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III

Am Morgen des nächsten Tages ging er am Theater vorbei. In allen seinen Gedanken lag das Warten, hinter jedem Augenblick schimmerte, alles überstrahlend, die Hoffnung, die Beglückung der kommenden Nacht.

Zwei Fenster des Theaters waren geöffnet! Die Koloratursängerin probte, vom Kapellmeister begleitet. In reinem Silber sprangen die Triller auf die graue Straße. Rosine jubelte in der ganzen Kindlichkeit ihrer süßen Stimme, die jetzt schöner klang als auf der Bühne. Der Barbier von Sevilla aber schmunzelte vergnügt in den braungoldenen Akkorden der Begleitung. Über allem aber war frühsommerliches Licht, alle Straßen waren von blühenden Bäumen durchduftet, die irgendwo, von der Straße aus unsichtbar, in kleinen Hausgärten standen. Endlich fühlte er sich frei. Dies war der erste Tag seiner Freiheit. Alles lag vor ihm, zog ihn zu sich.

Er stieg die teppichbelegte Treppe des Kaffeehauses empor, auf der noch Zigarrenasche von der gestrigen Nacht lag. Die Kassiererin saß blaß am Büfett und stickte. In ihren kleinen, weißen, allzuweichen Händen lag etwas, das um Mitleid bat. Ein kleiner Kellnerjunge, grünlich-blaß, streckte sich über das kreidebestaubte Tuch des Billards, das er mit einer Bürste zu reinigen hatte. Aber die freie Welt begann schon auf dem Balkon des Kaffeehauses. Wie leuchtete die Sonne! Die Korbsessel, mitten im Licht, knisterten leise. Alles funkelte, und die Tassen und Gläser, die er bekam, schienen zum erstenmal gebraucht.

Grenzenlos weit war die Welt, leicht, flügelbeschwingt alles –, Rossinis Musik, die von Zeit zu Zeit herüberflatterte, die Menschen, die unten vorbeigingen, selbst die Schatten, die in energischem Schwung dastanden, mitten im harten Licht der selbstbewußten Sonne.

Er hatte niemals so das Gefühl einer starken, unerschütterlichen Gesundheit gehabt wie an diesem Tage.

Er überwand alles.

Er sagte sich, schwache Menschen seien dazu da, elend unterzugehen, und die anderen Menschen in ihrem Glück zurückzulassen. Der Tod wartete auf sie und sie auf den Tod. Er begriff den Offizier, der nicht das Mädchen, wohl aber dessen lastendes Geschick mit starker Hand fortgeschoben hatte. War dem Glücklichen nicht alles erlaubt? Aber Poldi fühlte mit der Gefallenen, jetzt immer noch tiefer Fallenden, Fürchterliches ahnte sie voraus. Vielleicht ist Anny heute schon tot, dachte er, und etwas in ihm freute sich wortlos über den glatten, messerscharfen Untergang eines anderen Wesens, an dem er »unschuldig« war und von dem er nichts kannte als den Namen.

Und wenn es Poldi selber wäre? Plötzlich stand er auf, erblassend, an Sorgen angekettet, mit beiden Händen in ein fremdes Schicksal verschlungen, das unbeugsam war. Nun leuchtete nicht mehr Sonne um ihn, sondern es lastete Hitze, nicht frühsommerlich heitere Luft wehte, sondern warme Atmosphäre, der häuslichen verwandt.

Fremde Menschen sah er drohend in den übelriechenden Gängen der Kaserne stehen und über ihn und jenes Mädchen lachen; in einem schlecht verschlossenen Zimmer jammerte eine elende Kreatur, die sich ganz, mit allem, bis in die letzten Fasern ihrer Seele und ihres Körpers hingeben wollte, und doch in ihrer Gänze, mit allem, was sie hatte, weniger war als nichts.

