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Brief über die Schweiz

an den Herausgeber der schweizerischen Zeitschrift »Wissen und Leben«

Lieber Herr Rychner,

Sie ehren mich sehr, indem Sie mich auffordern, über die schweizerische Idee zu schreiben, die in mir lebendig ist, und wie Sie sehen, zögere ich nicht, Ihrer Anregung zu folgen, denn Ähnliches zu tun lag mir schon längst im Sinn, obschon ich mich hüten werde, es als Ausdruck einer »Idee« zu bezeichnen, was ich unbescheiden finden und mir außerdem zuviel Verantwortung auflasten würde. Ich kann nur von Erfahrungen sprechen, und wenn eine Summe von Bildern und Eindrücken sich in gewissem Sinn zur Form eines Gedankens erhebt, will ich zufrieden sein und mich weiteren Anspruchs enthalten. Ich glaube nicht, daß die Schweizer erwarten werden, von mir Neues über sich selbst zu hören; vielleicht aber kann ich durch Ihre Mittlung meinen eigenen Landsleuten einiges Beherzigenswerte über die Schweiz sagen.

Gehen wir ein wenig historisch vor. Als ich zu Anfang der neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts zum erstenmal nach Zürich kam, war ich in den hohen Erwartungen, die mich erfüllt hatten, bald und gründlich betrogen. Ich war arm; ich war einsam; ich war ehrgeizig; ich war unverdorben und zwanzig Jahre alt. Eine ungünstige Konstellation von Eigenschaften, um Karriere zu machen, werden Sie zugeben. Hingetrieben hatte mich (ich war vom Schwarzwald aus unter mancherlei Entbehrungen zu Fuß gewandert) ein romantisches Freiheitsverlangen, ein jugendlicher Traum von Entkettung und Verbrüderung oder von allgemeiner Gastfreundschaft; mein geistiges Gepäck war so leicht wie mein physisches, und ich war erbötig, alles zu tun, was man von mir forderte, ausgenommen bürgerliche Kompromisse zu schließen. Sie können sich also denken, daß meine Enttäuschung binnen kurzer Frist eine vollkommene war. Die Türen, vor die ich nach und nach gesetzt wurde, sind gar nicht zu zählen, aber um der Billigkeit willen muß ich hinzufügen, daß es dabei nie ohne wohlmeinende Ratschläge abging. Kurz und gut, ich fand, daß die Schweiz kein Land für aufstrebende Jünglinge sei und begab mich in die naheliegende Opposition. Ich machte, nicht sehr originell, das persönliche Erlebnis zu einem allgemeinen und stimmte mit andern Mißvergnügten und Abgewiesenen das allerwärts bekannte Lied vom Pfahldorf im Sumpfe an, das zu einer liberalen Lebens- und Gesetzesform, es weiß selbst nicht wie, gelangt ist und sich im übrigen um die Verschwörungen und Phantastereien der eingewanderten Unruhstifter so wenig kümmert wie um das Kunst- und Geistgetriebe, das den autochthonen Sumpfsinn nur durch seinen Lärm bisweilen aus dem Schlummer rüttelt. Die Adepten hinwiederum blieben eben durch den verdrossenen Argwohn, den man ihnen entgegenbrachte, in ihren Schmoll- und Konspirationswinkeln unbelästigt und schwangen außerhalb der dumpfen Bürgerwelt kometenhaft, wie uns dünkte, ihre kühnen Bahnen.

