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Die schöne Maria

Nach Regensburg! Nach Regensburg!

Die raue Straße stäubt. Bundschuhe traben, Schleifer wallen, gelbe Kerzen flackern, es wehen die Fähnlein mit dem Bild der Strahlenfrau. In ganzen Kirchgemeinden, in Rotten, die der Zufall lose zusammengebunden, aus grauen Städten kommend und grünen Dörfern, wie Verzauberte ziehen sie dahin, banges, höllenfürchtiges Volk, sehsüchtig nach den goldenen Scheuern des Himmels. Kettlein, Perlen und köstliche Steine, Wein, Wachs und Flachs, Brot und Eier, Salz und Schmalz tragen sie mit in Körben, Bütten und Fässlein, um alles zu legen auf den Tisch der schönen Maria, der wundertätigen Frau von Regensburg. Sie führen feiste Gänse und bunte Hühner mit. Und wer einen schwarzen Hahn unter der Achsel hält, dem wird er lichter bei jedem Schritt, und wenn sie einziehen in den Toren Regensburgs, wird der Vogel weißer schimmern als der Kalk an der Wand. In Glauben und Sehnsucht, in brünstiger Gierde, Wunder und Zeichen zu erfahren, wallfahren sie und murmeln uns singen ihre Litanei.

»Du Zelle Gottes – bitt für uns!
Du elfenbeinerner Turm – bitt für uns!
Du goldenes Haus – bitt für uns!
Du Arche des Bundes – bitt für uns!«

Kriegsknechte, deren Wunden kein Segen geschlossen und keine Salbe, rennen und reiten mit, ihren Harnisch in der Kirche der Heiligen aufzuhängen. Gichtbrüchige werden in Körben dahingeschleppt, sie reisen in Sänften, die von derben Rössern getragen werden. Ein Mann, blind und blass, wird von seinen Kindern geführt. Eine Frau keucht mit ihrem lahmen Mägdlein am Rücken daher. Lazarusbrüder, siech und matt, behaftet mit dem morgenländischen Aussatz, fressende Geschwüre im Gesicht, gelb wie der Tod, taumeln des Weges. Krüppel humpeln an Stelzen, kriechen gleich trägen Tieren auf allen Vieren, Brettlein an Händen und Knien. Ein Besessener wird an einer Kette fortgezerrt, sein tückisches Auge rollt, seine weißen Zähne lechzen, seine verworrenen Worte lodern. Bresthaftes Gesinde, das die Wende seines Elends erhofft. Die zackige Wunde soll sich schließen, das tote Auge sich auftun; Taube sollen hören, Lahme wieder wandern; die böse Raude soll sich von der Haut lösen; ausgetrieben werden soll der hämische Teufel aus dem Leib des Schäumenden. Alle, alle hoffen bei der durchlauchtigsten Frau von Regensburg Heil und Heilung zu finden und das Wunder.

»Du geistliche Rose – bitt für uns!
Du Pforte des Himmels – bitt für uns!
Du froher Morgenstern – bitt für uns!
Du Brunn der Gnade – bitt für uns!«

Sie verschmähen die Pilgrimshäuser, die Bettelherbergen, die gastlichen Klöster; sie meiden die Rast am Wegrand. Nur hin, nur hin! Über Brücken und Stege, über die irrsäligen Bäche, über den breiten, grünlichen Strom! Auf Plätten und Einbäumen setzen die Donaufergen sie über. Gesänge wehen über die Wasser. Sie wandern nimmer nach Andechs, nimmer nach Ettal, vergessen sind die alten Stätten der Gnade Sankt Wolfgang, Ötting und der Bogenberg. Sie alle überglänzt der Ganadenstuhl der schönen Maria zu Regensburg, die Kunde ihrer Wunder klingt von allen Kanzeln und fliegt auf tausend Blättern über Land.

