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Achim, Bruchstück eines Gesprächs über die Gerechtigkeit

Achim kam gegen Abend ziemlich ermüdet von einem Gang in den Weinbergen nach Hause und traf seinen Freund Sylvester, der schon länger als eine Stunde auf ihn wartete. Sie begrüßten einander, dann gingen sie in die Bibliothek, und während Sylvester auf dem altertümlichen Sofa saß, wanderte Achim, dem Gebot seiner innerlich stets beschäftigten, ja aufgewühlten Natur gehorchend, vor den Augen des Freundes auf und ab.

»Was quält dich?« fragte Sylvester; »du bist noch unruhiger als sonst.«

»Du wirst über meine Antwort lächeln,« erwiderte Achim stehenbleibend; »daß mich etwas quält, ist wahr. Das Wort ist das richtige für meinen Zustand. Seit dem frühen Morgen erwäge ich einen und denselben Gedanken: wie ist es möglich, daß die Menschen ohne Gerechtigkeit leben können?«

»Meinst du die Gerechtigkeit, die einer übt, oder die, deren er teilhaftig wird?« erkundigte sich Sylvester, der es nicht bequem fand, in eine so schwierige Untersuchung verwickelt zu werden. »Niemand auf der Welt will Ungerechtigkeit erfahren, aber Gerechtigkeit zu üben ist eine Tugend, so selten, wie nur irgend etwas auf dieser Erde selten ist. Wer ist überhaupt gerecht?«

»Gerecht ist derjenige, der die Fähigkeit besitzt, zwischen Recht und Unrecht zu unterscheiden, und alle seine Kräfte darauf richtet, dem Recht zum Sieg zu verhelfen.«

»Eine äußerst schwache Definition,« entgegnete Sylvester kopfschüttelnd. »Welches Recht schwebt dir dabei vor? Ein geschriebenes? ein gedrucktes? ein durch Überlieferung befestigtes? das Recht der Gesetze? oder bloß ein im allgemeinen Gefühl wurzelndes Recht?«

»Ohne Zweifel dieses.«

»Also das Unbestimmbarste. Glaubst du denn, daß selbst ein Areopag der weisesten und vorzüglichsten Menschen sich darüber einigen könne, von welcher Art und Beschaffenheit ein solches Gefühl sein müßte, was in ihm zulänglich und maßgebend ist und was nicht? Der Fehler liegt schon in den Begriffen Recht und Unrecht. Sie setzen ein Angenommenes voraus, ein als gültig angenommenes Erstes oder Letztes. Aber was schlimmer ist, sie statuieren einen Richter und berufen sich auf ein Gericht.«

»Nun, was schadet das?« versetzte Achim verwundert; »einen Richter; ein Gericht; gut; aber den höchsten Richter, das höchste Gericht.«

Sylvester zuckte die Achseln. »An einen höchsten Richter zu appellieren, an ein höchstes Gericht, wem ist das verstattet? was soll es im Grunde frommen? wer wollte sich dieses im Ernste vorsetzen? Es ist eine Redefigur und eine Ausflucht. Die Gesetze erzeugen das Recht, so wie die Sitten die Moral hervorbringen. Die Moral hat jedoch mit der Sitte wenig gemein, fast so wenig wie das Recht mit der Gerechtigkeit.«

»Dawider ist wohl kaum zu streiten,« antwortete Achim abgekehrt.

»Spricht man vom Recht, so ist ein Unrecht stillschweigend gegeben,« fuhr Sylvester fort. »Recht kann ohne Unrecht nicht sein. Wenn die Menschen von Ungerechtigkeit reden, so meinen sie erlittenes Unrecht. Unrecht zu erleiden, darüber kommt jedermann hinweg; muß darüber hinwegkommen, sonst wäre es in der Tat unmöglich, zu existieren. Ungerechtigkeit erleiden ist aber etwas ganz anderes.«

»Nur keine Haarspalterei!« rief Achim unwillig; »wo willst du hinaus?«

»Hältst du selbst dich eigentlich für gerecht?« fragte Sylvester.

»Es gibt Augenblicke, wo ich mir diese Eigenschaft zuerkenne.«

»Befugt und mit Wahrheit? Etwa weil ein schöner Schwung dich treibt, in einem Streitfall für den schwächeren Teil leidenschaftlich Partei zu ergreifen? Du bist ein geistig gespannter Mensch und besitzest Phantasie. Infolgedessen widerstreben dir alle Verhältnisse und Kräftespiele, in deren Verlauf ein natürlicher Ausgleich nicht stattfindet. Ich vermute, oder ich weiß vielmehr, daß du die Armut gegen den Reichtum in Schutz nehmen wirst, den Knecht gegen den Herrn und am Ende sogar die Geschöpfe gegen den Schöpfer, was freilich schon auf einen hochgearteten Instinkt deutet. Ist es nicht so?«

»Es ist so. Aber tust du mich damit ab? Wahrscheinlich möchtest du mich nur auf die Probe stellen, wenn du von einem natürlichen Ausgleich sprichst; weißt du doch ebensogut wie ich, daß die Natur, die harte Herrin, Ausgleich nur schafft, indem sie die schwächeren Elemente von den stärkeren vernichten läßt.«

