Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Wirkliche und seelische Landschaft Amerikas

1. Allgemeines

Nur mit Widerstreben habe ich mich entschlossen, über meine amerikanische Reise öffentlich zu sprechen. Wär ich Christoph Columbus, so hätte ich natürlich keinen Augenblick gezögert, von meinen Entdeckungen Kunde zu geben, aber Columbus hat in der letzten Zeit gar zu viele Nachfolger gehabt, die das alte Europa mit ihren Eindrücken, Erfahrungen, Erlebnissen und Urteilen überschüttet haben, und wenn man von einer solchen Reise Rechenschaft ablegt, möchte man nicht nur nach dem alten Wort etwas zu erzählen haben, sondern auch ein wenig originell sein, um so mehr, als die Tatsache der Reise selbst nicht mehr die geringste Originalität besitzt, von Abenteuer und Wagnis ist dabei nicht die Rede; es ist einfach eine Gelegenheit wie hundert andere, nur etwas zeitraubender und kostspieliger, sogar der Reiz der Ferne beginnt zu schwinden; ich glaube, nicht einmal die Phantasie eines Knaben fängt mehr Feuer, wenn man ihm von Fahrten durch die Prärie im Pullmancar erzählt. Es ist alles zu alltäglich geworden; ohne ein bißchen zu schwindeln oder zu übertreiben, kann man nicht imponieren, und man möchte doch gern imponieren. Sagt man aber die Wahrheit, so muß man zugeben, daß man dort wie hier sich unter denselben Formen und Formeln der Zivilisation bewegt hat, eingebettet in dieselben, nur etwas raffinierteren Bequemlichkeiten, behütet von derselben, nur etwas hintergründigeren und weitläufigeren Ordnung und Polizei, schwimmend in demselben, nur etwas seichteren und breiteren gesellschaftlichen Strom und verstrickt in dieselben, nur etwas komplizierteren sozialen Probleme. Ich muß darauf verzichten, mit den Analytikern der politischen und ökonomischen Situation des Landes in Wettbewerb zu treten. Dazu fehlt mir die Kompetenz. Die Wortmünzen von wirtschaftlichem Aufschwung, Plutokratismus, Demokratismus samt allen damit verbundenen Vervollkommnungen und Entartungen fangen an, abgegriffen zu werden; auf Gesetz und Regel läßt sich ein so ungeheurer Bezirk für das Auge des Zeitgenossen kaum vereinfachen, wenn man näher zusieht, wird einem klar, daß man von allen allgemeinen Behauptungen über das Land, seine Menschen, seine Einrichtungen jedesmal auch das Gegenteil behaupten kann, und es ist ebenso zutreffend. Für das Wunderbare wie für das Abschreckende, das Außerordentliche wie das Gewöhnliche bietet sich in jedem Fall ein Beispiel, deshalb ist jede Feststellung fragwürdig, jede Hypothese hinfällig, jede Zusammenfassung schief, und nur das sinnliche Erlebnis, die ehrliche und exakte Beobachtung können Gültigkeit beanspruchen, indem sie Bild und Anschauung vermitteln. Dann ergeben sich allerdings vorher nicht geahnte Besonderheiten, eine überraschende Andersartigkeit in nationaler, gesellschaftlicher, landschaftlicher, geistiger und seelischer Hinsicht. Darüber will ich einiges sagen.

2. Wüste, Grand Cañon und Indianer

Was den Europäer zunächst in Erstaunen versetzt, ist die Dimension. Man hat das Gefühl, als müsse man das Auge anders einstellen. Fassungsfeld und Empfangsfähigkeit hängen bestimmt von der Gestalt und dem Charakter der Landschaft ab, der es sich im Lauf der Generationen angepaßt hat. So haben die unendlichen Flächen des amerikanischen Kontinents die sprichwörtliche Sehschärfe des Indianers, Jägers und Farmers erzeugt. Es ist mir drüben aufgefallen, daß die meisten Männer, auch in den Städten, einen geradeaus-, oft fernhingerichteten, sehr festen Blick haben, der viel sicherer ist als bei uns; es ist zunächst eine physische Eigenschaft, die sich aber ohne Zweifel geistig auswirkt. Bei uns gibt es Menschen, die schauen; dort gibt es nur blickende Menschen; es ist ein Unterschied wie der zwischen Denken und Handeln. Wenn man von Kansas City nach Neu-Mexiko durch eine Wüste fährt, die zu durchmessen der Expreßzug fünfzig Stunden braucht, verspürt man angstvolle Verwunderung und begreift die Melancholie jener Auswanderer, die noch um die Mitte des vorigen Jahrhunderts mit ihren Ochsenkarren durch die unermeßlichen Steppen zogen, um ein zugewiesenes Gebiet zu erreichen, das ihnen Heimat werden sollte. Der silbergraue Boden ist von Büscheln des Alfalfagrases und Jukkastrauches bedeckt; sonst wächst nichts, man sieht keinen Baum, auch kein Haus, kein Tier, die gewaltigen Büffelherden sind hier wie in der nördlichen Prärie längst zur Sage geworden; ihre Nachkommen fristen in staatlich reservierten Territorien ein Menageriedasein. Beinahe absurd, daß sich durch die Wüste eine asphaltierte Automobilstraße zieht, alle hundert Kilometer rattert auf ihr ein schäbiger kleiner Fordwagen mit Früchten oder landwirtschaftlichen Werkzeugen bepackt und in eine Wolke rotbraunen Staubes gehüllt. Die Großartigkeit des Bildes liegt in seiner Strenge. Der weißglühende Himmel beständig wolkenlos. Man ist meist auf zweitausend Meter Höhe. Die Durchsichtigkeit und Ruhe der Atmosphäre geben ihr etwas Gläsernes, daher auch der unvergleichliche Zauber der Farbe; als sei es ein bewegliches Panorama, befindet man sich fortwährend im Mittelpunkt ferner, hoher Gebirge, deren Ränder durch die Magie eigentümlicher Strahlenbrechung in allen Regenbogenfarben irisieren. Ich habe nirgends so geheimnisvolles Licht, so sublime Farbenspiele gesehen wie am großen Salzsee; und Salt Lake City hat in dieser Hinsicht, als Hauptstadt der Mormonen auch in mancher anderen, nicht seinesgleichen. Himmel und Wasser sind von kristallener Reinheit, in der Abendbeleuchtung sehen Kirchtürme und Wolkenkratzer wie Tiffanygläser aus, jede Tagesstunde hat ihre vorherrschende Tinte. Die Dämmerung mischt sie alle durcheinander. Man glaubt in einem der versteinerten Wälder Arizonas zu sein, die aus lauter gigantischen Juwelen und Halbedelsteinen zu bestehen scheinen. Das europäische Auge, gewöhnt an eine gewisse Verhaltenheit der Form, ein gewisses Maß, möchte ich sagen, wird durch all das Extreme und Äußerste beunruhigt; so ist auch das Gefühl, das der Grand Cañon hervorruft, erschrockenes Staunen über die ausschweifende Maßlosigkeit dieser Natur. Ein in die Erde versenktes Gebirge. Man denke sich ein Hochplateau, das etwa den Flächenraum von Deutschland und Frankreich hat, darin einen zwanzig bis vierzig Kilometer breiten, nach allen Seiten verzweigten Erdriß in der Länge von Berlin bis Nürnberg und von einer Tiefe bis zu siebzehnhundert Meter. In diesem kolossalen Becken oder Abgrund erheben sich viele Hunderte von Stein- und Felskegeln, pyramidenförmig gestuft, festungsartig umwallt, Moscheen für Giganten, eine Mondlandschaft, eine Traumlandschaft, in deren zerspaltenen und gewundenen Schlünden der lehmbraune Coloradofluß rauscht. Der Reichtum der Gestaltungen kann auch nicht annähernd durch Worte vermittelt werden, dieser Stufenbauten, Arenen, Zirken, Tempel, die auch in der Tat die Namen des Buddha, des Konfuzius, des Zoroaster usw. tragen. Der Gedanke drängt sich von selbst auf, daß die mexikanischen Teocalli, pyramidenähnliche Kultbauten, von hier ihren Stil haben, obschon auch die mächtigsten Menschenwerke daneben wie armselige Nachahmungsversuche von Zwergen anmuten. Man wird schwindlig, alle gewohnten Aspekte sind ins Gegenteil verkehrt, anstatt nach der Höhe zu staunen, schaudert der Blick nach der Tiefe hinunter. Ein ähnliches Gefühl überkommt einen, wenn man auf dem Kopf steht und eine Landschaft mit umgedrehten Augen von unten betrachtet. Es ist eine märchenhafte Anomalie, eine geologische Unbegreiflichkeit. Welchen Ursprungs? fragt man sich: vulkanischen? tektonischen? Ist es ein Entwicklungs-, ein Zersetzungsprozeß, eine jugendliche Revolution oder eine Alterserscheinung des Planeten? Der zerzackte Plateaurand, an manchen Stellen so jäh abgebrochen oder abgeschnitten, daß man an eine katastrophale Einwirkung glauben muß, erweckt die bange Vorstellung von der Gebrechlichkeit der Erdrinde, von der gefährdeten Struktur der Erde überhaupt; man schaut gleichsam ins Innere, in die Werkstatt unheilvoller Kräfte, die allerdings von den schaffenden oder zerstörenden Dämonen schon vor namenlosen Zeiten verlassen worden ist und nun das Bild einer schaurigen Verwüstung bietet, über dem sich Fragmente von fremdartiger Ordnung und Schönheit erheben. Eben jene Tempel. Was auch hier aller Beschreibung spottet, sind die Farben. Kurz vor Sonnenuntergang, während wir am Abgrund entlang wanderten, war alles Gestein in Braunrot und Purpurviolett getaucht, am anderen Mittag war es ein brennendes Gelb und Goldrot. Riesige Strecken waren ganz einheitlich gefärbt, hohe, steile Wände prangten in gesättigtem Mauve, andere in dumpfem Kardinalrot, dazwischen dehnten sich dunkelgrüne Moosrücken wie ungeheure Eidechsenleiber, pfeilerartige Bildungen ähnelten patinierten antiken Bronzen, einzelne Türme schimmerten wie Silberbarren, die machtvollen Schatten, die die schrägstehende Sonne in die rätselhaften Täler wirft, die gänzlich ohne Leben sind und doch durch Farbe und Form ein nicht weniger sinnliches Leben erhalten als das tierische oder pflanzliche, diese Schatten gleichen olivgrünen Vorhängen, über ganze Kessel hingebreitet, oder graublauen und grauroten Schleiern, neben denen ein gelbgrüngrauer Sonnenfleck wie Blendlicht wirkt, während ganz oben die weinroten Wände und Kegel sich in majestätischer Losgelöstheit behaupten. Wenn die Sonne am Rand der Hochebene steht, befindet sich der Grund des Cañons schon in tiefer Nacht. Oben glühen die steinernen Bastionen wie Kohlenessen, rundum über den ganzen Rand der Terrasse zieht sich kaltblau ein schmaler Schneestreifen, und das ganze unterweltliche Theater ist von einem opalisierenden Zwielicht überhaucht und liegt in einer Einsamkeit und Lautlosigkeit da, als sei die Menschheit ausgestorben und man selbst als Betrachter sei die einzige übriggebliebene Kreatur. Man erfährt freilich, daß unten in den tiefen Schlünden in verstreuten Ranchos noch einzelne Indianerfamilien hausen. Für sie trifft das Wort Überbleibsel besser zu. Ich sah bisweilen einen in unglaubwürdig malerischer Kleidung und Haltung am Terrassenrand auf einen Felsen hingekauert, in Samtjackett mit Silbergürtel, Lederhose und hohen Schaftstiefeln, die blauschwarzen Haare mit einem roten Band zusammengebunden; vielleicht dachte er über die verlorene Freiheit seines Volkes nach, über die verlorenen Jagdgründe, die ihm gegen Whisky und Feuerwasser abgelistet, abgewuchert wurden, über den »großen Geist«, der dem Business gewichen ist. Sie machen selber Business, die armseligen Zeugen vergangener Größe; jeden Nachmittag produzieren sie zum Five o'clock tea ihre Nationaltänze, was eine halb lächerliche, halb würdelose Farce ist, unter barbarischem Gebell und Geschrei und dumpfem Trommelgetöse hüpfen sie in den alten Kostümen inmitten eines Kreises vergnügt grinsender Amerikaner herum, der Pueblo, in dem sie hausen, enthält einen Kuriositätenladen. Zwischen den fensterlosen Wigwams, die wie umgestülpte Waschkessel aussehen, rattert ein Auto, auf dessen Chauffeursitz einer der Ihren im Häuptlingsschmuck teilnahmslos den gewinnbringenden rhythmischen Ekstasen seiner Stammesbrüder zuschaut. Das Schauspiel des dressierten Wilden, der seine Erniedrigung zum Gegenstand der Fremdenindustrie macht, ist wohl das erbärmlichste, das sich dem Fremden bietet. Natürlich gibt es im Felsengebirge und in den Territorien noch wirklich wildlebende Stämme; ob sie noch dieselbe Unberührtheit und den kriegerischen Stolz haben, wie wir sie als Knaben in den Indianerbüchern bewunderten, steht dahin; ich möchte es bezweifeln. Die Indianer in Texas sind durch Grundstückspekulationen reich geworden und behängen ihre Weiber mit Juwelen und Perlen, die sie wahllos in Newyork und Chikago zusammenkaufen. Von einem Osagenhäuptling erzählte mir Upton Sinclair eine hübsche Geschichte, die er später, wie ich höre, in seinem Roman »Oil« verwendet hat. Im Gebiet des Häuptlings hatten Bohrungen stattgefunden, und man hatte reiche Petroleumquellen entdeckt. Der Agent einer der großen Gesellschaften kam zu ihm, um ihm das Land abzukaufen, und bot ihm überdies ein Achtel Gewinnanteil von der Ausbeute. Der alte Häuptling schaut ihn mit schlauem Zwinkern an und sagt: »Ein Achtel, das ist mir zu wenig. Ich will ein Sechzehntel haben.« Der Petroleummensch verbirgt seine Verblüffung, faßt sich aber schnell und antwortet: »Ein Sechzehntel, das ist zu viel. Ich will dir ein Zwölftel geben.« So einigten sie sich also auf ein Zwölftel, und das war immer noch so viel, daß sich der Häuptling außer einigen Landhäusern, der vollständigen Ausstattung für einen Gentleman auch noch sieben Automobile anschaffen konnte, und zwar in sieben Farben; für jeden Wochentag eine andere Farbe, Montag rot, Dienstag blau usw.