»Du wunderbarliche Mutter – bitt für uns!
Du Mutter des Erschaffers – bitt für uns!
Du Mutter des Erlösers – bitt für uns!
Du Ursache unseres Heiles – bitt für uns!«

Gnade tut not. Irr blickt der Bauer um sich: Misswachs in der Flur, Wurmfraß im Kraut, Stroh und Streu verdorben. Meltau und Hagel schmälern die Ernte. Die Schwärme der Heuschrecken haben wie schwarze Wolken die Sonne verfinstert, stundenlang sind sie vorübergeflogen, unübersehbar; gedonnert und getost haben sie wie ein Strom, der zur Tiefe fällt; Feld und Wiesmahd haben sie abgeätzt. Bei Osterhofen auf freier Heide ist eine Heuschrecke, so groß wie eine Taube, gefangen worden, auf ihren Flügeln ist zu lesen gestanden: »Exercitus dei sumus! Die Heerschar Gottes sind wie!« Von dem Geschmeiß sind die Straßen ungangbar gewesen, die Wasserläufe gefüllt mit ihrem stinkenden Aas. Die Backöfen sind davon voll gewesen, so dass man kein Brot hat bereiten können und Hunger entstanden ist wie einstmals in Ägypten. Alles verdirbt. Es ist, als liege die Erde in des Teufels hohler Hand. Von Morgen her droht der Türke. Und die Käuzlein schreien nachts von den Dächern. Die Pest und andere Seuchte schleicht von Ort zu Ort, frisst den Bauern weg, den Pfarrer und den Totengräber. Die Leute schlingen Theriak und Mithridat; es hilft nichts, sie sterben ohne Verzug. So ein wildes Sterben sei noch nie im Lande gewesen, sagen die alten Leute. O, wer rettet die Welt vor dem Anfauch der Pest? Der Hunger erhebt sich, aus den leeren Brüsten der Mütter saugen die Kinder Blut! Geheimnisvolle Himmelszeichen offenbaren sich: am Pfingsttag ist die Sonne von einem großen, weißen Kreuz durchdrungen gewesen. O, was steht den Menschen bevor?

»Du Trostfrau der Betrübten – bitt für uns!
Du Nothelferin der Christen – bitt für uns!
Du Zertreterin des Drachens – bitt für uns!
Du Fürstin der Engel – bitt für uns!«

Sie wallfahren und nehmen wie ein über die Gestade schwellender Strom die Menschen mit, die an den Wegen sind. Sie singen durch die Wiesen, und der Schnitter verlässt die Mahd und läuft mit, die Sense auf der Schulter; der Ackerer lässt das Gespann und gesellt sich zu ihnen.

Sie litaneien durchs Dorf, und die Melkerin springt auf von ihrem Schemel, mit der vollen Gelte eilt sie ihnen nach. Und alle werden zauberhaft gebunden an den Zug: die Rockenfrau mit der Spindel, der Schmied mit dem Hammer, die Zimmerleute mit den Äxten, der Spielmann mit der Schalmei, der Waldmönch in seiner Rabensiedelei.

Keiner gönnt sich Zeit, Urlaub zu nehmen von den Seinen. Der Bauer selbst lässt alles unversorgt und unbetreut zurück, Gesinde, Feld und Vieh. Kindlein laufen mit einem Brocken Brot in der Hand dahin und vergessen der Mutter. In später Nacht schrickt die Bäuerin aus dem Schlaf und vernimmt draußen auf der Gasse das raunende Gebet, den hallenden Gesang der Waller, und sie tritt eilends aus dem Bett und nimmt sich nicht die Weile, den Kittel anzulegen; schimpflich wallfahret sie im Hemd, aller Scham verlustig. Und wen man mit Zwang halten will in Heim und Hof und nicht folgen lässt der leidenschaftlichen Schar, den fasst ein Siechtum des Herzend und wirft ihn nieder und verzehrt ihn.

Und ob der kühle Herbst das Laub von den Linden holt, ob der Winter mit tiefem Schnee die Wege verweht, bei fallender Sonne, bei Nebel und Nacht, bei steigendem Licht: sie wallen und wandern, das Bildnis der Heiligen heimzusuchen, und verlangen nicht zu essen noch zu trinken, und ihre Füße werden nicht müde. Und sie reden nicht miteinander, und was über ihre Lippen dringt, ist nur Lobpreisung und Gebet.

»Du friedsamer Regenbogen – bitt für uns!
Du auserwählte Myrrhe – bitt für uns!
Du ungebrochener Anger – bitt für uns!
Du güldener Schrein – bitt für uns!«

*

Vom Gebirg hernieder steigt eine bäuerisch, doch wohl gekleidete Magd. Einsam wallfahret sie, sie gesellt sich nicht zu den wimmelnden Gebethaufen. Ein tönernes Krüglein in der Hand, durchwatet sie die Furt der verbreiteten Donau. Ein dunkles Wissen führt sie, und sie fragt niemand um den Weg.

Es ist Nacht, der Mond glüht im Fluss, die Sterne strömen still, und sie geht in ruhiger Gewissheit dahin.

