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XIX

Alfred war so erschöpft vom Gefecht, daß er am nächsten Morgen von seinem treuen Diener nicht zu erwecken war. Der Chefarzt des Regimentes bezeichnete ihn als »vollständig ausgepumpt und vorderhand erholungsbedürftig«, deshalb brachte man ihn auf den Hilfsplatz, dann in ein Dorf, wo am Bahnhof lange Krankenzüge warteten, zum größten Teil noch leer, und gierig nach vielem Leben oder Tod. Er wurde hin und her getragen, im zerschossenen Wartesaal von Soldaten mit Tee und Rum getränkt. Da er ganz ausgedörrt war, und plötzlich wie ein Kind Kot unter sich gelassen hatte, und kaum aus der Betäubung erwachte, wurde er vorsichtshalber in den Seuchenzug einrangiert, sah alles mit vollem Bewußtsein, konnte sich nicht rühren, auch nicht rufen, da ungarische Wärter ihn hoben und warfen. Während der ganzen Nacht mußte man die Wagen verschieben, am Morgen sah er noch die gleichen, schwach bereiften Telegraphenstangen wie am Abend vorher.

Wahrscheinlich hatte der Hauptmann alle Stationen vor ihm passiert: den Hilfsplatz in der Scheune, das Feldspital im Dorf, die Menschensammelstelle am Bahnhof. Diesen Menschen hoffte Alfred zu treffen, er wollte sich zu dem winzigen Stück Mensch herunterretten, das ihm blieb.

Viele Personen trug man an ihm vorbei, manche schienen nicht mehr zu leben, andere verloren Blut auf dem Wege, und die Hände hielten sie gekrümmt in Kälte und Schmerz an die Stangen der Bahre. Im Frachtwagen, in hohem, eisernem Raum, wo Luftlöcher an den Wänden bei Dezemberkälte offen waren, hockten sie dann, hatten Decken und Plachen über sich geschlagen, die Manschetten der Mäntel nach außen gestülpt, als Muff für die vereisten Hände, die sie anhauchten mit trostlosem Munde, schweigend. Über den Nachtgeschirren brüteten sie, in ewiger Bedrängnis, Offiziere wie Mannschaftspersonen, man konnte sie nicht unterscheiden, denn beide hatten erdgrauen Mist auf Gesicht und in den Ohren, kotige Schwärze um den nach vorne gespannten Nacken, wo in den Haaren unten wie an Bergesabhang alles in Unrat verdunkelte.

Alfred erholte sich bald. Die Sanitätssoldaten bekümmerten sich wenig, er selbst mußte sich Speisen und Tee auf den Stationen holen, nur machte ihn der weite Weg müde, denn der Seuchenzug durfte in die Stationen nicht ganz einfahren. Trotz des vielen hingeschleuderten Kalkes war am Tage Blut sichtbar und schleimiger Kot zwischen den bösen Geleisen.

Sein Wagen rangierte gleich hinter der Maschine, war gut geheizt und der Schlaf war herrlich. Plötzlich öffnete sich die Tür und ein zerlumpter Soldat, der offenbar befallen war von der schrecklichen Seuche, schnupperte mit spitzer Nase und vorgebleckten Zähnen nach der Wärme und dem besseren Lager bei ihm. Hier aber waren vom guten Regimentsarzt bloß die glücklich Unverseuchten, bloß die schwer Erschöpften eingeteilt. Die Nachbarn schliefen eisern. Der Fremde war durch Bitten und Drohen nicht zu bewegen, zu weichen. Sein unverständliches Sprechen, in dünnem Strom ausgeworfen aus dem fleischlosen Gesicht, war schrecklich, und plötzlich fühlte Alfred fremde Gewalt gegen sich, kalte Hände kratzten schwächlich an seinem Hals. Die offene Tür ließ Rauch herein, Rasseln und endloses Pfeifen. Alfred stieß den Fremden von sich. Der Mann stürzte, verwickelte sich in die halbgelösten Beinkleider, kollerte den Bahndamm herab. Der Zug fuhr langsam, der Mann klammerte sich mit Mühe an die Erde beim Heraufkriechen, doch konnte er dem Zuge noch nachlaufen und plötzlich verschwinden zwischen den schwarzen Stangen der letzten Wagen.

Wie ein Stein erlebte Alfred dies.

Lichter richteten sich auf, das Pfeifen verstummte. Auf der ganzen Reise ging Alfred als freiwilliger Arzt umher, verteilte Opium und Tannin unter den Kranken, die Papierhüllen der Medikamente bauschten sich in seiner Tasche, er warf das Papier in die kleinen Öfchen, die in den Käfigen der Kranken rauchig brannten, er rettete viele. Deckte sie zu über und über mit ihren Tüchern, wenn sie im Schlafe auf dem Topfe sitzend, von Schwäche entnervt, die gute Hülle verloren hatten. Er rettete viele. Doch in Oberungarn, wo Alfred nach vier Tagen anlangte, waren schon sehr viele gestorben, man hatte sie in einige kalte Waggons wie tote Fische in Reihen zusammengetragen am Ende des Zuges, doch viele waren auch genesen, verließen zu Fuß die Waggons, auf der Rampe noch im frischen Schnee die Spur der roten Ruhrseuche siegelnd.


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