3. Kalifornien und der Film

Die vielgerühmte, kalifornische Landschaft konnte ich an keiner Stelle im europäischen Sinn als schön empfinden. Man spürt es atmosphärisch und in allen Nerven, daß es ein der Wüste abgerungener Boden ist. Allerdings ist z. B. die Stadt Pasadena ein Gartenparadies, und jeder der zahlreichen Millionäre hat sich in dem großen Paradies noch ein Spezialparadies geschaffen. Nirgends ein Zaun, eine abgrenzende Hecke oder das bei uns unvermeidliche Parkgitter, alles Land scheint allen zu gehören, es gibt keine Sicherheitsmaßnahmen, keine Verbotstafeln, keine verbotenen Wege, dadurch werden gleichsam die Dehors einer Freiheit und Sorglosigkeit gewahrt, die sich freilich nur auf die beispiellose Hypertrophie des Reichtums stützen; vor kleinen Besitzstörungen schützt man sich nicht mehr; die kleinen Verbrechen entbehren jedes Anreizes. Wer wird sich mit einem mageren Ladendiebstahl begnügen, wenn er mit etwas bedeutenderer Anstrengung ein Diamantendiadem oder die Konzession zu einer Petroleumbohrung ergattern kann? Aber ich will ja zunächst von der Schönheit sprechen, d. h. von der bezweifelbaren Schönheit. Verläßt man die Luxusoasen mit ihren Zaubergärten, Renaissancepalästen und weißen maurischen Villen, in denen Filmstars, Petroleummagnaten, Orangenzüchter und Bodenspekulanten fürstlich hausen (die vier charakteristischen Berufsklassen Kaliforniens), so ist das Land auf große Strecken hin seines exotischen Schmucks entkleidet; es ist manchmal, als könne der berückende Flor nur auf einer dünnen, oberen Erdschicht gedeihen, und was man statt dessen gewahrt, sind Industriesiedlungen, entstehende Städte, übervölkerte Städte, ein verwirrendes Netz unendlicher Straßen, jede genau acht Meter breit, die sich entschlossen durch Schutt und Staub zwängen, durch Lager von Baumaterial, durch Kehrichtberge und Dämme von Konservenbüchsen, an Autofriedhöfen, Chickenbratereien, Benzinstationen, Öltanks, Wäldern von Bohrtürmen, Filmateliers und Orangenplantagen vorüber. Der geehrte Leser stutzt wahrscheinlich, weil ich Orangenhaine gefühllos neben Bohrtürmen und Hühnerröstfabriken nenne. Da sei doch, meint er tadelnd, eine poetische Respektspause am Platz; aber so wie die Früchte selbst etwas eigentümlich Künstliches haben und wie sie durch künstliche Bewässerung entstehen, ist es auch mit den Pflanzungen und ihren meilenlangen, schnurgerade gesetzten Sträuchern, den fast geruchlosen Blüten, ja auch mit der unfaßlich wuchernden Produktion, einer Verschwendung, die die Natur nur dann treibt, wenn die Fülle auf Kosten der Auslese geht. Über allem aber liegt wie Erinnerung an etwas Gestriges die Wüste. Das Licht ist Wüstenlicht, die Temperatur ist die der Wüste, heiß, trocken, mit sehr kühlen Abenden und Nächten. Das hat etwas Lockendes und Erregendes; aber es ist auch im höchsten Maß beunruhigend, bisweilen sogar quälend. Ich erinnere mich an eine Nachtstunde auf der Plattform des Aussichtswagens zwischen Los Angeles und San Franzisko. Der Zug raste mit der erschreckenden Vehemenz, mit der man drüben reist, an unzähligen kleinen Buchten entlang; durch die schwarze Nacht leuchtete der weiße Wellenschaum herauf, zur Linken starrten pittoreske Hügelformen, darüber wölbte sich, wölbte sich tatsächlich, d. h. als Kuppel geradezu greifbar, der Himmel. Solchen Sternenhimmel habe ich nie zuvor gesehen. Die Luft war wie Sternenrauch, es schien Sterne zu regnen, die Sterne fielen mir förmlich auf den Kopf, eine unheimlich berückende optische Täuschung. Alles sehr fremd, die Nacht fremd und das Meer fremd. Ja, es ist so: der pazifische Ozean ähnelt keinem unserer Meere. Wir sind im Tal des Sakramento durch die seltsamen Eukalyptuswälder gewandert; befremdend. Man hat Wert darauf gelegt, uns zu den riesenhaften Redwoods, den Bigtrees, zu führen, und wir ließen uns darüber belehren, daß jeder einzelne dieser Baumkolosse genügen würde, ein fünfstöckiges Haus aus ihm zu bauen. Wir sind über die herrliche Bucht von San Franzisko gesegelt und haben bei Freunden gefrühstückt, deren Landhäuser so prächtig lagen, wie die der römischen Nobili am Posilip; in unseren Baedekern wären sie bestimmt mit drei Sternen versehen. Wir sind im Auto an der Küste entlang nach Norden gefahren und waren betroffen durch den Anblick der blauschwarzen Felsenbildungen und der weithingedehnten, orangefarbenen Mohnfelder zwischen ungeheuren, ockergelben Sandflächen. Wir haben die Palmengärten in Santa Monika bewundert und die unvergleichliche Blumenkultur auf dem königlichen Besitz von Mr. Huntington. Schön? Ich weiß nicht. Wenn man will: großartig, erstaunlich, aufwühlend, geheimnisvoll, alles das; aber fremd, ganz und gar fremd, und manchmal sonderbar leer. Man will es sehen und kennenlernen; man gibt zu, daß man entzückt ist, berauscht ist, oder wie sie drüben sagen: amazed; aber dann erinnert man sich als Europäer, unverbesserlicher Europäer, der man ist, an einen thüringischen Wald, an einen steirischen See, an ein schwäbisches Dorf, und der Zauber ist auf einmal verweht.