Es ist Morgen, die Lerchen hängen unsichtbar im Endelosen und freuen sich, die ersten Bienen schlüpfen in die Schluchten der Blumen; ein Bauer wäscht seine Kuh mit Tau.

Die junge Magd geht in Regen und Donner, ihr Kleid wird feucht, es trocknet wieder in Sonne und Wind. Sie neigt sich im Vorüberwandel zu einer wilden Frucht im Wald und isst sie, sie schöpft den lauteren Quell in ihren Krug und trinkt.

Die Kinder vor den Hütten fragen sie, wohin sie ziehe. Sie erwidert nicht. Ein hebräischer Mann begegnet ihr, verjagt aus Regensburg, den Spitzhut gekrümmt wie der Viertelmond und Zöttlein daran; er grüßt sie scheu. Sie erwidert nicht. Ein Bettler, behaftet mit dem hinfallenden Leid, vertritt ihr den Steig und spricht sie um des heiligen Valentin willen um ein Almosen an. Sie reicht ihm wortlos ihr gläsernes Ringlein und weiß nicht, was sie tut. Sie scheint stumm zu sein.

Die mageren Bauernrüden kläffen sie an. Eine Natter funkelt im Staub, ohne Schreckruf schreitet das Mädchen darüber hinweg. Ihr Blick ist fern, ihr Geist weilt abseits. Oft wandert sie mit geschlossenen Augen. Doch führt ihr Weg sie ohne Irrsal.

Schon ragen die Stümpfe des Domgetürmes. Mit seinen Ringmauern und trotzigen Wehrbauten, mit düsteren Hausburgen und grauen Kirchen steigt wie ein ungewisses Schattengebilde die Stadt auf, darin die Heilige der Hölle so gewaltigen Abbruch tut.

*

Mit glühenden Blicken treten die Wallfahrer ein. Die schroffen Tore, die steinerne Brücke, die schmalen Gassen hallen. Die Stadt kann die Menge kaum fassen. Auf den Plätzen stehen Bottiche, mit Wasser gefüllt, die dürstenden Rotten zu tränken, die gleich ungeheueren Herden Viehes heran trotten.

Hölzern und in aller Hast erbaut ist das Kirchlein der schönen Maria und zu wenig für das Heer der Waller. Tausende umwogen es, Tausende müssen draußen bleiben und starren in frommer Begier nach der Tür des Hauses, das das wunderwirkende Bildnis der Himmelskaiserin beherbergt. Immer heftiger wird der Zulauf; das begehrliche Getümmel der Neugier, flackernde Andacht, treuherziger Glaube und fiebernder Wahn wirbeln durcheinander auf dem Platz, der von den zertrümmerten Gassen des Judenviertels umschlossen ist.

In geordneten Zügen nahen die Bergknappen einer fernen Stadt, sie zwängen sich in die Kirche und schlingen ein Seil, aus Silber geflochten, um den Altar der schönen Maria, auf dass sie dankbar mit ihrer Zaubermacht ihnen neue Adern weise in dem erschöpften Berg. Sie beugen sich hin, aus der Hand des Mönches das Sakrament des zarten Fronleichnams zu genießen. Eine Kerze, stark wie ein Baum, wird aufgerichtet; sie zu entzünden, klettert er Mesner zwölf Sprossen einer Leiter empor. Frauen mit Kränzen und Krönlein im Haar heften ihre seidenen Schleier an den Altar. Ein Reiter verlangt lärmend zum Tor herein, Ross und Spornen will er opfern. Ein bleiches Weib weiht eine wächserne Brust: die Muttermilch, die in ihr versiegt ist, soll wieder quillen. Die Opferstöcke erklirren. Ein Silberschmied bietet edles Geschirr, ein armer Knecht eine rostige Sichel. Eine Bäuerin reißt sich verzückt das schweißgetränkte, schmutzige Gewand vom Leib und wirft es in die messingenen Schalen, die aufgestellt sind, die frommen Gaben zu empfangen. Einer zieht die staubigen Schuhe von den Füßen und legt sie hin. Alles schenkt, schenkt, schenkt.

Bresthafte seufzen. Ein nackter Mensch rennt mit ausgespannten Armen in Kreuzgestalt um den Altar, er hat es also gelobt. Gellend hebt ein Missgeborener zu bitten an, seine krummen Knochen mögen sich recken und gesunden.