Ich möchte Sie hier daran erinnern, daß die junge deutsche Generation jener Jahre zwar revolutionär gesinnt war, doch eigentlich nur in literarischer, oder vielleicht noch in pädagogischer und moralischer Beziehung. Politischer Geist war ihnen fremd. Das Element des Sozialen galt nicht als ein politisches, es hatte immer einen ästhetisierenden und philosophischen Anstrich. Genau genommen war es eine Generation von Literaten, und der Literat hat ja von jeher den Politiker verachtet, so wie der Politiker seinerseits im Literaten einen unnützen Schmarotzer sieht. Die ehrlichen Politiker haben daraus nie einen Hehl gemacht. Uns Damaligen war aber Gottfried Keller mehr als Karl Marx, unendlich viel mehr, und Böcklin mehr als Bakunin und Herzen; heute ist es anders geworden; ob zum Vorteil unserer Welt, will ich nicht untersuchen. So erklärt es sich, daß die russischen Flüchtlinge und Studenten, die in der Schweiz ein Asyl gefunden hatten, für mich und meine Gesinnungsgenossen in einer durchaus isolierten Sphäre bestanden, halb belächelt, halb gefürchtet, in jedem Fall unbehaglich gespürt. Unter all den schöngeistigen Bilderstürmern im diesseitigen Lager war nicht einer, der auch nur ahnte, was drüben in aller Stille und stummen Leidenschaft für weittragende Entscheidungen vollzogen wurden, die im Verlauf von drei Jahrzehnten das Gesicht Europas verwandeln sollten. In dieser Blindheit lag Schuld, kein Zweifel; wenn Sie wollen, ist sie es, die heute den Literaten ad absurdum geführt hat. Daß ein Großteil jenes Vorbereitungswerkes auf schweizerischem Boden geschah, hat für mich stets eine eigentümliche Bedeutung gehabt; das Gastland unterhöhlt von seinen Gästen; das intensive Bürgertum als Herd des Brandes und Herberge der Brandstifter; der bürgerlichste Staat Europas Schutzort und Freistätte der unversöhnlichsten Hasser und Bedroher seiner Form.

Doch muß ich nun gestehen, daß dies nah Gesehene und ungern Erlebte im Lauf der Zeit verblaßte, derart, daß es sich sogar aus der Betrachtung verlor und mir die Schweiz allmählich als dasselbe erschien, was sie zwischen 1890 und 1914 so vielen Gedankenlosen war, ein Land für Ferienreisende, gedrängter Komplex für Hotels und Drahtseilbahnen und Lustdampfer, ein von Müßiggängern aller fünf Erdteile zum Überdruß besuchter und gegen Eintrittsgeld zu besichtigender Schauplatz von Gletschern, Seen und Wasserfällen. Das triviale und leere Bild änderte sich vollständig und mit einem Schlag, als ich ein Vierteljahrhundert nach jener Zeit, die ich Ihnen zu Anfang geschildert habe, im Sommer 1919 wieder in Ihr Land kam. Ich hatte nicht Augen genug zu sehen, nicht Ohren genug zu hören, nicht Sinne genug zu empfangen. Alles war neu, besonders und unerwartet. Wir trafen uns ja gerade in jenen Tagen; sie müssen mir angemerkt haben, wie tief mich alles berührte, wie zaghaft-beglückt wir, meine Gefährtin und ich, vor Dingen und Menschen standen, und ich vermute, nicht nur Ihre Augen allein waren es, die erstaunt auf uns ruhten. Natürlich; wir waren Ausgehungerte in jedem Betracht; ausgehungert nach Brot und Luft und Freiheit und abendlicher Beleuchtung und Menschenrecht und Nervenruhe und nach einiger Heiterkeit und Unbeklommenheit außerdem. Man muß es eigens erwähnen, daß wir aus einem scheußlichen Kerker kamen, und einmal erwähnt, mag es gleich wieder fallen gelassen und vergessen werden, denn auf dem Punkt, wo ich mich mit Ihnen unterhalte, ist es nicht weiter von Belang. Es hat mich seitdem immer von neuem in Ihr Land gezogen, in jedem Jahr wieder; ich bin dem Antrieb gefolgt, und was ich damals dunkel empfunden und bewegt angeschaut, hat sich indessen zu klarem Bild verdichtet, von dem manches deutbar und aussprechbar ist.

