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II

Schon lächelte Alfred skeptisch dem nächsten Wiedersehen entgegen.

Schon hatte er sich eine Strickleiter gebaut, aus lauter kleinen, unmerkbar ansteigenden Liebkosungen zusammengeknotet, die nichts voneinander wußten; plötzlich aber sah er Poldi nackt, das Weib in ihr, ganz fremd, eingekleidet in starken Geruch vom Kopf bis zu den Füßen; fast namenlos, aber eng in die Fessel seiner Liebe verflochten, zitternd vor Scham, jäh übergossen von der wilden Glut einer unüberwindlichen Leidenschaft, sah sie eben noch sanft und lächelnd in seine Arme geschmiegt, sich sanft und wortlos ihnen entwinden; nun stand sie mit plötzlich erblaßtem Gesicht vor dem Spiegel des Hotelzimmers, strich über die großen, müden Augen, die noch in ihrer Müdigkeit strahlten und glücklich waren.

Poldi kam nicht. Der Platz blieb leer, leer die Bank, auf der sie ihn sonst zu erwarten pflegte, leer die ganze Stadt.

Er wartete. Längst war sein heißes Verlangen gealtert, nun wollte er sie nur sehen ... nur still neben ihr gehen, sie atmen hören und wissen, sie war da ... und lebte.

Weshalb war er gestern blind neben ihr dahingegangen? Weshalb hatte er sie nicht gewollt? Statt mit Worten nach Worten zu angeln, weshalb nicht heran an sie mit Küssen, mit seinen tausendfach lebendigen Küssen tief an ihre Seele, bis hinein in lächelnd sich widerspiegelndes Glück? Weshalb hatte er sie nicht mit Gewalt an sich gerissen?

Gestern wäre das schlimmste Wort ein böses »Nein« gewesen, der schlimmste Augenblick ein stummer Schlag in sein Gesicht. Nun aber war böse Leere da, es war die Rache, die sie sich eigens ausgedacht hatte, die Rache für Beleidigungen, mit denen vielleicht ein anderer sie beleidigt hatte.

Jetzt war sie ihm für immer fort und entglitten, jetzt höhnte sie ihn durch ihr Fernsein, jetzt haßte er sie. Und doch liebte er sie. Wie ferne Musik lockte edler Schwung der Hüften, zarte Brüste, schweres, dunkel goldenes Haar, das sich um ihre weiße Mädchenstirne ganz sanft faltete. Das alles konnte er vergessen, er wollte achtlos an ihr vorübergehen, während sie nach ihm suchte, aber ihr Mund, der blieb unvergeßlich; er konnte nicht sagen, warum er ihn liebte, er fand alles an ihr unsagbar schön, bis auf ihre Hände, die nicht die Hände eines kleinen Putzmachermädchens waren, sondern die beseelten nackten Hände einer nackten beseelten Statue. Grauenhaft quälte ihn dieser Mensch, der verloren war, wie ein Stein auf einem Schotterhaufen, zerstückt, zerstäubt unter tausend anderen, wie quälte ihn diese vergeudete Liebe in sein ganzes zukünftiges Dasein hinaus.

Noch wartete er. Aber schon war es ein anderer, niederer Mensch, ein tief gedemütigter, der angetan mit dem kalten Schweiß seines Neides, sinnlos wartend saß in der hilflosen Schwäche des Alleinseins. Ein stolzerer, reicherer Mensch war es, der erwartet wurde, der aber alle Plätze der Stadt leer ließ und sich fern von ihm, in seiner verstockten Zufriedenheit sonnte.