Kerzen ragen wie Säulen, züngeln in dem schwülen Dunst des Raumes, rauchen. Silberne Ampeln glimmen. An der Wand lehnen Krücken und Kreuze als Zeugen wunderbarlicher Geschehnisse. Die schöne Maria, die Freude Gottes, die Gebieterin der Engel, die gnadenreiche Sachwalterin der Menschen, prangt im blauen, goldgestirnten Mantel, die Waller halten ehrfürchtig den Atem zurück und starren sie an, von Tränen geblendet.

*

Draußen vor der Kirche irren die betenden Stimmen, die Lieder der Ankömmlinge, die Bittschreie der Kranken und Bedrängten durcheinander. Sie weisen ihre Gebrechen her, sie trösten sich mit Erzählungen von der Wunderkraft der göttlichen Frau. Einer verkündet laut, er habe viele Jahre in türkischer Gefangenschaft geschmachtet, und als er sich endlich der schönen Maria verlobt habe, sei ihm Kette und Strick vom Leib gefallen und er ledig davongegangen. Ein Mann kämpft sich mit ungebärdigen Ellbogen zur Tür hin; er ruft, eine Hexe habe auf den Wolken herunter in sein Gesicht gegeifert. Sein Gesicht ist ein einziges Geschwür. Ein anderer geht kniend um die Kirche herum, er wird getreten, er winselt, betet, flucht.

Minderbrüder, die barfüßigen Bettelleute Gottes, mischen sich in das Gewühl. Einer von ihnen besteigt eine Kanzel, aus den Grabsteinen des abgebrochenen Judenfriedhofes erbaut, und donnert gegen die eitle Pfauenblüte der Welt und predigt, wie aus ihrem üppigen Gelüst die ewige Verdammnis wuchere. Er predigt von der Zuchtrute des Herrn, der jähen Pest, er berichtet von einem grimmigen Erdbeben, das sich in diesem Jahr ereignet, und dabei Türme und Festen geschwankt und volkreiche Städte eingestürzt und viele Leute erschlagen worden seien; seit der Kreuzigung des Erlösers hätten die Felsen nimmer so gräulich gebidnet wie diesmal. Und grell und heiser stößt er die Stimme von sich und schreit: »Gottes Gewalt sucht die Erde heim. Seine Hörner sind wie die Hörner des Einhorns, damit wird er die Völker über den Haufen stoßen bis ans Ende der Welt!«

Ein Abgrund des Entsetzens nimmt die Hörer auf. Sie fürchten das Jenseits. Ein Gerücht schwebt: die Pestschlange sei über die Donau geschwommen, den offenen Rachen über der Flut erhoben und Gift aus sich würgend. Hütet euch vor den Brunnen! Hütet euch vor dem Atem des Nächsten! Was frommt es, die Pestilenzwurz zu suchen im feuchten Wald?! Der Jüngste Tag ist nahe. Und das Gericht. Die Elchsreiter, die Weltuntergangsgeister brausen über die Gebirge und Ebenen, Krieg, Hunger, Seuche, Tod. Nur eine, nur eine kann retten: sie, aus deren geweihtem Schoß die Erlösung gestiegen, die Hausfrau des erzürnten Gottes, Maria!

Vor dem Kirchlein erhebt sich auf breiter Säule ein steinernes Unserliebfrauenbild; mit Königsstab und Krone fürstlich geziert und langer Lockenflut, schwebt es hoch über den zerknirschen Wirbel der Bittfahrer.

Vor diesem Bild betet die einsame Magd, die vom Gebirg herniedergestiegen ist. Ihr Krüglein hält sie an sich, das Gesicht ist gläubig hingegeben und wie versunken in etwas, das fern ist. »Maria zart! O zarte Frau!« So flüstert sie, und das ist ihr einziges Gebet.

Ein lahmes Mägdlein schiebt sich am Boden wie eine Kröte näher. Krückenleute drängen und heften wächserne Lichter an die Säule. Ein Mann schlägt nieder zur Erde, wälzt sich, knirscht, bricht aus in blutigen Schaum. Jemand ruft, das Haus, darin die Aussätzigen versperrt gewesen, habe sich aufgetan, und die Sieche seien entsprungen.

Die einsame Magd steht regungslos. Sie gewahrt nicht, was um sie herum geschieht. Ihr entrückter Blick ist steil und freundlich, als ob er droben das lichte Ingesinde des Himmels tanzen sehe und mitten unter ihnen Jesus Marienkind.