Wie das Überdimensionierte der Landschaft zurückwirkt auf die Menschen und, seelisch umgewertet, zu etwas Formlosem, unter Umständen sogar Chaotischem wird, als ob das soziale Gebilde wie auch die staatlichen und städtischen noch zu jung seien, sich dem Rahmen der Natur noch nicht ganz hätten anschmiegen und einordnen können, das nachzuweisen halte ich für möglich; aber ich möchte mich nicht in volkspsychologische Untersuchungen verlieren. Die Jugend seiner Nation, die Neuheit und das stürmische Tempo der Entwicklung beschäftigt den Amerikaner dauernd. Er versichert dem Fremden fast in jedem Gespräch und will es von ihm bestätigt haben, daß sich sein Volk noch im Kindesalter befinde; wir sind ja noch so schrecklich jung, hört man bejahrte Matronen mit gerührtem Stolz ausrufen; und sie wollen damit andeuten, daß sie es trotzdem, sie und ihre Männer, Brüder, Väter, Söhne, in Leben und Kunst, in Politik und Geschäft, in Erfindung und Fortschritt ganz herrlich weit gebracht hätten. Was wir Europäer unter Geschichte und Tradition verstehen, ist ihnen nicht ganz klar. Dinge von gestern sind bereits ehrwürdig, Dinge von vorgestern sakral. Eines Tages packte mich ein würdiger Herr vertraulich am Arm und raunte mir zu, er wolle mir ein besonders altes Gebäude zeigen, ein interessantes altes Gebäude. »Na, wie alt ist es denn?« fragte ich neugierig. Und er, mit hochgezogenen Brauen: »Oh, mindestens sechzig Jahre.« Sie vergessen über der Heftigkeit des Entfaltungsprozesses sein Unorganisches, wenn sie eine Maschine bauen, die die Arbeit von hundert Menschen verrichtet, glauben sie in allem Ernst, sie hätten damit das Glück von hundert Menschen begründet. Die Illusionsfähigkeit ist in diesem Bezug ohne Grenzen und von entwaffnender Naivität. Bei meiner Abreise bedrängten mich drei Reporter aufs peinlichste. Ich war sehr müde und versteckte mich vor ihnen in meiner Kabine. Sie bestachen den Steward, und als es ihnen endlich gelungen war, meiner habhaft zu werden, fragten sie mich, blaß vor Erwartung, ob ich nach allem, was ich gesehen und gehört, der Meinung wäre, daß Amerika ein glückliches Land sei. Sie ihrerseits waren fest davon überzeugt, und meine schüchternen Zweifel begegneten bei ihnen einem so schmerzlichen Erstaunen, daß ich ihnen eilig beteuerte, sie seien auf dem direkten Weg zur irdischen Seligkeit. Fährt man durch Middlewest, so sieht man dann und wann neben dem Bahngeleise eine imposante Straße mit Trottoirs und Bogenlampen; sonst nichts, kein Haus, höchstens den Rohbau eines Regierungsgebäudes und verstreut in der Steppe ein paar jämmerliche Baracken mit Wellblechdächern. Was ist das? Es ist eine Mainstreet. Hauptstraße. Embryo einer Stadt. Die Stadt existiert noch nicht; aber die Mainstreet gebärdet sich, wie wenn sie schon ein zweites Newyork um sich fühlte. Die Mainstreet an sich, Mainstreet ohne Stoff, ist ein Wahrzeichen. Der sichtbare Wechsel auf die Zukunft. Und diese Städte, die noch nicht da sind oder nicht anders da sind als der Buchdeckel, wenn das Buch noch nicht gedruckt ist, führen seltsame Namen; sie können möglicherweise Schiller heißen oder Longfellow oder Bismarck oder Korinth; eine im Industriegebiet, freilich eine längst fertige schon, heißt Syrakus, aber sie ähnelt unserem Syrakus ungefähr so wie ein Stück Steinkohle einer Rose, also gar nicht. Darauf kommt es ja auch keineswegs an. Es ist die Firma, worauf es ankommt, das Advertising, und das Advertising erregt den Appetit, die Kauflust und die Illusion. Nicht zu leugnen, die Embryos wachsen häufig zu Giganten heran. So ist Los Angeles in wenigen Jahren aus einer Provinzstadt zu einem westlichen Chikago geworden. Die Zeitungen führen dann genau Buch über die Bevölkerungszunahme; sie verkünden etwa: Heute um zwölf Uhr mittags hat unsere unvergleichliche Metropole die Einwohnerzahl von 876 925 erreicht. Abgesehen von dem enthusiastischen Lokalpatriotismus gibt sich darin dieselbe Ehrfurcht vor der Ziffer und dieselbe naive Präzision zu erkennen, mit der man in Gesellschaft auf einen Herrn aufmerksam gemacht wird, mit der ernsthaften Feststellung: der Mann ist 6¾ Millionen Dollar wert.