Aber noch fühlte er Poldis Kuß. Ich komme zu dir, immer, wann du willst! Wie deutete dieses Wort beglückend in die Welt! Nur ein unschuldiger Mensch konnte so zu ihm sprechen, wie Poldi gesprochen hatte. Er stellte »Unschuld« zwischen Poldi und Anny. Und nun verschwanden alle anderen Worte: Dieses »Morgen weißt du alles«, dessen heimlich schwere Drohung ihn gestern noch lange in die Nacht bedrückt hatte, dichtete er um. Böses leugnete er. Nun hieß es: »Morgen, du –, in meinen Armen – wirst du wissen, daß ich dich liebe –« Ihr Kuß von gestern war nicht mehr die Verzweiflung einer grauenhaft aufgewühlten Seele, er leugnete: es war einfach Liebe.

Und Poldis Gesicht, ihr herrliches Haar, ihr beschwingter Gang, ihr zuckend berauschender Mund, alles war ebenso schön wie zur ersten Stunde, da er ihr die blühenden Akazienzweige gekauft hatte, zitternd vor Furcht, noch jetzt das Mädchen zu verlieren, für immer gekettet zu sein an etwas, das unerreichbar war.

Schon sah er sie ganz in seine Hand gegeben, umschlossen von dem heißen Zittern seiner Hände – schon träumte er sich hinein in die Beglückung von Küssen, die schwerer und süßer waren als die von gestern, schon verglich er sie, die Ersehnte, mit den gleichgültigen Menschen, den häßlichen, den überflüssigen; und immer wieder mit immer wieder neuer Gewalt berauschte ihn die Erinnerung.

Er wollte sie zum Äußersten bringen; er wollte sie besitzen, wie nie ein Mensch einen anderen besessen hatte. Leeren Herzens, unerschütterlich, unmenschlich war er: wie leere Luft wurde er erhitzt zu flimmernder Glut, wie leere Luft wehte er zu höchster Hitze empor.

Seine Hoffnungen, seine Wünsche seiner Sinne hatten kein Gesicht. Er hatte bis jetzt nie daran geglaubt, daß ein Mensch ihn so lieben könnte. Mit Angst, mit Grauen, mit der ganzen Kraft der Schwachen hatte er alles abgeleugnet, das er für unerreichbar hielt. Jetzt aber wollte er Unbegrenztes, in seinen Träumen standen Küsse, hold wie Musik, endlos wie der Tod.

Er wollte erobern, gewaltig sein, rücksichtslos bis zum Exzeß, nur leben, jubeln, gut sein, schlecht sein, alles war einerlei: nur in seinem Zimmer mußte sie sein, erst mußte sie mit ihren kleinen Mädchenlippen aus seinem Glase trinken, erst mußte sie auf seinen Kissen liegen, tiefatmend, mit geschlossenen Augen –, dann wollte er ihre Seele mit seinen Liebkosungen aufrühren, aus der Jungfrau die Frau herausreißen durch den weißglühenden Augenblick, empor zu sich, zu seinen blinden Wünschen, empor über alles, das er zitternd ahnte. Er wollte sie an sich reißen, ihre Lippen endlich, endlich ganz begraben unter schweren unersättlichen Küssen, so lange, bis sie erstickte, bis sie bleich, wortlos mit weitaufgerissenen Augen zurücksank und plötzlich, mitten aus heißem Schweigen, nun selbst Glut, Glut emporatmete, zurückschleudernd mit ihren berauschten Augen, ihren wundgeküßten Lippen neue Glut in seine Augen, seine Lippen: leeres, wortleeres, blickleeres, seelenloses Phantom, wollustzüngiges!

Und nun liebte er nur noch das Dunkel der vier Wände um sich, stille Einsamkeit, hoch geschlossen rings um sie, bezwingend beide; die Geliebte konnte ihm nicht mehr, nie mehr entrinnen, und auch er war ganz in sie hingegeben, drohend wuchs zwischen ihnen aus der Finsternis eine unbekannte Blume empor; und wie einst träumte er davon, erstickt zu werden, tief in der tiefsten Entzückung, Phantom durchglüht vom Phantom, weltenweit vom Menschen geschieden.


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