Es lauerte der gestrige Tag noch immer daheim, schlafend in der Atmosphäre, versteckt in den Falten der staubigen Vorhänge, verborgen, eingehüllt in die farblos fallenden Tropfen der Wasserleitung. Nie war die Stadt so leer gewesen. Nie war er selbst so hilflos, so lächerlich, im tiefsten Grunde angefressen von eigener Verachtung, er, mit seiner nutzlosen Strickleiter in der Hand, erdrückt von dieser menschenlosen Einöde, die keine Grenzen hatte. Er wußte, er würde alle Tage hier warten. Aber am nächsten Tage blieb er nur eine Stunde an dem verabredeten Ort. Dann rannte er zu dem Kapuzinerplatz, las die Firmenschilder der kleinen Geschäfte, beobachtete die Glastafeln und Spiegelfenster der Putzmacherateliers, in der Hoffnung, ihr Gesicht, ihren Namen, ihre Spur wiederzufinden. Er klammerte sich mit seinen großen Augen an jedes geöffnete Fenster, fahndete nach den Zügen jeder alten Frau, die nach ihrer Tochter ausblickte. Schöne Mädchen streiften an ihm vorüber. Sie lächelten und in ihrem Lächeln lag zarter Spott, ironische Forderung. Nur Zorn und Neid fraßen sich in seine eigenen leeren Augen, in seinen nie geküßten, kalten, ganz erkalteten Mund. Seine Gedanken warf en sich über jedes Mädchen, zogen sie von rückwärts her an den Haaren zu sich heran. Er fühlte: jede andere hätte mich allein geliebt, jede andere hätte sich meiner Umarmung lächelnd entgegengedrängt, hätte mir im Dunkeln ihren heißen Mund, ihre dunklen Augen gegeben, matt widerglänzend aus dem Spiegel... aber jede glitt fort, auch jede andere wurde unerreichbar, unerreichbar wie dieses unendlich ersehnte Glück der letzten zwei Tage. Überwältigend wären diese Tage gewesen. Er war ja frei, nichts störte ihn, nichts anderes besaß ihn als die kalte Geliebte, die herzlose. Er liebte, unendlich hatte er sich selbst überwunden, sein allzu schmerzliches, allzu feiges Herz einem anderen gegeben ... Er konnte nicht weiter warten. Morgen würde ihm alles gleichgültig sein. Nur noch heute, heute trug er Glut tausendfach in sich. Aber Poldi erstickte alles durch ihr Schweigen, sie verachtete ihn so, daß er sich selbst verachten mußte.

Noch ging er nicht heim, er rannte zur Kaserne. Aber er glaubte nicht mehr daran, sie zu treffen. Ihm war, als hätte sie alle Schwüre gebrochen, längst sich ihm hingegeben, längst sich ihm wieder entzogen.

Es war schwül; es begann zu regnen; immer schien es, als ob es in der Ferne gewitterhaft regne, während dort, wo er ging, nur trübe Feuchtigkeit schlaff herabglitt.

Vor der Kaserne marschierte der Schnarrposten hin und her; stampfend mit den Füßen, die in plumpem Schuhwerk staken, wetzte er an dem Halse hin und her, an dem der feuchte Uniformkragen klebte. Ein kleiner, schellenbehängter Hund rannte kläffend vorbei, ein Briefträger, in einen Wettermantel gehüllt, kam mit dem Rade herangefahren, um den Briefkasten zu leeren, der an der Kasernenwand hing.

Plötzlich trat sie ihm licht und schlank aus dem breiten Dunkel des Kasernentores entgegen.

»Guten Tag, Herr Alfred, das ist ein Zufall, daß ich Sie hier treffe. Gerade heute wollte ich Ihnen schreiben. Nun adieu. Warum wollen Sie mich begleiten? Ich dachte, Sie erwarten jemanden hier. Sie sind doch nicht böse auf mich? Bitte, machen Sie doch nicht so böse Augen.«

»Böse? Was fällt dir ein? Ich habe gar keinen Grund dazu.«

»Nein, Sie haben auch wirklich keinen Grund dazu.«

Er ging neben ihr; er sah sie an: ihr Gesicht war verzerrt; allzubreit, allzurot ihr Mund. Die Züge ihres Gesichtes, sonst so zart, waren heute gewaltsam zerrissen und schlecht wieder zusammengestückt. Ich muß einen Köder finden, dachte Alfred. Etwas muß ich ihr hinwerfen, muß sie endlich an mich locken, unzertrennlich, fest und für immer ... wenn ich sie heute nicht so weit bringe, daß ich sie küssen darf, dann werde ich sie nie besitzen. Und dann ...?

»Wie siehst du heute aus, du armes Kind?« sagte er endlich mit weicher Stimme. »Du hast dich geärgert? Wer hat dich gequält? Mir kannst du doch alles sagen. Fühlst du nicht, daß du mir jetzt alles sagen kannst? Sprich doch, antworte mir ... ja oder nein?«

»– – –«

»Weshalb schweigst du? Vielleicht kann ich dir helfen?«

»Du mir?« »Wer sonst? Sag, wer sonst? Ich würde glücklich sein, wenn ... Hast du deinen Posten verloren? Brauchst du Geld? ... Mein armer Liebling, was hast du nur heute?«

»Nur meine Ruhe hätte ich gern.«

Er wandte sich ab, ging eisig, ganz und gar abweisend, neben ihr einher; aber sie tat, sie sprach nichts, das er hätte abweisen können.