Den phantastischesten Wachstumsprozeß und die stärkste Prägung von dem, was ich Überdimensionierung nannte, zeigt die Filmstadt Hollywood. Manche sagen, es sei eine Hölle; andere wieder sagen, es sei … keine Hölle, es sei höchstens ein Tollhaus. Ich untersuche das nicht. Ein Flächenraum, auf dem wahrscheinlich ganz London Platz fände, ist bestanden mit Gebäuden, von denen man nicht immer sicher ist, ob sie wirklich sind oder nur Pappendeckelattrappen. Wir waren nicht wenig entsetzt, als wir gelegentlich eines Besuches eine halbe Stunde mit dem Auto über den Boulevard, also die obligate Mainstreet, fahren mußten, um schließlich bei Hausnummer 8900 zu landen. Wenn man am Abend von einem der Hügel aus, die beinahe florentinische Formen haben, auf die Stadt herunterblickt, falls man einen solchen geistlosen Häuserhaufen mit ein paar verstreuten Bühnenschlössern für die Kinogewaltigen Stadt heißen kann, gleitet das Auge über einen feenhaften Lichterteppich, der wie ein mit Diamanten besticktes Tuch bis an den meilenfernen Ozean reicht, und die häßliche und beklemmende Unwirklichkeit verwandelt sich in eine traumhafte und grandiose. Unwirklich sind auch die Menschen, ihre Verrichtungen, ihr Ehrgeiz, ihre Gespräche, ihr Verhältnis zueinander und zu sich selbst. Es ist eine Welt, gewissermaßen auf der äußersten Grenze des Möglichen, auf der Kippe zwischen Fieber und Nüchternheit, zwischen Rausch und Dollarjagd. Vom Lächerlichen ist nur ein Schritt – nicht gerade zum Erhabenen, aber doch zum Traurigen, zum Tristen, zum Bedenklichen und manchmal zum Verzweifelten. Armeen von Gescheiterten suchen an diesem abenteuerlichen Ort ihre Zuflucht und hängen ihre Hoffnungen an ihn, abgewirtschaftete Aristokraten und zum Erfolg um jeden Preis und auf jede Gefahr entschlossene Literaten, die ganze soziale Stufenfolge vom ausgewanderten Erzherzog, den der schlaue Filmproducer als snobistische Attraktion anstellt, bis zum durchgegangenen Sproß aus einer kleinen Bürgerfamilie, der von Ruhm und Tausenddollargagen phantasiert. Und Frauen, Mädchen, zahllos. Ich teile nichts Neues mit, wenn ich sage, daß der Zug nach dem Filmdorado geradezu eine Wahnidee bei vielen unserer jungen Mädchen geworden ist, die sich in der Heimat nutzlos und unbefriedigt fühlen und mit behexten Sinnen auf das kalifornische Schlaraffenland hinüberstieren. Es gibt kaum noch ein romantisch besaitetes Haustöchterchen, das nicht fest überzeugt ist, wenn sie dort erscheint, würden ihr sämtliche Filmregisseure zu Füßen stürzen, um sie als eine zweite Pola Negri oder Gloria Swansson zu begrüßen und ihr begeistert einen Scheck auf hunderttausend Dollar auszuhändigen. In Wahrheit sieht die Sache anders aus. Von achttausend jungen Mädchen, die der Betörung nicht widerstehen konnten, sind etwa siebenhundert vorübergehend beschäftigt, d. h. man zahlt ihnen für Statistendienste einen jämmerlichen Statistenlohn, die übrigen lungern arbeitslos herum, sitzen in den Vorzimmern der Studios, um zu warten, tagelang, wochenlang, monatelang zu warten, und nähren sich von Orangen und Kaffee. Es ist ein schlecht verhülltes, freilich von ewiger Sonne beglänztes Elend. Der Aufstieg einer einzigen unter achttausend ist natürlich das große Los in einer aufregenden Lotterie. Er kostet, ebenso natürlich, das Leben und die Zukunft von siebentausendneunhundertneunundneunzig anderen. Er knüpft sich vor allem an einen bestimmten Typ oder vielmehr an zwei diametral entgegengesetzte Typen, nämlich den Engel der Unschuld und den Dämon des Bösen. Der Unschuldsengel ist und hat zu sein: süß, blond, siebzehnjährig, vollständig unerfahren, absolut rührend und ohne eine Spur von Knochen im Leib oder Gedanken im Hirn. Der Dämon des Bösen führt den offiziellen Titel Vamp, zu deutsch Vampyr, Blutsaugerin, Männerverderberin, Dollarverschlingerin, ein mit Zobelpelz und Perlen behängtes überirdisch-schönes Scheusal. Während der Unschuldsengel entführt, bedroht, beinahe vergewaltigt, beinahe erdrosselt, ins Wasser gestürzt wird, um beinahe zu ertrinken, findet der Vamp nach einer strahlenden Laufbahn den verdienten Sündenlohn und ein grausiges Ende. Beinahe. Darin liegt alles. Es ist sehr wichtig, daß der Unschuldsengel seinen Verfolgern nur beinahe erliegt. Es ist von größter Tragweite für das Geschäft, daß der sogenannte Sexappeal nur in einem Kitzel bestehen darf, daß der Schurke entlarvt, der Übeltäter bestraft, der Verführer im letzten Augenblick an seinem verbrecherischen Vorhaben gehindert wird, wozu sich bei den Rettern eine herzerquickende Menge Edelmut, Todesverachtung und selbstloser Leidenschaft zu entfalten hat. »Beinahe« und »im letzten Augenblick«, das sind die vorgeschriebenen Mittel zur Spannungserzeugung und zur Erziehung zum Optimismus. In dem berühmten Film »Intolerance«, der schlechte Kasse gemacht haben soll, weil es darin um etwas einem philosophischen Gedanken Ähnliches geht, handelt es sich unter anderem darum, daß ein unschuldig Verurteilter im letzten Augenblick seine Begnadigung erfährt, und man kann sich denken, was bis zu dem Moment an nervenzerreißenden Szenen und an Autos aufgeboten wird, die in rasender Fahrt die schnellsten Expreßzüge überholen. Alles spielt sich am Rande des Lebens ab. Alles ist für die Phantasie prachthungriger kleiner Ladenmädchen und die stumpfsinnige Lüsternheit ermüdeter Arbeitssklaven berechnet. Fragt man die Verfertiger solcher Filme, die bereits den ganzen bewohnten Erdkreis mit ihrer Verlogenheit verpesten, ob sich nicht an eine Hebung des Niveaus denken ließe, was leichterdings riskiert werden könnte, da doch das Publikum in den weltverlorensten Nestern schon des ewigen honigsüßen Quarks überdrüssig ist, so machen sie ängstliche Gesichter und schwören, daß bei dem leisesten Versuch die Einnahmen im Staate Minnesota oder in der Republik Uruguay sofort um die Hälfte sinken würden; was sie hervorbrächten, sei nach den sorgfältigsten statistischen Berechnungen das genaue Mittlere des allgemeinen Geschmacks, daran müßten sie sich halten, sonst gingen sie zugrunde. Es ist aber nicht wahr. Der verruchte Trugschluß ist, daß das Volk die schlechte Ware will. Das Volk nimmt sie aber nur hin, weil es die bessere nicht kennt. Viele einsichtige Amerikaner haben mir das versichert. Eine der ernstesten Folgen der infantilen Unkunst, die sich im Film breit macht, ist die bodenlose Trivialisierung des Frauenideals. Die Wechselwirkung ist eklatant. Wird dem Volk Tag für Tag, Jahr für Jahr in Bild und Handlung ein bestimmter Typus als der allein bewundernswerte gezeigt, so läßt sich zuletzt nicht mehr unterscheiden, ob er aus ihm gewachsen oder ob er ihm oktroyiert worden ist. Und so ist dieses leere, nichtige, farblose Wesen, diese Halbseele, Babyjungfrau mit dem lächelnden Sweetheart-Blick aus aufgerissenen Augen allmählich von der Leinwand ins Leben hinübergetreten, und man könnte paradox sagen, das Leben habe es der Leinwand nachgeahmt. Ich bin weit davon entfernt, zu behaupten, es gäbe keine anderen amerikanischen Frauen als den Unschuldsengel und den Vamp. Die amerikanische Frau zeigt ein ganz anderes Antlitz, die arbeitende Frau, die helfende Frau, die Mutter, die Kameradin, die haben nichts zu tun mit jener puppenhaften und gespenstischen Filmgalatee, der kein Dichterpygmalion jemals Blut und Atem einhauchen kann. Dennoch hat ihr stummes, dummes Diktat dazu beigetragen, daß Amerika, wenigstens das Amerika der oberen gesellschaftlichen Schichten, in den Zustand jener Gynäkokratie geraten ist, die eine Gefahr für seine Kultur und seine Zukunft zu bergen scheint. Die bloße Anbetung des Geschlechts führt notwendigerweise zur Verachtung der Individualität, und im alltäglichen Leben ist sie oft nur die trügerische Hülle für seelische Barbarei und Roheit.

4. Universitäten

Ich habe mich überzeugt, daß unter den jungen Menschen bereits eine erbitterte Opposition gegen die Unwahrhaftigkeit des aufgezwungenen Typus herrscht. Natürlich ist es nicht das allein, was in ihnen gärt. Ich habe vier große Universitäten besucht und bin mit vielen Studenten und Studentinnen in nähere Berührung gekommen. Ich spreche nicht von denen, die ihr Lebensziel im Sport sehen, deren Interessenwelt ausschließlich erfüllt ist von Tennis- und Baseballturnieren, Autorennen und Boxkämpfen, die nichts im Sinn haben als den Rekord, die kein Ereignis ins Auge fassen, sei es eine Hinrichtung, eine Präsidentenwahl oder die Opfer eines Schiffsunglücks, ohne darauf zu wetten, und für die die Liebe, die Ehe, die Politik, die Kunst, die Wissenschaft nur ärgerliche Störungen bedeuten, woran der übrige Teil der Menschheit sündhafterweise seine Zeit vergeudet. Es ist die Mehrzahl, ich weiß es; allein die Majorität entscheidet in dem Falle nicht. Entscheidend sind die Abtrünnigen, die Rebellen. Ich habe in vielen jungen Gesichtern ein Leiden wahrgenommen, das ich mir anfangs nicht erklären konnte, eine gewisse finstere Verschlossenheit, eine stille, heimliche Glut. Sie fühlen sich bedrängt. Sie sind uneins mit sich selbst und uneins mit ihren Führern. Sie wollen woanders hin als in die Richtung, in die man sie befiehlt; aber sie wissen nicht genau, wohin sie statt dessen gehen sollten. Sie sind unzufrieden mit der sozialen Verfassung ihres Landes, wagen aber nicht, die Konsequenzen zu ziehen. Sie wissen heute bereits, daß der europäische Krieg, in den die Nation mit allen Mitteln schlauer Propaganda getrieben wurde, keine der Erfüllungen gebracht hat, die man ihr mit großen Worten und unter den heiligsten Hinweisen versprochen hatte. Sie wehren sich gegen die erotische Heuchelei, die eine Verkümmerung des Herzens zur Folge hat; sie sträuben sich gegen das Kompromiß mit der landläufigen Moral des Puritanismus, doch fehlt ihnen der Mut, ihr offen die Stirn zu bieten, so daß sie einem schwülen und ungesunden Geheimwesen verfallen, einer Art Sektiererei der Leidenschaft. Manche sind zu mir gekommen und fragten mich um Rat. Was sollen wir tun? fragten sie. Wie wollen wir leben? Wie soll man überhaupt leben? Und in ihren schönen, ernsten Mienen lag das unbedingte Vertrauen, daß ich ihnen die richtige Antwort geben könne, dieses rührende amerikanische Kindervertrauen; aber Erfahrungen kann man nicht übermitteln, und Lebenskonflikte können nur gelöst werden, indem man sie selber bis zur Auflösung durchlebt.

