetes Leben, trugen sich mit ausgeglichenem Benehmen, lebten gemütlich als gute Kameraden bei Tag und waren einer kleinen »Draherei« bei Nacht nicht abgeneigt. Auch die nächtlichen Straßen wurden honett unter ihren Schritten. Sie gingen auf die Schnepfenjagd, »aber nicht so, wie Sie's meinen, nein, nur quasi zur Hetz', Geduld, werden schon sehen«, sie luden »Dämchen zweiter Güte« auf einen schwarzen Kaffee ein, schleppten sie mit. Die Mädchen trugen plissierte weiße Kleider, die nicht mehr knisterten, sondern, wie einer der Studenten schäkernd bemerkte, »abgetatscht« waren vom ewigen An- und Ausziehen, und unpraktisch: ein »Berufsgewand, so was wie eine praktische Uniform, speziell zum An- und Abknöpfein, gleich und auch schon, das muß man noch erfinden«. – Plötzlich ließen die Herren die Damen abfallen. »Müssen leider verzichten, Pardon! Vielleicht morgen, meine Dämchen, wieder um diese Zeit?« Die »Dämchen« schimpften laut krächzend hinter ihnen her, die Studenten standen still, kräftige Mannesgestalten, korrekte Hüte in der Hand, lauschten: »Das ist endlich ein saftiges Wort, direkt vom Busen der Natur. Aber jetzt weiter, ein Schutzmann taucht auf im Hintergrund.« – Im Kaffeehaus verteilten sie sich schnell an die Billardtische; zu Alfred, vor dem Beginn der Serie: »Na, war's nicht doch lustig? Immer eine kleine Hetz', kostet gar nichts. Aber jetzt an die Arbeit!« Kunstvolle Stöße begannen, für die vorgerückte Zeit war auch noch etwas geplant.

Am nächsten Morgen standen sie stramm zur Mensur, alte Beleidigungen auszutragen, gegen Feinde ausgereckt (Feinde zu haben, schien Alfred beneidenswert), in korridorartigen Kellerlokalen klirrten sie los. Unverwundbar, mit bürgerlicher Stirn gedeckt, umgeben von Freunden, Sekundanten, zuckten sie nicht unter dröhnenden Schlägen, nicht unter herabschmetternden Quarten, ruhig hielten sie nachher die Schädel hin, damit Alfred, der sehr liebenswürdige Herr Paukarzt, ihnen die Nähte setzte, die Schramme verkleisterte; Alkohol verbrüderte sie dann alle zu dunstigen Gesängen; alter Herr, Bundesbruder, Bierjunge und sehr geschätzter Herr Konkneipant, das war anerkanntes, behördlich gestattetes Dasein, von Krankheiten frei.

Alfred war ihnen nicht unsympathisch, war eine nicht üble Akquisition für die Couleur. Ältere Semester boten ihm »Du« an (»endlich Du«, dachte Alfred, watend in den ersten Nebeln der Berauschung), das kameradschaftliche Zusammenleben war herrlich, Geheimnisse gab es nicht, einer zeigte die Bilder der Geliebten, Photos, im Hotel garni bei Blitzlicht gewonnen. »Sehen Sie, ich bin nur für was Besseres, die käufliche Venus vulgivaga stößt mich moralisch ab«; das Bild, ein scheußlicher Akt, ein dunkel gespreizter Körper, wurde zur Ansicht herumgereicht, man sprach: »Wundernetter, kleiner Kerl! Ganz reizende Blondine! Stramme Liebesfee!« Einer schlug vor, das Weibtier in die Couleur mitzubringen: »O Pardon, entschuldige, ebensogut könnte ich sie ja heiraten!« – »Einer muß sie doch schließlich und endlich heiraten.« »Menschenskind, sag mal: Hand aufs Herz, wirst du einen Möbelwagen heiraten?« »Möbelwagen?« – »Silentium! Prost Blume dem lieben Gaste! Setzt an! Stoßt an! Ex! Cantus steigt: Ich bin ein fahrender Geselle!« Gesang schwelte unisono, Verständigung war unmöglich.

Ablenkung, Zerstreuung, Gegenwelt suchte Alfred in Tanzstunden, auf kleinen Bällen, bei gesunder Geselligkeit. Er fand Ansammlungen von Couleurbrüdern, ihren Schwestern und Verwandten. Die Töchter Benedikt Baumöhls, Raimund Aiblhubers fehlten nicht.