Er begann zum zweitenmal, wieder mit ganz gleichgültiger Stimme: »Wo warst du gestern? Ich habe dich erwartet. Du warst doch nicht krank?« Sie zuckte die Achseln, schwieg.

»Warst du bei deiner Freundin? Du hast mir einmal von ihr erzählt.«

»Weiß nicht.«

»Ich will dir ja keine Vorwürfe machen. Du kennst sie länger als mich. Ist sie krank?«

»Krank? Keine Ahnung.«

»Du weißt nicht, was ihr fehlt? Sag mir nur die Zeichen. Fiebert sie hoch? Ich verstehe noch nicht viel von der Medizin, ich komme erst in zwei Monaten in die Klinik. Aber ...«

»Was phantasierst du von Krankheiten? Vielleicht ist sie guter Hoffnung. Das wird's sein! Denkst nicht? Dann gibt's statt einem feschen Kinde zwei fesche Kinder ... Das ist die ganze Geschichte. Bist nun zufrieden?«

»In der Hoffnung? ... Ein junges Mädchen? Und niemand ... keiner von ihren Leuten weiß davon? Nur du allein?«

»Gott sei Dank. Das ist ja noch ein Wunder. Ihre alten Schuhe wird die Mutter auf tausend Schritt erkennen ... aber das ... nein, an so etwas denkt doch eine anständige Mutter nicht, wo käme die Frau Mutter sonst hin?«

»Du bist also die einzige, die davon weiß? Ja, jetzt verstehe ich, weshalb du gestern nicht kamst. Ich hab' dir Unrecht getan ...«

»Oh, mir nicht«, sagte sie.

»Und er? ...« fragte Alfred. »Was sagt er dazu?«

»Ach ... er! Er findet gar nichts daran.«

»Das ist gemein.«

»Geh, Bubi, das ist noch lange nicht gemein. ›Ich hab's ja nicht gewollt, hab' ich's denn gewollt?‹ sagt er zu dem Mädel, und soweit mit Recht. ›Schau, mußt doch nicht so vor Angst scheppern! Es wird ja noch alles gut werden. Du bist ja mein süßes Fratzerl ...‹«

»Gibt es noch Leute, die solche Worte in den Mund nehmen, die ein Mädchen ein süßes Fratzerl nennen?« »Und warum nicht? Wenn er sie gern mag?«

»Ach so, er hat sie noch lieb.«

»Jetzt schau, was hast denn du jetzt gedacht? Du willst doch immer von Liebe hören? Deshalb erzähl ich's ja.«

»Ja, vielleicht meint er es nicht so schlecht«, sagte Alfred. »Ist es ein Offizier? Schließlich egal, nein, glaube mir, es wird noch alles gut, Poldi ... du mußt dir das nicht so zu Herzen nehmen.«

»Mich läßt das ganz kalt. Um mich mußt keine Angst haben.«

»Und was wird aus ihr?« fragte er.

»Was halt immer aus so einem dummen Fratz wird!«

»Wie heißt sie?«

»Wie sie heißt? Such dir's aus: Katzi, Schatzi, Fanny oder Anny.«

»Ja, Anny? Ich erinnere mich, du hast schon einmal ihren Namen genannt. Erzähl doch noch von ihr. Ich sehe es dir an, jetzt kannst du sprechen, jetzt kannst du lachen. Du kennst den Offizier? Und sie hat ihn wohl sehr lieb? Immer noch? Und er mag gar nichts mehr von ihr wissen?«

»Wer sagt denn das? Aber sie kommt etwas zu oft zu ihm und er kann es nicht vertragen, wenn ein Mädchen raunzt oder gar heult. ›Alles, was willst, aber nur kein Theater, nur keine Tränen‹, sagt er. ›Alles?‹ fragt sie in ihrer Herzenseinfalt. ›Na ja, was man eben darunter versteht. Ans Heiraten hast wohl selbst nicht gedacht. Aber magst jetzt etwas zum Essen haben, ja?‹ Und richtig, er stellt was vor sie hin, was ihm der Bursch vorher aus der Menage geholt hat, und jetzt schaut er ihr zu, wie sie ißt ... und sie ißt, sie reißt sich zusammen ... Aber eine Weile nachher ... auf der Treppe ... da schaut's schön aus ... Nein, man muß nicht daran denken.«

»Grauenhaft ... Grauenhaft ...«

»Bist wie ein kleines Kind. Das kommt nur dir so grauenhaft vor.«

»Kann ihr niemand helfen? Kann ihr niemand helfen? Ich? ...«

»Du? Wie kämst du dazu?«

»Dir zuliebe.«

»Ach, Liebe, Liebe und immer wieder Liebe ...«

»Denk nicht daran, mein Liebling«, sagte er. »Nicht mehr an sie! Du kannst ihr ja mit allen Gedanken nicht helfen.«