Dabei ist die amerikanische Universität, sei es Kolumbia, sei es Yale, sei es Harvard oder Berkeley oder Princeton, eine mustergültige Anstalt, jede eine Stadt für sich, mit Logierhäusern, Klubhäusern, Kirchen, Bibliotheken, Sportplätzen, Arenen, Garagen; der Zögling genießt, wie in den englischen Colleges, eine herrenhafte Freiheit, der einzige dunkle Punkt ist die armselige Besoldung der Lehrer und Erzieher. Es gibt Studenten, die das Vielfache von dem als Monatswechsel beziehen, womit der Lehrer samt seiner Familie sein Auskommen für das ganze Jahr finden muß. Bei einer Professorenversammlung in Philadelphia klagte einer der Redner darüber, daß die jungen Lehrer die Milch für ihre Kinder nicht bezahlen könnten, worauf der steinreiche Präsident der Schule die kühle Antwort gab, er nehme an, daß es billigere Milch gebe als die gewöhnliche. Das wirtschaftliche Mißverhältnis enthüllt auch einen tieferen Defekt. Der körperlichen Entfaltung ist keine Grenze gesetzt, die geistige erfordert in jedem einzelnen Fall die stärkste Initiative dessen, der sie erstrebt. Das hängt mit der eigentümlichen Rolle zusammen, die der Geist in Amerika überhaupt spielt. In dem Roman »Der Fall Maurizius« habe ich die Figur eines überlegenen Geistesmenschen gezeichnet, den das Schicksal nach Amerika verschlägt. Die Erfahrungen dieses signifikanten Europäers sind die übelsten; von seiner inneren Beziehung zu Europa heißt es: »Europa den Rücken kehren heißt noch nicht, ohne Europa existieren können. Er fing an zu verstehen, was Europa für einen Menschen wie ihn eigentlich war. Nicht bloß seine persönliche Vergangenheit, sondern die Vergangenheit von dreihundert Millionen Menschen. Zugleich das, was er davon wußte, was er davon im Blute hatte. Nicht bloß die Landschaft zwischen Nordsee und Mittelmeer, ihre Atmosphäre, ihre Geschichte, ihre Verwandlung. Nicht nur die und die Stadt, in der er selbst gelebt, sondern Hunderte von Städten, und in den Städten die Dome, die Paläste, die Burgen, die Kunstwerke, die Bibliotheken, die Spuren großer Männer. Gab es denn eine Begebenheit seines eigenen Lebens, der sich nicht geschlechteralte Erinnerungen gesellten, die mit ihm geboren waren? Europa war nicht bloß die Summe der Bindungen in seiner individuellen Existenz, Freundschaft und Liebe, Haß und Unglück, Gelingen und Enttäuschung, es war, ehrwürdig und unfaßbar, die Existenz eines Ganzen seit zweitausend Jahren, Perikles und Nostradamus, Theoderich und Voltaire, Ovid und Erasmus, Archimedes und Gauß, Calderon und Dürer, Phidias und Mozart, Petrarca und Napoleon, Galilei und Nietzsche, ein unabsehbares Heer lichter Genien, ein ebenso unabsehbares von Dämonen, alles Helle ins Dunkle getrieben und aus ihm wieder hervorleuchtend, aus trüber Schlacke goldenes Gefäß zeugend, die Katastrophen, die Erleuchtungen, Revolutionen und Verfinsterungen, Sitte und Mode, all das Gemeinsame, Strömende, Gekettete und Gestufte: der Geist. Das war Europa, sein Europa. Wie konnte er dies Europa von sich abtun? Es war in ihm. Er trug es mit hinüber. Es wirkte in ihm schon dadurch, daß er atmete. Er hatte demnach, so schien es ihm, eine Aufgabe. Wie ein Missionar zu den Heiden geht, um ihnen den wahren Gott zu bringen, so ging er ›hinüber‹, schien es ihm, um den Geist Europas zu verkündigen.«

Und weiter (in seinem eigenen Bericht): »Ich kannte keinen Menschen. Ich besaß keinerlei Empfehlung. Nach einigen Wochen war ich von allen Mitteln entblößt. Das schierte mich nicht groß. Verhungern kann dort niemand. Das ganze Land ist sozusagen eine Versicherungsanstalt gegen den Hungertod. Die öffentliche Wohltätigkeit ist so gigantisch, daß Bettler fast so selten sind wie Könige. Und sie haben ja die Demokratie. Was allerdings zwischen Leben und Nichtverhungern liegt, ist ein anderes Kapitel. Stellen Sie sich ein riesiges Hospital vor, ausgestattet mit allem Komfort der Neuzeit, vollgestopft mit lauter unheilbar Kranken, von denen niemals einer stirbt, so haben Sie, was ›dazwischen‹ ist. Das Sterben könnte dem Renommee des Instituts schaden … Es gelang mir leicht, durch Sprachunterricht mein Brot zu verdienen. Ich blieb damit aber auf die untersten Klassen beschränkt. Es hatte äußere Gründe. Ich hatte das Geld nicht, mich anständig oder gar elegant zu kleiden, ich hatte auch nicht die Neigung dazu, nach und nach kam der Trotz über mich, als wäre mein ärmliches Aussehen ein Selbstschutz … Kleine Leute vertrugen mich gerade noch. Kleine Leute fordern nicht die Umgangsschablone, sie sehen noch im anderen Menschen etwas Schwebendes, da sie ja auch noch schweben, über der Tiefe nämlich. Den kleinen Leuten dort haftet noch ein Fetzen Europa an, ein verlorenes Flitterchen Europa, ein Reminiszenzchen. Die Gesicherten, sowie sie nur anfangen, der Sicherung teilhaftig zu werden, beargwöhnten mich. Ich sagte Worte, die bei ihnen nicht vorkamen. Ich machte Anspielungen auf Dinge, von denen sie nie gehört hatten. Die Sätze, in denen ich zu ihnen redete, hatten eine Konstruktion, mit Hauptsatz und Nebensatz. Nie kam das Wort Dollar über meine Lippen. Dagegen liebte ich es, mich in Gleichnissen verständlich zu machen. Und das war Geist, etwas rasend Verdächtiges, etwas Ekrasantes, und je höher man sozial stieg, je verdächtiger und ekrasanter. Natürlich wurde ich immer vorsichtiger, immer bescheidener. Aber die wohlbedachte, sorgfältig geplante Vermeidung und Ausschaltung von Geist, deren ich mich befliß, war immer noch Geist. Was sollte ich dagegen tun? Ich hatte eben noch nichts von dem Land begriffen. Ich sah bloß das eine, wenn ein Mensch, sei es, wer es sei, einen Funken Geist zeigte, ging man ihm in weitem Bogen aus dem Weg, und er konnte seinen Fauxpas nur vergessen machen, wenn er gelegentlich etwa ein Kind aus den Fluten des Mississippi zog. Nein, sie lieben nicht den Geist, sie lieben das Ding, die Sache, die Verrichtung, die Anpreisung, die Tat; der Geist ist ihnen über alle Maßen unheimlich. Sie haben was anderes an seiner Statt, das Lächeln. Ich mußte lernen zu lächeln. In San Franzisko gab es einen Friseurladen, der Besitzer hatte nach dem großen Erdbeben, das die Stadt in Trümmer stürzte, den sublimen Einfall, ein Plakat an seine Ladentür zu nageln: Wer hier lächelnd eintritt, wird umsonst rasiert. Als man mir das erzählte, fing ich langsam an zu begreifen. Kinderland. Ich lernte also lächeln.«

(Das Zitat, meine ich, entschuldigt sich selbst. Man wird verstehen, zum andern Male, daß ich etwas in gültiger Form bereits Gesagtes, ich nehme wenigstens an, daß es so ist, nicht abgeschwächt und minder prägnant wiederholen will. Als ich damals, betroffen von der Düsterkeit und Großartigkeit Chikagos, die Waremme-Gestalt konzipierte, sah ich natürlicherweise tiefer und genauer als heute in der bloßen Erinnerung.)