Blendend war eine weiße Hand, ein schmal gefesseltes Knochenspiel, eine weiche Schulter, hold vorgebaut aus mädchenhaftem Musselin, ein herrlich wildes, fugenloses Gesicht, wie Landschaft nur schön, nicht »für das gemeine Leben bestimmt«, scheinbar grauem Alter, zerfetzender Krankheit, wühlendem Kummer nicht unterworfen. Alfreds Sehnsucht nach glücklichen Menschen, beneidenswerten, erstarkte gut im rollenden Saal. Tanzschleifen, Seide und Musik, unberührbare Schönheit rissen ihn auf zu Hunger, zu Gedanken der Verführung, zu der Strickleiter der tastenden Liebkosungen. Die erste Berührung, der erste Tanz, Glieder an Gelenke, knisternde Stoffe in dem Anschmiegen Mensch an Mensch, anatmen ihres Atems an seinen Nacken, Druck an ihre mädchenharte Brust. Doch das Ersehnte war angekuppelt an verblödetes Gehirn, an wunschlosen Körper, an ewig schlafende Natur: sinnlos plätscherte sie viel Worte ab, blöd, unfähig menschlicher Sprache.

 

Betäubung, Zerteilung seines vom Grauen zusammengepeitschten Menschen suchte Alfred in der Schlossergasse, Poldis letztem Asyl; vor Alkohol scheute er nicht zurück. Doch Alkohol, bitterer Schnaps, war nur durchsichtige Verzweiflung und regte ihn auf zum Schreien: er erkannte die Narkose, die passive Betrunkenheit. Von lebenslänglicher Narkose hatte Lessing eben gesprochen, hier war Allasch, Kontuszowka, Alkohol fünfundzwanziggrädig, mit Farben und aromatischen Kräutern, das Glas kostete etwa vierzig Heller, die ganze Narkose zwei bis drei Kronen.

Er ging in den Anstandsort, zusammengerafft durch sehr starken Willen zum sicheren Schritt, an Tischen, Kellnern, Damen, der Gastwirtschaft vorbei. In einem Spiegel dort sah er sich selbst, lange still: Ein bartloses, großes Gesicht, abgehagert in springenden Jochbeinen – gute Augen, nicht wahr, doch gute Augen, ohne Bosheit und Laster! – Ein zuckender Mund, entgegenzuckend jeder Leidenschaft! Aber nicht einmal zum Zorn meldete sich Gegenwelt. – Schöne Zähne, ein männliches Lächeln mit dunklen Lippen, aber scharfe Furchen von Nase zum Mund. Jetzt schon alterte er ein, er, der nichts genossen hatte, niemand hatte ihn genossen, nur von vieler Arbeit war seine Stirn geweitet unter schwarz schattenden Haaren: nutzlos war der ganze Mensch, bloß die Hände waren wertvoll noch an ihm, gute, sehr geschickte Werkzeuge beim ärztlichen Dienst, er selbst war nur ein blauer, feiner Anzug mit einem Mediziner im vierten Jahrgang darin, weiß gespiegelt im Spiegel des Pissoirs, menschenleer.

Hunger nach menschlichster Berührung belebte ihn neu. Entschlossen, ohne Ansehen der Person sich einzukrallen an Menschen, fand er sofort ein schwarzhaariges Fräulein mit »hochanständigem Beruf und in intelligenter Tagesbeschäftigung«. Das Fräulein lachte und nahm Geschenke sehr gern, besonders Kinokarten. Sie hatte die Abende der Wochentage frei, nur sonntags war sie gebunden, »an einen armen Teufel, wie man so sagt, meine alte Liebe«. Entschlossen, sich ein Stück Liebe von ihr abzubrechen, kam ihr Alfred nahe, den Ekel unterdrückend, die Augen im Krampf gepreßt, doch sie schnellte zurück, schamlos erklärend, er könnte ihr die falschen Zähne mit seinem Kuß eindrücken: »Reden 's nicht, eh schon wissen! Wer zahlt's nachher?«

Vor anderen, kindhaft Erblühten, bezaubernd in singendem Lachen, gewichtlosem Gang, braun getönter Haut, warnte ihn ein »geheimer Polizist« in Zivil, den er im Wirtshaus »Schlossergasse« kennengelernt hatte.

»Sehen's, das sind Diebinnen. Nichts ist an ihnen. Wir führen's lang schon evident bei der Polizei. So was ist verdorben, meist vom Bruder oder so ... Aber für Sie wäre das nichts. Auf so was sagt man ›Abschaum der Menschheit‹. Die Abschäumlinge nennen wir's unter der Hand bei der Polizei. Alle Tage können Sie so ein grünes Skelettl bei uns sehen im Bureau. Auch Lockenspitzeln werden sie zur Hetz gerufen. Allerhand wissen sie von den Dieben, und wenn was passiert, was denken Sie, ein Zuckerl gibt man so einer und der Bruder oder was er zu ihr ist, sitzt auch schon im Kriminal. Allerdings, so fängt man Maus' mit Speck. Übrigens, ich sag's offen, ich bin ein Geheimer. Aber ich hab' studiert am Gymnasium, jetzt bin ich bei der Behörde, ich bin, wie Sie mich da sehen, nicht der erste Beste, fünf Jahre diene ich im Ressort mit wiederholter Belobigung und Dienstprämie.« Er wußte alles, war angefüllt mit abschreckenden Erzählungen, schien übrigens geneigt, dem Herrn Doktor auf Wunsch auch etwas Besseres zu vermitteln, »eine, die sich die Finger ablecken würde oder so ...« Er wartete auf eine Frage.