Zunächst: was ich sah und erlebte, war wirkliche Landschaft, beseelte Landschaft, und nicht der schlecht getünchte Aspekt, den eine übersättigte Commis-voyageur-Phantasie für das übrige Europa verfertigt hatte. Seit diese Landschaft von den schwärmerischen Wanderern und Reisenden des achtzehnten Jahrhunderts sozusagen entdeckt wurde, hat sich, im Fluß von anderthalb Jahrhunderten, ihre Prägung verwischt, ihre Gestalt vergewöhnlicht, ihr Charakter nahezu verloren. Wir lasen in Goethes Briefen über die Schweiz Ausbrüche liebenden Entzückens und andächtiger Schaufreude; wir fühlten nichts mehr dabei, wir sahen nichts mehr davon, keinesfalls das göttlich Erhabene und Fremdartige, das eine hohe Beredsamkeit und unvergleichliche Naturempfindung den Früheren aufgenötigt hatte; das gewaltige Gemälde schien uns vielmehr wie ein etwas antiquierter und überschwenglicher Reiseführer von Anno dazumal; der Magnetismus war nicht mehr wirksam; der Zauber war verloschen, vielleicht weil aller Reiz schon durch zu viele Sinne gegangen und in sterilem Genießen ausgelaugt war. Kam hinzu, daß die zweite Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts auch in der Landschaft ein Ideal von Weite, von Schrankenlosigkeit, von Flächigkeit oder bestimmt verstandener Einfachheit suchte; die Augen der hochgezüchteten Menschen dieser Epoche, der Formen- und Normen-, also auch der Schlagwortschaffer, wollten von keiner konturierten Grenze etwas wissen; es waren lauter Energien im Zustand äußerster Spannung, lauter bis an die Explosionsnähe komprimierte Willen, lauter Leidenschaften des Wetteifers, die sich durch den Rekord als Grad- und Kraftmesser gegenseitig steigerten. Auf einem bislang unbetretenen Felsenturm zu stehen war ein Glücksrausch, gegen den der Anblick der Vielfalt einer Landschaft, ihre sinn- und seelenhafte Harmonie nichts mehr besagte und nichts mehr mitteilte. So waren wir auch hierin zu den Ekstasen gelangt, den letzten Verausgabungen, Verschwender unserer inneren Welt, und an die Stelle friedlicher Entdeckung trat kriegerische Eroberung.

Sie werden mir einwenden, daß es nicht eben der erfreuendste Moment war, in dem ich den Geist und das Gesetz einer Landschaft zu begreifen anfing, diese Monate des Nachlebens einer unerhörten Erschütterung des ganzen Erdteils, der ganzen Kulturwelt, einer ausgebreiteten und durch vier Jahre dauernden Haß- und Mordorgie, die gerade die Schweiz in einen Tummelplatz von Abenteurern, Agenten und Aufwieglern aller Art und aller Nationen, von Plusmachern, Verrätern und verzweifelten Existenzen verwandelt hatte, deren unreiner Atem und verbrecherisches Gelüst noch miasmenhaft in der Atmosphäre lag und alle Dinge wie giftiger Reif bedeckte. Es ist wahr; trotzdem aber, oder eben deshalb vielleicht, durch eine Schärfe des Gegensatzes, die wie Blendlicht wirkte, entschälte sich mir das verborgene Bild in leicht überschaubaren Umrissen; in gewissen katastrophalen Abschnitten des Lebens besitzen wir eine Lebhaftigkeit der Anschauung, die uns befähigt, aus zufälligen Merkmalen und flüchtigsten Beobachtungen gültige und offenbarende Zusammenhänge zu schaffen. So war auch die Landschaft nur ein hinweisendes Symptom; in ihren äußeren Zügen war sie mir ja nicht fremd; auch da, wo ich lebe, ist schöner Wechsel von Fels und Wasser, von Wald und Wiese, von Gipfelung und Senkung. Dort bei Ihnen kam freilich ein anderes hinzu, das ich das Durchgearbeitete und organisch Angegliederte nennen möchte, ein bis in den entlegensten Erdstrich dem Bedürfnis und Charakter der Gesamtheit Verbundenes. Ich kann es nicht mit der Präzision ausdrücken, die mich und Sie befriedigen würde; ich denke etwa an den Züricher See und rundum an seinen Ufern eine einzige Stadt oder eine Kette stadtähnlicher Siedlungen, und dazu Gärten und zweckvolle Anlagen, und auf dem Wasser die vielen Fahrzeuge, und dann emporsteigend der Kranz der Alpen, immer kühner gestaffelt bis zu den Eiskrönungen hinauf, dies Ganze, Menschenwelt und Natur, unauflöslich fest aneinandergewachsen, und diese gleichsam die Folge und Erfüllung von jener: das war das Gefüge, dem erst meine Überraschung, dann mein Nachdenken galt. Ein Schritt weiter, und ich hielt schon bei der Gemeinschaft, der Tradition, der geschichtlichen Bedingtheit und dem brennenden Problem heutiger Wirtschaft und Entwicklung.