5. Gesellschaftsform und soziale Zusammensetzung

Keep smiling; dieser Devise untersteht das gesellschaftliche Leben im weitesten Sinn, nicht nur das der oberen Klassen. Eine der Hauptursachen ist wohl die, daß der gesamte gesellschaftliche Verkehr von Frauen beherrscht und geregelt wird, Frauen machen die öffentliche Meinung, Frauen richten über moralische Verfehlung, Frauen urteilen über Kunstleistungen, Frauen sprechen in den meetings, und zwar mit großer Geläufigkeit, Sachkenntnis und Ausdauer. Dennoch, kollegiale Freundlichkeit, kameradschaftliche Rücksicht, höfliche Verbindlichkeit sind keineswegs wie bei uns Kennzeichen derer, die über den Existenzkampf erhoben sind. Der Chef verkehrt mit seinem Angestellten wie mit einem Partner, auch wenn es nur der Liftboy oder der Tellerwäscher ist; sieht er sich gezwungen, ihn zu entlassen, so teilt er es ihm mit, indem er ihm gerührt auf die Schulter klopft, und niemals wird plötzliche Lösung eines Dienstverhältnisses von dem Betroffenen als Feindseligkeit empfunden, er anerkennt eben die Notwendigkeit, von der das soziale Triebwerk im Gang erhalten wird. Jeder gesteht jedem das Recht zu, sich seiner zu entledigen, sobald er ihn nicht mehr braucht, es wird ihm nicht einfallen, deswegen über ungerechte Behandlung zu schreien oder sich über die Grausamkeit der Weltordnung zu beschweren. Das ist die bedingungslose Unterwerfung unter den Erfolg. Nothing succeeds like success, ein unübersetzbares Wort; in seinem unsinnigen Pleonasmus liegt die ganze frenetische Anbetung dessen, was sie »Erfolg« heißen, ein Begriff, der nicht allein das geschäftliche oder sportliche Erreichen eines Zieles bedeutet, nicht bloß Erlangung von Geld und Ruhm, sondern Sieg oder Vorrang, Triumph überhaupt, Niederringung des Gegners, des Mitbewerbers in jeglicher Konkurrenz. Hierzu sind alle Mittel erlaubt, unter keinen Umständen gilt es für unanständig, sich aller Mittel zu bedienen, bis zum sogenannten knock out. Dieser Widerspruch, die rücksichtslose, vor keiner List, keinem Verrat, keinem moralischen Hindernis zurückschreckende Entschlossenheit zum Erfolg einerseits und die Sanftheit, Freundlichkeit, zeremoniöse Korrektheit des persönlichen Umgangs andererseits zieht sich durch das gesamte amerikanische Leben und enträtselt manche dem europäischen Gefühl unzugängliche Erscheinung. Der Zustand der Gesellschaft, so entwickelt er scheint, so in Gegensätzen überspitzt, so morbid sogar, grenzt doch, schürft man tiefer, ausfallend nahe an den Zustand der Wildheit, sie haben alle etwas von der Frühreife der Kinder, und sie sind Kinder, auch in ihren finstern, in ihren abstoßenden Eigenschaften, Kinder und Wilde. Auch bei den Wilden findet man diese Sanftheit und Freundlichkeit, ziselierte äußere Formen zugleich mit Zügen der Grausamkeit und Brutalität. Ich erinnere nur an die Azteken und Tolteken, die bei blumenhafter Zartheit des Wesens einem Kult scheußlicher Menschenschlächterei ergeben waren, an die indianischen Ureinwohner Nordamerikas, deren ritterlicher und großmütiger Charakter sie nicht hinderte, ihre Feinde am Marterpfahl zu rösten. In Gemäßheit dazu ereignen sich ja in Amerika die meisten Amateurmorde, die oft von wahrhaft blutrünstigen Schauern umgeben sind, in Chikago werden jährlich fünfhundert Menschen ermordet, und nur in dreihundert Fällen werden die Mörder entdeckt, weil nicht selten die Polizei selbst ihre Hand dabei im Spiel hat. Ohne Zweifel beruht diese Ähnlichkeit auf bestimmten ethnologischen Gesetzen. Klima, Landschaft, Sprache haben an der Menschenbildung stärkeren Anteil als das, was wir mit einem immer ungreifbarer werdenden Wort Rasse nennen. Zeigen doch die Nachkommen der Auswanderer schon in der zweiten Generation den markanten amerikanischen Schädel mit der vorgeschobenen Kinnpartie, sogar die Söhne polnischer und russischer Juden präsentieren sich zuweilen in dieser Hinsicht als unverfälschter Amerikaner.

Um auf die Umgangssitten zurückzukommen: ich habe während meines monatelangen Aufenthalts nie einen murrenden, galligen, schimpfenden Menschen getroffen, selten einen schlecht gelaunten. Sie strahlen geradezu Wohlwollen aus. Sie sind so erfüllt von sich und ihrem Tun und ihrer Tüchtigkeit und ihrer Zukunft und ihrem Gelingen, daß man es nicht übers Herz bringt, ihnen nicht beizustimmen, wenn sie sich entzückt darüber äußern. Darin herrscht ein sehr bemerkbarer Kollektivismus, der die einzelnen Individuen mehr atomisiert als bei uns, und unter diesem Gesichtspunkt begreift man zweierlei Dinge besser, die man vorher mit europäischem Hochmut belächelt oder verurteilt hat. Einmal die Art der sozialen Hilfeleistung, die eigentlich eine offene Forderung ist, eine außergesetzliche Besteuerung der Reichen unter dem Druck der öffentlichen Meinung und die durchaus den Körperschaften zugewendet werden muß, dem Gemeinwohl, der Errichtung von Schulen, Spitälern, Bibliotheken, Laboratorien, Sternwarten, lauter Anstalten, für die der Staat einfach keine Mittel hat oder bewilligt. Es wird einem amerikanischen Dollarnabob nicht einfallen, einzelne Personen zu unterstützen, eine einzelne Existenz vor dem Untergang zu retten oder ihren Aufstieg zu erleichtern, auch dann nicht, wenn es sich etwa um ein Genie handelt, jedes derartige Ansinnen wird er mit Entrüstung zurückweisen. Ein einzelner Mensch gilt in dieser Hinsicht gar nichts. Das zweite ist das Verhältnis zum Geist, das unter dieser Beleuchtung doch etwas anders aussieht, als es die vorher zitierte Waremme-Figur betrachtet. Der höhere Gedanke, die religiöse Idee oder auch das Kunstwerk werden entweder von der Masse aufgenommen, dann leben und wirken sie, oder die Masse bleibt gleichgültig dagegen, dann bedeuten sie nichts und existieren nicht. Im ersteren Fall wird das Geschaffene samt dem Schöpfer Eigentum der ganzen Nation. Dafür gibt es reizende Beispiele, eines davon, so uneuropäisch wie möglich, wurde mir von Sherwood Anderson erzählt, der drüben ein sehr populärer Schriftsteller ist. Er hielt im vorigen Winter einmal eine Vorlesung in Ohio. Eine Dame der Gesellschaft veranstaltete ihm zu Ehren einen Empfang und lud eine Menge Leute zu dem Abend ein. Am Vormittag vorher wird sie von einer ihr unbekannten Frau angerufen und ersucht, sie möge sie ebenfalls einladen. Die Gastgeberin bedauert, sie habe keinen Platz mehr, außerdem kenne sie die Bittstellerin nicht. Wahrscheinlich paßte ihr auch die kategorische Forderung wenig. Trotzdem erscheint die Betreffende am Abend vor der Wohnung, da man sie nicht einlassen will, verlangt sie die Hausfrau zu sprechen, als diese ihre Weigerung ziemlich energisch wiederholt, schiebt sie die Dame einfach beiseite und ruft ihr äußerst ungehalten zu: » How can you imagine to monopolise a man like Sherwood Anderson!« Dergleichen geschieht nicht etwa aus Snobismus und gesellschaftlicher Streberei wie bei uns, der Beweggrund liegt tiefer, sie glauben nämlich an ein Buch. Sie glauben wirklich an den Menschen, der das Buch schrieb, wenn sie das Buch lieben. Sie nehmen die Lehren wörtlich, die es ihnen vermittelt, die Gestalten sind ihnen so real wie die ihrer Umgebung, und weit entfernt von europäisch-ästhetischer Kritik, ziehen sie, genau wie Kinder, die für ihr Leben wichtige Nutzanwendung aus dem Werk. Die Erfahrungen, die ich selbst in der Beziehung gemacht, haben mir unwiderlegliche Beweise dafür geliefert.

Ich habe vorhin die Bezeichnung Volk gebraucht. Ich zweifle sehr, ob es eine zutreffende Bezeichnung ist. Es ist ein Völkergemisch, ein Völkerbackofen. Zwei- oder dreihundert Jahre sind ja ein viel zu kurzer Zeitraum für die Bildung eines einheitlichen, gegliederten und verwurzelten Volksorganismus. Unleugbar, daß in den Oststaaten, unter den alten Kolonisatorenfamilien Pennsylvaniens, in Boston, in Baltimore, in Neworleans und bei den Farmern am oberen Mississippi, eine Tradition herrscht, eine lebendige generative Erinnerung und als deren Ergebnis eine patrizische Lebenshaltung, die allerdings im Norden durch die Kälte des Puritanismus erstarrt und sterilisiert ist. Allein die berühmte »Mayflower«, die doch ein schäbiges kleines Segelschiff war, müßte so groß wie ein Sechzigtausendtonnendampfer gewesen sein, wenn sie alle diejenigen befördert haben sollte, auf die die heutigen Amerikaner sich als ihre Vorfahren berufen. Fragt man einen beliebigen Mann nach seiner Abstammung, so wird erwidert: »Mein Vater war ein Ire, meine Mutter eine Französin«, oder: »Meine Mutter war eine Polin, mein Vater ein Deutscher.« Das deutsche Element überwiegt bei weitem, doch gerade die Deutschen haben sich am stärksten angepaßt, der vor zwanzig Jahren Eingewanderte radebrecht nur noch das Deutsche, seine Kinder verstehen die Sprache überhaupt nicht mehr und prästieren eine Zugehörigkeit zur Wahlheimat, die ihnen von den Mitbürgern nur zögernd eingeräumt wird. Eine zu große Bereitschaft zur Liebe findet den Partner nicht immer ebenso willig, in diesem Fall argwöhnt man eine vorteilsüchtige Vergeßlichkeit und hat wohl nicht Unrecht.