Ein Besessener entreißt sich plötzlich den Bändigern, die ihn geführt haben. Er klirrt zur Säule hin, umklammert sie und deutet auf die Magd. »Maria!« schreit er. Die Halsadern schwellen ihm, und wieder schreit er: »Maria! Maria!«

Aller Augen lenken sich auf die Magd. Wahrhaftig, ihr Leib ist wie das Spiegelbild des Heiligen droben. Ihre freie, schimmernde Stirn, ihr milder Mund, ihr liebereicher Blick, das lange, flächserne Lockenhaar, die ganze Gestalt, in stolzer Demut aufgerichtet, alles gleicht der Strahlenkönigin droben auf der Säule. Ist sie nicht niedergestiegen in irdischem Leib zu den Irdischen?

Von stürmischem Geist erpackt, deutet der wirre Mann auf die Magd: »Maria!«

Sie hört es nicht. Sie lächelt geheimnisvoll, ein goldenes Leuchten ist in ihrem Auge.

Einer, über den der strafende Gott den Aussatz verhängt hat, schleudert sich vor sie hin. Er hebt das schändliche Haupt: die Augen gelb, wimperlos die Lider und grün vor Eiter, kahl die Brauenbogen, die Haut der Stirn rotgeschürft, das Gesicht um die Nase herausgefault und einem scheußlichen Trichter gleich. mit zerstörter Stimme lechzt er die Magd an: »Jungfrau, hilf mir! Du allein kannst helfen. Ich will nicht sterben.«

Ihr graut nicht. Sie schrickt nicht zurück vor dem Grauenvollen, den Gott gezeichnet wie die Stirne Kains. Sie scheint von ihm nichts zu wissen. Nun hält sie die Augen geschlossen, und die dunkeln Wimpern decken den blauen, strahlenden Glanz. Ein Schweigen ruht auf ihrem Mund und macht sie unnahbar.

Da ruft einer: »Ein Lichtstrahl zuckt aus ihrem Mund!«

Ein Staunen, ein heiliges Grausen bannt die Menschen. Ein Raunen wird, wie wenn der Wind das erschrockene Gebüsch anrührt. Sie ist es, die jungfräulich einst hat Gott geboren und die jetzt in diesem adeligen Weib über die Erde wandert und ihre Gnadenkirche besucht, deren Ruhm bis hinauf in ihre Himmelsstube gedrungen ist. aus dem Blau der Gottesheimat ist sie niedergefahren, die steinigen Wege der Welt hat sie beschritten, und nun steht sie überschön und andächtig Auge in Auge mit ihrem Bild. Ein verhaltenes Leuchten ist um sie. Bald wird es ausblühen zu flammendem Mandelschein, und darin wird sie emporschweben in ihr unvergängliches, seliges Reich, ins uferlose Licht.

In diesem Augenblick atemloser Ahnung lässt Gott es geschehen, dass das Weib eines entsetzlichen Fluchers, das ein stummes Kind geboren hat, zugegen ist an dieser Stätte, und dass sie dieses Kind flehentlich hinhält der fremden Magd und es auf einmal redend wird und sagt: »Mutter!« Da wogt die Menge nieder in die Knie. Ein Rad von der Regenbogens Farbe glüht zur selben Zeit am Himmel auf. Die fremde Magd aber ragt unberührt von dem trunkenen Getümmel, sie hat keinen Teil daran, als weile ihre Seele irgendwo in einem sehr fernen Raum.

Wieder schüttelt der Tolle die Kette, womit er entronnen ist, und heult: »Seht an die Brüste, die unsern Heiland genährt!« Und der, den der Aussatz berührt hat, der eiterflüssige Mensch, klagt auf zu ihr: »Heilige Frau, hilf mir in meiner Betrübsal! Hilf mir um deines Sohnes willen, der dich vor allen Weibern erwählt ha zu seiner Mutter!«

Sie steht ohne Wort und dämmert mit ihren stillen Augen in die Menschen hinein.

Jetzt fühlen viele Wesen und Wirken Gottes in sich und weinen aus frohen Augen, von unirdicher Lust überwältigt. Andere aber befängt Zittern und Verzagtnis, mit schrecklichem Geschrei krampfen sie sich, wälzen sich mit verrenkten Gliedern und verkünden, ihre Schuld sei über alles Maß, und niemals könne sie gesühnt werden. Und wieder andere rufen die fremde Magd an, in den Schlund des Fegfeuers hinab zu greifen und Vater und Mutter und Geschwister herauszureißen aus der grässlichen Qual. Ein Gichtbrüchiger, der lange Jahre kein Glied hat rühren und sich nicht bewegen können, springt aus dem Korb, darin man ihn herbeigeschafft hat. Frauen werden ohnmächtig.