Indem ich das gegebene Soziale durch das Medium der Landschaft aufnahm, suchte ich von seinem Formel- und Gebärdenhaften aus in sein Wesen zu dringen. Ich reiste einmal auf der rätischen Bahn ins Engadin; außer mir saßen nur noch zwei Personen im Wagen, ein älterer Herr von vornehmer Haltung und ein einfacher Mann aus dem Volk. Nach einer Weile erhob sich dieser, trat mit höflichem Gruß zu dem ersteren, setzte sich ihm gegenüber, und alsbald waren sie in ein ruhiges Gespräch über Regierungs- und Verwaltungsdinge geraten, das ohne Hochmut und Rückhalt von der einen Seite, ohne die Spur von Servilismus oder Verärgerung von der andern und mit vollkommener Sachkenntnis und Personalkenntnis von beiden im gemütlichsten Schweizerdeutsch geführt wurde. Da war nichts von häßlichen Unterschiebungen, keine Besserwisserei, keine Überheblichkeit, nicht einmal eine merkbare Parteifärbung; der Bürger begegnete auf gleicher Ebene dem Bürger, obwohl der eine ein sogenannter Herr und der andere ein kleiner Handwerksmeister war. Das war mir neu; ich kannte die Tatsache nicht, den wirklichen Bürger nicht, der einem Gemeinwesen dient, indem er es mitbestellt und mit den Hochbeamteten dieselben Verantwortungen trägt. Sie werden mir vielleicht sagen, daß ich ein wenig übertreibe und in meiner damaligen Sehnsucht nach Ordnung und Gerechtigkeit durch zu rosige Gläser sah; mag sein; aber glauben Sie mir, ich habe dabei alle Schwächen des Volkscharakters schon in Rechnung gezogen, und es scheint mir überflüssig, daß ich beim Negativen verweile. Bei vielen Gelegenheiten, ob es nun die oft bespöttelten Schweizer Feste und Umzüge waren, oder im nicht ganz leichten Umgang mit Familien und Einzelnen, war es doch stets jener entschlossene und selbstverständliche Demokratismus, der mich anzog und mich mit einer Art von glühendem Neid erfüllte, das freie Nebeneinander der gesellschaftlichen Schichten, die helfende Wirksamkeit der Parteien und Individuen an einem lebendigen Ganzen, das jedem und allen zu eigen und vitalstes Interesse aller ist. Der wahrhafte Demokratismus ist nicht das, was vom Einzelnen täglich gefordert oder verkündigt werden muß; es ist eine historische Errungenschaft der Gesamtheit, rückdeutend auf gleichartige und einheitliche Lebensgewohnheiten und Lebensbedingungen, Element des Bluts und sogar des Bodens weit mehr als des Willens und der Politik, Ergebnis der Führung von Geschlechtern jedenfalls, die edel werden durch die Patina und den Läuterungsprozeß der Geschichte, und nicht etwa ein Heutiges, nicht was man nach einem verlorenen Krieg plötzlich fabrizieren kann, weil man mit einer andern Disziplin Schiffbruch gelitten hat. Sonst wäre es ja unfaßlich, wie ein so kleines Land drei verschiedensprachige Stämme zu einem einzigen Volk vereinigen kann, ohne daß es sich in beständigem Hader zerreibt. Ist aber dieses Faktum, unleugbar durch die Erscheinung, einmal festgestellt, so wird damit auch das ganze Nationalitätenprinzip hinfällig, insofern man es als die unerläßliche Grundlage der Staatenbildung betrachtet, und zeigt sich dem unbeeinflußten Auge als der verderbliche Irrwahn, der es eben ist, die wandernde Pestilenz, die alte Kulturländer geistig zu Wüsteneien und sittlich genommen die Menschheit in erbarmungswürdige Katalepsie und in verwilderten Fatalismus stößt. Künftige Jahrhunderte werden darüber urteilen wie wir, mit bloßer Wissenschaft und einiger Heuchelei, über die Religionskriege und die Hexenprozesse.

Aber es ist uns beschert, wir müssen es durchkämpfen. Tue jeder das Seine. Fata via inveniunt.

Ich drücke Ihnen die Hand, lieber Freund.


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