Das Völker-, Rassen- und Nationalitätengemisch in den großen Städten ist schlechterdings verwirrend. Skandinavier, Italiener, Iren, Griechen, Rumänen, Chinesen, Japaner haben ihre besonderen Viertel, am zahlreichsten ist die jüdische Emigration. Bronx, die Judenstadt von Newyork, zählt 1¼ Millionen Einwohner, so daß jeder fünfte Mensch in der Stadt ein Jude ist und man den Witz kolportiert hat, eine amerikanische Mutter, die vier Kinder besaß, habe sich geweigert, ein fünftes zu bekommen, damit es nicht ein Jude würde. Doch an diesem Ghetto ist nichts Heiteres. Der bloße Aspekt ist zermalmend, eine Mischung von orientalischem Schmutz und moderner Industrie, Marktstände auf den Gassen, häßliche eiserne Feuerleitern an allen Fassaden, von Balkon zu Balkon. Auf diesen Balkons schlafen in den unleidlich heißen Sommernächten Newyorks ganze Familien, zehn, zwölf Personen auf einem Raum, nicht größer als ein Eisenbahncoup é. In den unendlich langen Straßen, Delancey Street, Orchard Street, Columbia Street, Second Avenue tummeln sich Tausende von bleichen, schmutzigen, großäugigen Kindern von morgens bis mitternachts, das Pflaster ist bedeckt vom greulichsten Unrat, in den Häusern wohnen die Menschen so dicht wie die Bienen im Stock, in zahllose Wohnungen dringt überhaupt kein Tageslicht, die Verfinsterung wird durch die Hochbahn bewirkt, die unmittelbar vor den Fenstern vorüberdonnert. Ich bin mit vielen von den Leuten bekannt geworden, und sie haben mir gesagt, daß sie richtigen Schlaf seit Jahren nicht mehr kennen. Aus dem unbeschreiblichen Sprachengewirr dringt verständlich immer wieder nur das eine Wort Dollar, von allen Seiten, von hundert Lippen, in jedem denkbaren Ausdruck, in allen Akzenten aller Idiome: Dollar. Das bedeutet nicht die Münze des Landes allein, es bedeutet Geld schlechthin. Das Erstaunliche ist, daß aus diesem Inferno immerfort Einzelne, und zwar viele Einzelne, zu Reichtum, Macht und Einfluß emporsteigen, sei es durch unbeirrbaren Fleiß und eiserne Hartnäckigkeit, sei es durch eine sogenannte Idee, eine Erfindung, einen Geschäftskniff, die Verbilligung einer Ware, eine neue Methode der Anpreisung. Ein traumartiger Existenzwirbel. Wozu dies Leben hier, fragt man sich, im Sumpfdickicht der Riesenstadt, zwischen Häusertrichtern, baumlos, himmellos, freudlos? Was findet die geplagte Kreatur in solchem Dasein? Jeder dieser nach Luft und Licht gierenden Menschen hat eine Seele, an der er haftet, jeder haftet vor allem an sich selbst, in jedem Leben gibt es wahrscheinlich jeden Tag zwei bis drei Minuten des relativen Glücks, der Hoffnung, der Zuversicht, also entscheiden Wirklichkeiten keinesfalls, denn eine Wirklichkeit wie diese müßte sonst zur vollendeten Verzweiflung und zum Selbstmord führen.

Daß die Juden sich in das staatliche Gefüge einleben und als Volksteil von der Nation aufgesogen werden, leidet keinen Zweifel. Anders steht es mit den Negern. Ihre ständig zunehmende Zahl bildet ein ernstes Problem für das Land. Wenn ein Amerikaner von der Rassenfrage spricht, so meint er die Negerfrage, und man spürt, daß ihm dabei nicht ganz wohl zumute ist. Wie alle andern Nationalitätengruppen bewohnen sie in den Städten ihre eigenen Viertel. In Harlem, der Negerstadt von Newyork, leben sie zu Hunderttausenden gepfercht, sie haben ihre Banken, ihre Theater, ihre Schulen, ihre Ärzte, ihre Literatur, und obschon sie innerhalb der Gesamtheit wie ein abgetrenntes Volk existieren, durchdringen sie das gesamte öffentliche Leben in eigentümlicher Weise. Sie sind still, fügsam, sehr gesittet, manchmal von hoher Bildung, und ihre oft geniale rezeptive Begabung macht einzelne unter ihnen zu vortrefflichen Schauspielern und Musikern. Bei aller Friedlichkeit ihres Wesens kann man sich des Gefühls nicht erwehren, als bereiteten sie sich zu einem entscheidenden Kampfe vor, als sei die Masse in der Tiefe heimlich aufgewühlt und führe mit bisher unbekannten Mitteln und mit zu fürchtender Geduld eine Art von Gesellschaftskrieg. Sie sind Chauffeure, Köche, Kellner, Portiers, Schlafwagendiener, Matrosen, aber auch Beamte, Schriftsteller, Gelehrte und Millionäre. Im Hause eines Freundes, der ein leidenschaftlicher Vorkämpfer für die Emanzipation der Neger ist und deshalb, als Hochschullehrer, Schwierigkeiten mit der Universität hatte, traf ich mit einigen ihrer repräsentativen Künstler zusammen, es war ein unvergeßlicher Eindruck; sehr kultivierte Leute, geistige Köpfe, dabei voll Melancholie, einer elementaren Dunkelheit im Wesen. Ein junger Komponist hatte die Verse eines Freundes in Musik gesetzt und trug sie vor. Die Gedichte bestanden aus einfachen Rhythmen, fast kindlichen Formulierungen, Feststellungen sozialer Bedrückung, von Armut und Verachtetsein. Die Stimme des Sängers aber war etwas Erschütterndes, sie klang wie aus dem Urwald oder dem Dschungel, wie die Stimme eines verwundeten Löwen. Andern Tags lernten wir die sogenannte Negerkaiserin kennen, die mit einer Haarsalbe, durch welche die Haare der Neger glatt wie die der Weißen werden, viele Millionen Dollar verdient hat. Den Weißen ähnlich zu sein, ist überhaupt ihr Traum, und wenn sich ein reichgewordener Neger weiße Dienstboten halten kann, ist er gleichsam geladen von Lebenstriumph. In Chikago verbrachten wir in einem Negertanzlokal, in Begleitung zweier Detektive, einige Nachtstunden in Gesellschaft des Negerboxers Johnston. Er stellte sich mir als Kollege vor, er war nämlich eben im Begriff, seine Selbstbiographie zu veröffentlichen. Wenn er sich vom Stuhl erhob, sah er aus wie ein ungeheurer Bär. Er erzählte mir recht interessant, wieviel er von den spanischen Stierfechtern für sein Handwerk gelernt, Handwerk im wahrsten Sinn, wie da jede Bewegung mit äußerster Sparsamkeit und Zweckmäßigkeit errechnet werde, und währenddem tanzten die jungen Negermädchen um uns herum ihre wunderbaren Tänze, die der Kunst nichts schuldig blieben und von der Natur und vom religiösen Mythos noch alles bewahrt hatten. Ich war an diesem Tag sehr bereit, das Merkwürdige, ja Geheimnisvolle des Milieus in mich aufzunehmen, ich war viele Stunden lang in den Chikagoer Slums herumgewandert.