»Für so kurzsichtig werde ich dich nicht halten, daß ich annehme, du wollest die Natur mit der Gerechtigkeit in Beziehung bringen. Aber betreten wir nicht, oder doch vorläufig nicht, dies gefährliche Gebiet. Laß mich eine Frage an dich richten. Bringst du es über dich, in irgendeiner Angelegenheit, bei der du dich ganz und gar im Rechte fühlst, jenen Ton der Überzeugung zu treffen, den manche Leute auch dann zu finden wissen, wenn sie im offenbaren Unrecht sind?«

»Sonderbare Frage, wie sollt ich nicht?«

»Hast du nicht beständig zwei Stimmen in dir, oder sogar vier Stimmen, eine für dich und eine für den Andern, eine gegen dich und eine gegen den Andern?«

»Wär es so, wie könnt ich mich da mit ganzer Seele für eine Sache einsetzen?« antwortete Achim erstaunt.

»Das eben ist leider bei mir der Fall,« sagte Sylvester beinahe traurig. »Seltsamer Widerspruch geschieht. Jede Art von Vergewaltigung und Gewalt in Wort und Tat erregt mich im Übermaß. Das Blut quillt mir zum Herzen, ich möchte die Welt aus den Fugen reißen, mein Gaumen ist voll glühender Rede, und kaum dünkt michs erträglich, ob es das Fernste oder das Nächste gilt, ob ein Volk in Afrika durch tyrannische Eroberung unterdrückt wird oder ob ein Gläubiger mehr von mir verlangt, als ich ihm schuldig bin: gleichviel, eine bohrende Unruhe faßt mich, die bittere Ungeduld der Machtlosigkeit, und doch, siehst du, ist dieser Zustand nicht von Dauer. Es wohnt ein geheimnisvoller Advokat in meiner Brust, der auch diejenigen verteidigt, die die Freiheit knebeln, und diejenigen, die mich um mein Geld betrügen, und diejenigen, die den Schwachen ausbeuten und den Unschuldigen verfolgen. Die Verleumder, die Lügner, die Heuchler, die Wucherer, die Spione, die Diebe, alle haben in meinem Innern einen Anwalt, der ihnen triftige Gründe zubilligt und sie, ist einmal der erste Anprall der Empörung vorüber, mit den Argumenten bewaffnet, mit denen sie als handelnde Personen sich selbst rechtfertigen würden.«

Achim sah den Freund verwundert an. »Das ist merkwürdig,« sagte er; »merkwürdig und bedauernswert. Woher mag es wohl rühren?«

»Es rührt daher, daß ich sie sehe.«

»Was heißt das?«

»Es rührt daher, daß ich sie mir vorstelle.«

»Da spielt dir deine Vorstellungskraft einen bösen Streich,« sagte Achim.

»Vielleicht. Ich habe ein paar Augen zuviel im Kopf, scheint es.«

Achim runzelte die Stirn. »Das ist ein Schwindel, mein Lieber,« entgegnete er. »Verzeih, aber es ist ein amüsanter kleiner Schwindel, den du an dir verübst. Du machst aus dir einen untragischen Hamlet, der durch vielfältige Betrachtung der Dinge den Willen zur Vergeltung verliert. Hierin bist du im friedlichen Bund mit Abertausenden und hast vor keinem Spaziergänger auf dem Schauplatz unserer Nöte etwas voraus. In der Schwäche findest du Gesellen allerorten, und deine Triftigkeiten werden nicht edler, auch wenn dein Gehirn die edelsten Worte für sie ausdenkt. Es ist zuviel Böses in der Welt, zuviel Leiden sehe ich mit meinen beiden Augen, als daß ich mir erlauben dürfte, zwei andere noch zu haben, die das Böse auslöschen und die Leiden beschönigen.«

»Wie aber willst du richten?« rief Sylvester mit einem ergreifenden Ton der Verzweiflung aus; »wie willst du Wert gegen Unwert messen? Heißt das nicht auf dem letzten Punkt des Erkennens und Gefühls den Humus wider den Baum und die Asche wider das Feuer ausspielen? Ach, es sind gar so menschenhafte Dinge, und sobald sie nur um eines Nagels Breite über die Grenze schwellen, gar so dämonenhafte. Wo ist dein Stab? wo ist dein Buch? wo ist deine Wage? Aus welcher Höhe oder Tiefe nimmst du das gültige, das mächtige, das scheidende Wort? Sag es mir, aber sag es so, daß ich dir glauben kann.«

»Ich kann es dir nicht sagen, denn könnt ich es, so wüßt ich, wo Gerechtigkeit ist und wo sie zu finden ist,« erwiderte Achim dumpf.

»Gerechtigkeit!« versetzte Sylvester; »wie anmaßend, sie zu fordern, wie anmaßend schon, sie zu wollen. Sie kann keinem nur äußerlichen Rhythmus eigentümlich sein und keiner Bewegung unserer Leidenschaft und Sehnsucht. Ich ahne, daß es etwas dergleichen gibt, vielleicht als bindende Kraft im kristallenen Element, nimmermehr aber im weiterwirkenden menschlichen Tun. Dies Kristallene aber ist hoch über uns, und Worte fassen nur täppisch hin, und willst dus greifen, wirds Irrtum und Lüge, und willst dus nennen, mußt du still werden wie ein Wasser in der Ebene, in dem sich der Himmel spiegelt …


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