Alfred war bereit, selbst zu Poldi zurückzukehren, mit Frage nach Leben oder Tod, zu neuem Beginn des mühsam Verscharrten.

Der Detektiv stieß ihn an: »Vorher eine Kleinigkeit, Herr Doktor, einen ganz bescheidenen Liebesdienst.« Er führte ihn in einen Winkel, entblößte da den rostroten Hals und wies ein kleines Furunkel vor: Alfred in Ekel, Wut, Rache, endlich gegen Menschen! »Das? Nur Operation!«

»Aber, mein lieber Herr, Operation? Wegen so einem Schmarrn? Ist ja nur ein entzundenes Wimmerl, wie man so sagt!«

»Schnitt bis auf den Knochen!«

»Was Sie nicht sagen? Oh, du mein lieber Gott!«

»Alles infiltrieren, ausschneiden bis an die Bänder der Wirbelsäule, ja!«

»Na, so was, na, so was!« Er hinkte zurück in den Saal, entfernte sich schnell.

Alfred war gewillt, in die Schlossergasse nach diesem Tag nicht zurückzukehren. –

Der Heimweg führte ihn durch Aufatmen in menschenleere Nebel, Fabrikstraßen unabsehbar, Glasdächer, parallel gerippt, von grünem Quecksilberlicht zersträhnt in viele dünne Haare, ferne rasselte Kohle wie Wasserfall, rauschend auf meterhohe Haufen, matt glitzernd, Licht wie Schleier auf Schwärze. Die Nachtarbeit hielt die Zelle des Fabrikpförtners offen, die Zentraluhr, gestochen vom inspizierenden Werkmeister, der herankam, eine weißgelbe Laterne quer zwischen den Kohlen.

Branntweinläden zum Narkoseverkauf waren rot erhellt, ein Orchestrion klingelte grell, Nachtarbeiterinnen traten aus der Tür mit öligem Blick, reizvoll mit schräg gesenktem Kopf, schwankend von Tag und Nacht.

Das Wiedererwachen eingescharrter Träume fürchtete Alfred: fürchtete sich vor Mädchen, rosenfarbig, doppelt nackt mit spitzenumstreichelten Gliedern; wie fürchterlich, in der Nacht gewaltsam gegen das Unerreichbare gezerrt zu sein; wonach er sich sehnte, war unerreichbar. Erreichbar war nichts als das Kissen, die Decken, das Wasserglas, die schönen Kleider glatt über dem Stuhl, der liebe Vater in der Nähe, Andulka in der Küche, Alfred umgeben von allem, was ihm zugeteilt war, und überall Atmosphäre, Dunst des Zimmers. Rausch, Entweichen in die Wonne nirgends.

Das Krankenhaus, die Ärzte, die alterfahrene Schwester, Medizin in frischen Füllungen, Instrumente, fünfzehn Schränke voll, blitzend geschliffen, das alles war sachgemäß geordnet für die Kranken. Das Freudenhaus hatte vielleicht auch hinter Schloß und Riegel, aber doch zugänglich, endliche Freude, Ein-Menschlichung des im Spiegel des Pissoirs isolierten Alfred, die Wonnewelt, Spitzen-Rosa-Glieder, viel Licht und leichtes Blut, auf Kissen nonchalant gewiegte Freuden-Menschen, die Gegenwelt in Vorrat.

Ein solches Haus schlich Alfred an. Doch das Klopfen der wachehaltenden Dirne, ihre weißkalkige Hand, klappernd gegen schwarzglanzloses Glas: das war wieder »schauerlicher Mensch«, eine gesperrte Straße, ein weit ausgespienes Haus.

Er rettete sich heim, verzweifelnd redete er sich zu, er hätte seinen Beruf, ihn halte aufrecht seine humane Betätigung, er arbeite wie ein Wilder, scheue vor nichts zurück, Belohnung komme später, eine Liebesehe, ein schönes, kluges, reines Mädchen, eine arme Adelige vielleicht, auch Reisen gab es dann, Teneriffa, Insel im Meer, kirschrot, Felsen grau, Wasser wie Smaragd, endlose Flitterwochen, Flucht aus der Welt.


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