»Und an was soll ich denken?«

»Sag, liebst du mich gar nicht? Ist es dir ganz gleichgültig, daß ich dich liebe? Fühlst du nichts, wenn ich bei dir bin?«

Sie standen unter den dunklen Bäumen des Parkes. Längst hatte der Regen aufgehört, aber noch waren die Kronen der Eschen und Eichen ganz getränkt vom Regen, und das letzte Licht der abendlichen Sonne floß durch die Blätter, wie lichtes Wasser durch ein enges, schwarzes Netz.

Über niedrige Hecken herüber schimmerte der weiße Sand der Tennisplätze. Die Tennisbuben, die bis jetzt vergeblich auf die Spieler gewartet hatten, spielten nun miteinander mit alten, halbgebrochenen Schlägern, die sie mit Bindfaden zusammengebunden hatten. Ein kleiner, bloßfüßiger Junge hockte zwischen den vier Tennisplätzen, auf einer Art Jagdsitz, der bei den Turnieren für den Preisrichter bestimmt war, und pfiff mit vollkommener Ruhe die letzten Takte eines Gassenhauers.

»Fühlst du das nicht? Poldi! Du! Liebst du mich nicht?«

Plötzlich wurde ihr ganzes Gesicht so müde, ihr Mund ganz klein und blaß, gerunzelt, wie eine Blume, die sich schließt. Aber ihre Augen weiteten sich, und hinter der ungeheuren Pupille schien ein zweites, angstvolles Auge hervorzustarren.

»Poldi, was ist dir? Sag, was hast du?«

Aber schon hatte sie sich wieder aufgerafft, alles an ihr war wie sonst. Nur an den zusammengekrampften Fingern bebten feuchte Grashalme.

»Bitte, Alfred«, sagte sie leise, »du darfst mich heute nicht fragen, kann ich dich morgen sehen? Morgen weißt du schon alles.«

Sie gingen gemeinsam heim. Wie schmiegte sich die sanfte Wärme ihres Armes an ihm! Immer noch schwebte in ihrem Haar etwas vom Duft des regenfeuchten Grases. Noch brannte tief in ihren Augen das Unbekannte einer großen Flamme.

Aber er erschrak nicht, er fürchtete sich nicht vor ihr; er fühlte den Menschen, der ihm von Urbeginn an verwandt war; zum erstenmal sagte seine Seele »du«; er ließ die Strickleiter seiner Verführung aus den Händen gleiten; Güte lag in seinem Schweigen, in seiner ungeschickten Hand, mit der er ihr Haar streichelte. Sie blickte ihn groß an:

»Du bist gut, wenigstens du.«

Dies Wort war Beglückung.

Er gab ihren Arm frei, sah ihr in die plötzlich geweiteten, strahlenden, völlig entkleideten Augen. Hell loderte der Augenblick. Er riß sie an sich; wie warf sich ihr heißer Mund auf ihn!

Schwer dunkelten Bäume in der Nähe. In der Ferne aber hüllte eine Platane ihre breiten Blätter in das grüne Gold einer Laterne.

Eine Amsel schlug, nun schon weit über der bedrückten Welt, wie an einem Tag jenseits aller Tage.

»Du kommst zu mir, Poldi?«

»Heute nicht ... morgen ... einmal ... wann du willst.«

Irgendeine Hand schien ihr ungesehen die Augen zu schließen, ganz eng ihre Lippen zusammenzudrücken. Plötzlich fühlte er, wie sie zitterte, wie irgendein Schmerz sie ergriff. Oder war es nicht Schmerz? Langsam hob sie den verkrampften Mund, griff nach Alfreds willenlosen Händen, ihr weißer Hals atmete überraschend wild. Auch er schloß die Augen, überwältigt, berauscht von einer fremden Luft. Er fühlte nicht Küsse. Er fühlte eine ungeheure Glut auf seinem Mund: erschreckt, schaudernd, weithin überrauscht von Glück fühlte er seinen Mund umschlungen von ihren zuckenden Lippen.

Irgendwo schlug eine Uhr. Poldi löste sich von ihm, leise sank sie in die Knie, dann riß sie sich ganz los, lief mitten durch die Wiesen, winkte ihm, ihr nicht zu folgen. – Aus der Ferne schimmerte ihr verzweifeltes Lächeln, zurückgebäumt, zerrissen von Gefühl.


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