Die Fremde aber presst ihr Krüglein an sich und geht. Die Menge weicht zurück und steht erstarrt zu einer staunenden Gasse. Wie traumgetragen wandelt sie, wie ein schönes Andachtsbild, und es ist, als berühren ihre die Erde nicht.

Das ungestüme Volk drängt hinter ihr her. »Reinig us von Sünden und Seuchen!« ächzen sie. »Sei uns eine Vormauer gegen die Pest! Bitte Gott, dass er die Hölle in Bann halte! Unter deiner Ferse zuckt der unterworfene Satan! Bleib unter uns, dass wir in unserm Elend getröstet seien!« Die Stelzer an der Krücke und das fallende Übel tragen, die Siechen und die Irren, die Sehnsüchtigen und die Gläubigen, Männer und Frauen, das ganze von dem Wunder aufgerüttelte Volk eilt ihr nach.

Sie erwidert nicht. Sie verhüllt ihre Stimme in sich, die Gnade wirkt und das Wort der Heilung. Ihr Leib, wie gleicht er der stummen Schwertscheide, die das Geheimnis und die Kraft des köstlichen Stahles birgt!

»Wohin geht sie?« fürchtet eine Stimme. »Last sie nicht fort! Sie muss bei uns bleiben!«

Der Besessene springt der Fremden in den Weg, ergreift ihre Schulter, greift ihr ins Haar und schreit: »Wir lassen dich nicht!«

Ein schwerer Riss geht durch ihre Gestalt und spiegelt sich in einer staunenden Verzerrung ihres Gesichtes. Sie erwacht wie aus einem Dämmer. Sie sieht den Ring brennender Augen um sich, sieht Menschen knien, die ihr Kleid berühren, den Saum ihres Kittels küssen. Mit einer plumpen, unschönen Gebärde stößt sie die Trunkenen zurück.

»Wer bist du?« fragt sie den Besessenen, und es ist eine raue, bäuerliche Stimme, die da zu reden beginnt, und sie tönt befangen wie aus einem Mund, der lange geschwiegen und der Sprache nimmer gewohnt ist.

»Ich bin der arme Kunz Gotterbarm!« ruft der tolle Mann.

»Und du, Muttergottes, musst bei mir bleiben dein Leben lang!«

Das Volk braust: »Fürbitterin, ja, du musst bei uns bleiben!«

Ihre Augen sind dumm geworden und schüchtern. »Wie komm' ich hierher?« murmelt sie. Sie sieht das reiche Steintor eines Domes vor sich, türmende Gebäude, unbekannte Stirnen und den im Untergang durchglühten Himmel. Hier ist sie fremd.

Sie gewahrt das Krüglein in ihrer Hand. »Um Wasser hat man mich geschickt zum Felsenbrunn«, erinnert sie sich. Aber sie weiß nicht, wie sie hergekommen an diese Stätte. Sie ist auf einmal todmüde.

Greise Hände tappen nach ihr, abgedorrte Finger. Wie Fiebernde schwätzen sie, wie Rasende röcheln sie nach ihr. Sie ängstigt sich vor der berauschten, taumelnden, brausenden, aufrührischen Menge. Niemals hat sie so viele Menschen gesehen. »Was begehrt ihr?« stammelt sie. »Lasst mich heim!«

Sie halt sie, als könne sie auf flüchtenden Flügeln ihnen entgleiten. Sie frohlocken: »Du bist die schöne Maria. gesteh es uns freudig! Der Himmel ist reich genug. Bleib du bei uns!«

»Lasst mich heim!« bettelt sie. »Wasser soll ich bringen aus dem Felsenbrunn. Ich bin nur eines Bauern Mensch.«

»Sie lügt!« schreit einer, schreien alle.

Da ringt sie sich durch das wütende, verzückte Volk. Ihr Leib ist wie ein Keil, ihre Arme sind voll tölpischer Kraft. Sie bricht ein in die rasende Mauer, sie stürzt sich wie in einen schneubenden Wald.

»Mein Krüglein!« schluchzt sie. »Mir geschieht weh.« Die Scherben fallen nieder.

Ein zerlumpter Arm bäumt sich gegen sie, eine geborstene Kette klirrt daran. Wie ein Fels geht es auf sie nieder. Das Licht in ihr verlischt.

Sie liegt auf den kühlen Stufen des Domes. Ein dunkler Engel deckt leise den Flügel über sie.

Gott spielt seltsam mit der Welt.


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