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Über den »Jürg Jenatsch«

Man sollte alle Bücher, die man für gefeit hält gegen die Einflüsse der Zeit und der zernagenden literarischen Modemeinungen, in Fristen von fünf oder zehn Jahren, je nach der Bewahrungskraft, die man seinem Gedächtnis oder seiner Phantasie zutraut, immer wieder überprüfen. Nicht etwa mit der von vornherein fixierten Absicht, eine Korrektur der Schätzung vorzunehmen, die man einmal gewonnen hat, jünger und empfänglicher, wie man war, empfänglicher, wie man sich vorstellt, daß man gewesen sei, solche Absicht wäre in vielen Fällen von urteilsgierigem Dünkel nicht freizusprechen; sondern um der Selbstkontrolle willen, um eine veränderte Richtung der eigenen Entwicklung festzustellen und sich darüber Gewißheit zu verschaffen, ob, was man in jener vergangenen Lebensepoche freudig und dankbar ins Gemüt geschlossen, auch lebendig weiter wirkt oder ob man es nur als Ballast herumträgt. Beständiges Vorwärtstreiben und Neuessuchen dient dem Geist nur halb; er muß bisweilen auch zurückkehren dürfen, und dazu braucht er seine Stationen, erhabene Punkte gleichsam, wo er auf seiner unablässigen Wanderschaft schon geruht und Ausblick genossen hat.

Doch ist dieses Zurückkehren, sofern es mit Besinnlichkeit und Pietät geschieht, nicht immer ganz ungefährlich. Als ich in diesen Tagen den »Jürg Jenatsch« zu erneuter Lektüre aus dem Bibliothekfach holte, verspürte ich ein bängliches Herzklopfen, wie wenn ich einem ehemals geliebten Menschen hätte wieder begegnen sollen und die Furcht vor Enttäuschung mich ein wenig gelähmt hätte. Ich mußte mir auch bei den ersten Seiten herzhaft zureden, bis dann, mit einem Ruck beinahe, der Zauber der Dichterwelt mich umfaßt und meine anmaßenden Sorgen zum Schweigen verwiesen hatte. Ich war geradezu beglückt, daß von Ernüchterung, von Entfärbung des Bildes nicht ein Hauch zu merken war, und je mehr sich die schöne und strenge Folge der Begebnisse dem Ende zuwandte, je stiller und gehorsamer überließ ich mich der Hand des meisterlichen Führers. Es liegt eine wunderbare Genugtuung in dem Bewußtsein, daß ein solches Werk besteht und allen Stürmen der Zeit überlegen zu trotzen vermag. Dieses Bewußtsein habe ich jetzt unumstößlich. Es ist etwas Festes im leeren Raum der Welt, so wie an eine göttliche Macht zu glauben etwas Festes ist, die Schrecken des Untergangs Besiegendes. Es kann einem dann nicht mehr viel passieren.

Dem historischen Roman kommt innere Berechtigung nur zu, wenn er im Geschichtserlebnis des Volkes verwurzelt ist und dieses Erlebnis die Bedeutung eines großen Symbols gewinnt. Ruht er auf solchem Fundament nicht, entbehrt er die mythischen, mythisch erinnerungshaften Bindungen zwischen der Seele seines Schöpfers und dem Schoß der Nation, so ist er, im höchsten Fall, bloß eine sublime Rarität und künstlerische Kostbarkeit. Darauf will ich in einem der nächsten Essays eingehen; übrigens haben es viele Werke der Gattung durch eine Vergänglichkeit bewiesen, die wir uns bei den vorzüglichsten nur noch nicht eingestehen mögen. Das Unnotwendige versinkt.

Man kann den »Jürg Jenatsch« kritisch um- und umdrehen, und man wird an seinem stählernen Gefüge keinen Fehl, keine Lockerheit entdecken. Es ist sehr lehrreich, zu untersuchen, wie die Figur gegen das Ganze und im Ganzen steht, mit welcher künstlerischen Delikatesse die Teile gegeneinander abgewogen sind, wie sich das Malerische zum Plastischen, der Vorgang zur Landschaft, die Fabel zur Idee verhält, und wie aus den Verknüpfungen der Handlung, sowohl im politisch-historischen wie im psychologisch-schicksalhaften Verlauf ein bedeutendes Symbol rein ersteht. Darin ist nichts Errechnetes, nichts von dem Kalkül des Kunstingenieurs, der sich zuletzt doch über die Tragweite seiner Wirkungen täuscht, sozusagen metaphysisch täuscht, indem er sie bis auf den Millimeter scharfsinnig und handwerkskundig bemißt. Da ist auch nicht jenes Fett der Schilderung, das selbst manchen ausgezeichneten Produkten dieser Art ein so strahlend wohlbeleibtes Aussehen gibt, während es doch, ich erinnere nur an Flauberts »Salammbô« im Grunde die Schwächlichkeit seines Knochenbaues verhüllt. Nichts von alledem. Was ich am »Jürg Jenatsch« bewundere, ist die weise Ökonomie der Beziehungen wie der Darstellung, Ökonomie, die in jedem Fall nur das Ergebnis der Intuition oder, ganz zuletzt, der Liebe sein kann. Was dem Roman seine besondere Stellung in unserer Literatur anweist, ist die Mischung von lateinischer Trockenheit und deutschem Gefühl.

Soviel vom Metier. Darüber hinaus scheint mir das Werk eine einzigartige, wohl auch einmalige Gültigkeit im Sinne epischer Weltgestaltung zu besitzen, im Sinne des Spiegels der tiefen, gesetzhaften Züge, die das Leben und Geschick einer nationalen Gemeinschaft, weit über den Rahmen historischer Episodik, festhalten und zum dauernden Zeichen und Zeugnis verdichten. Ein solches Buch ist wie eine Fahne, die einem Volk vorangetragen wird, sehr hoch, himmelsnah, und deren leuchtende Bilder die Augen von den irdischen Kümmerlichkeiten und zeitlichen Bedrängnissen glücklich zwangvoll ins Ewige lenken.


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