6. Einige Notizen über Chikago

Da es sich um Erlebtes handelt, beziehe ich mich noch einmal auf die bereits erwähnte Romanfigur. Ich kann mich, was die folgenden Bilder betrifft, ohne weiteres mit ihr identifizieren. Chikago steht noch heute als eine gewaltige Vision vor meinem inneren Auge. Die »Figur« sagt also darüber:

»Diese Stadt, wenn ich bisweilen den Atlas aufschlage und sehe sie unter einem gewissen Längen- und Breitengrade geographisch fixiert, am Südufer eines gewissen ungeheuren Sees, ungeheuer wie alles in dem Land, das Wasser weißlich wie verdünnte Milch, wenn ich sie da sehe, als Zeichen bloß, ergreift mich ein grauendes Staunen. Sie existiert also wirklich, sag ich mir, als ich dort lebte, war mir die Wirklichkeit lange nicht so unumstößlich. Könnte die menschliche Seele, was in sie eindringt, so schnell aufnehmen wie das Auge blickt und der Verstand faßt, niemand könnte das Jahr, in dem es geschieht, zu Ende leben … Es geht mir mancherlei durch den Sinn; wenn ichs festhalten will, hat es nicht mehr Stoff als Fieberträume … ein Bilderbuch, so rar wie nervenzerrüttend … Ich geh eines Morgens durch die Gassen der Lagerhäuser, die Ohren zerhämmert vom Lärm, Maschinen und Menschen toben, kreischen, rasen, da vernehm ich sonderbare Laute. Vogelgesang? denk ich erstaunt, in der Schmutz- und Eisenhölle Vogelgesang? Woher die Vögel? Wieso kann ich sie hören? Ich trete in eine Art Verschlag, frag einen Schwarzen, er weist mich grinsend weiter, vor mir eine Mauer von Käfigen, dreißigtausend Kanarienvögel, eben ausgeladen, singen aus dreißigtausend winzigen Kehlen, ein Orchester, ein Monstrekonzert, das Krane, Autos, Lokomotiven unsinnig-lieblich übertönt … Ein Sommernachmittag; lungenausdörrende Hitze; die Wandelgänge der Stockyards; der Himmel eigentümlich gelbrot, die Luft klebrig, zum Schneiden dick. Die kilometerlangen Gänge, hölzerne Tunnels, Labyrinthe von Tunnels laufen über die Straßen hin, die Todesbrücken für das Schlachtvieh. Dumpfes Gedröhn, Ochsen und Kälber in unendlichen Zügen, ruhiges, schicksalsvolles Stampfen. An einer bestimmten Stelle wuchtet der Hammer auf sie herunter, in einer Minute sterben hundert und stürzen in den Schacht. Bedrängte Gegenwart, so dicht beim Sterben zahlloser Kreatur, ich seh sie schreiten, schiebend geschoben, die Hälse der Hinteren auf die Flanken der vorderen gelegt, vom Morgen bis zum Abend, Tag für Tag, Jahr für Jahr, mit großen braunen, ahnungsvoll verwunderten Augen, das klagende Gemuh erschüttert die Atmosphäre, vielleicht erbeben die unsichtbaren Sterne davon, die Pfeiler zittern von den starken Körpern, aus den riesigen Hallen und Speichern schwelt der süßliche Blutdunst auf, ständiges Blutgewölk brütet über der ganzen Stadt, die Kleider der Menschen riechen nach Blut, ihre Betten, ihre Kirchen, ihre Stuben, nach Blut schmecken ihre Speisen, ihre Weine, ihre Küsse. Es ist alles so massenhaft, so unerträglich hunderttausendfach, der Einzelne hat fast keinen Namen mehr, das Einzelne nichts Unterscheidendes. Numerierte Straßen, warum nicht numerierte Menschen etwa nach der Zahl der Dollar, die sie verdienen, mit Blut von Vieh, mit der Seele der Welt …«

Es ist ein Aufschrei, der nicht mißverstanden werden darf. Er kommt aus einer geistigen Ecke der europäischen Welt, in der man die Welt drüben noch nicht begreifen kann. Es fehlen die Maßstäbe, es fehlt der Entschluß, auf das Alte, das Gewohnte, das Herkommen, die eingelebte Bindung zu verzichten. Es ist der verbliebene Rest einer heroischen Gefühlsstimmung, die vielleicht zum Untergang verurteilt ist, etwa wie der liberale Gedanke, den die französische Revolution geboren und dessen Herrschaft hundertfünfzig Jahre gedauert hat, kein allzu großer Zeitraum schließlich für einen Gedanken. Ich sage vielleicht; man muß den aufnehmenden Sinn umstellen, man muß wirklich anschauen, nicht nur sehen, und besonders muß man sich davor hüten, zu urteilen. Urteil ist immer der Anfang des Vorurteils.

7. Tagebuch-Aufzeichnungen

 

7. Februar 1927

Besichtigung des Schiffsmaschinenraumes. Ein 40 m hoher eiserner Turm, ganz aus Stäben gebaut. Schmale, hühnerleiterähnliche Eisentreppen. Ein wunderbares, kompliziertes Gebilde aus Stahl und Kupfer. Verschlungene Röhrenleitungen, elektrische Stromanlagen, Ölheizkessel, die 90 m langen Wellen, an deren Enden die Schrauben arbeiten, Gefriermaschinen, Luftschächte, Registrierapparate, die durch einen Druck von der Kapitänsbrücke aus hermetisch verschließbaren Türen. Alles funktioniert wie in einem künstlichen Gehirn. Vorherrschender Gedanke: Eine Menschheit, die auf solche Einrichtungen soviel Kraft, Geist, Genialität, Erfindungsgabe und Zeit verwendet, kann unmöglich noch die moralischen Fähigkeiten früherer Epochen besitzen, sie kann nicht Religionsstifter, große Dichter, große Philosophen hervorbringen, dazu hat die Natur eben nicht genug Vorrat. Unser Geschlecht geht diesen einen Gang, wie es scheint, mit aller Intensität und Ausschließlichkeit, und man hat sich damit abzufinden.

 

16. Februar. Newyork

Ich mache eine sonderbare Beobachtung, deren Richtigkeit natürlich zweifelhaft ist. Zwischen drei und sechs Uhr nachmittags fühle ich mich gewöhnlich merkbar müde. Ich denke, daß der Körper sich in diesen Stunden seiner europäischen Nachtzeit erinnert und nachgibt, während hier noch voller Tag ist. Der Körper läßt sich nicht täuschen und bleibt bei seiner Stunde.

 

18. Februar

Morgan-Bibliothek. Räume wie in einem italienischen Palast. Bilder von Memling, Ghirlandajo, Botticelli, griechische Bronzen und Statuen, Originalmanuskripte von Thackeray, Dickens, Hardy, Meredith, Keats, Byron, die Tagebücher von Scott, Originalbilder von Blake, Shakespeare-Folio. Deutsche Literatur fehlt vollkommen. (Wie in allen amerikanischen Privatsammlungen.) Die Bibliothekarin, Miß G., Mischblut, sehr interessante, aber wenig sympathische Frau von etwa fünfzig Jahren, die trotz ihrer Machtstellung und der unbeschränkten Mittel, über die sie für das Institut verfügt, gesellschaftlich wegen ihrer Abkunft nahezu geächtet ist. Die amerikanische Freundin, die uns begleitet, meint, daß in diesen Räumen seit dem Krieg wohl zum ersten Male Deutsch gesprochen wurde. Nach dem Tod des alten Morgan zeigten die Erben so wenig Interesse an der Sammlung, daß sie beabsichtigten, die ganze Bibliothek samt den kostbaren Handschriften zu versteigern. Miß G. wußte aber den ältesten Sohn mit derartigem Nachdruck von der Wichtigkeit, dem geistigen und nationalen Wert des Instituts zu überzeugen, arbeitete so lange und mit so erzieherischer Kraft an ihm, daß er nicht nur Einsicht und Kennerschaft erlangte, sondern auch nunmehr mit Eifer, ja mit Passion ihr Werk unterstützt und ausbauen hilft.

 

20. Februar

Gedanken an zu Haus. Es gehört ein starkes Herz dazu, Entfernung zu ertragen.

Wenn ich mit Negern spreche, habe ich zunächst immer das Gefühl, daß sie eine Maske tragen.

Wunderlich wirken gewisse ältere Kirchen zwischen den Wolkenkratzern, wenn die Turmspitze ungefähr das fünfte oder sechste Stockwerk von den zwanzig oder dreißig erreicht.

Ein Zeichner, Mr. X, sitzt im Zimmer, während ich dies schreibe, und porträtiert mich. Sie dringen ein, sie kennen kein Hindernis, sie sind da und tun entschlossen, was sie sich vorgenommen haben.

 

22. Februar

Gespräch mit dem feinen und geistreichen Mr. O. G., zunächst über die tragisch-traurige Rolle, die Wilson beim Friedensschluß gespielt hat. Bei uns glaube man, es sei den Entente-Staatsmännern, besonders Lloyd George und Clemenceau, gelungen, den Willen und Einfluß Wilsons zu brechen. In Wirklichkeit sei es der Kongreß in Washington gewesen, der Druck der Industriemagnaten und Dollarkönige, der ihn lahmgelegt und desavouiert habe. Von da an datiere auch die Korruption der gesetzgebenden Versammlungen, die so groß sei wie in der Zeit nach Lincoln. Indem sie sich auf ein tatsächlich vorhandenes Gesetz beriefen, gaben sie in Versailles und Paris schon im voraus kund, daß sie nichts von dem approbieren würden, was Wilson forderte und durchsetzen wollte, so hatte Clemenceau freie Hand und konnte machen, was ihm gut schien, indes Wilson zur Marionette herabsank und von seiner eigenen Ohnmacht nicht einmal etwas wußte. Es ist in der Tat ein einzigartiger, welthistorischer Fall von dämonischer Ironie, daß der in Idealismus getauchte Deputierte einer angeblich aus menschheitlichen Motiven in den Krieg eingetretenen Nation von den Repräsentanten dieser selben Nation nicht nur verleugnet, sondern geradezu zum Lügner gemacht wird, an der Sache zum Lügner und an sich selbst zum Lügner.

 

23. Februar

Mr. M. sprach über den Einfluß des europäischen Skeptizismus auf die Amerikaner, die insgesamt geistig noch nicht so weit sind, um diesen Skeptizismus innerlich ertragen zu können. So kehren zum Beispiel Tausende von Männern aus Paris zurück, wo sie einen Einblick in erotisches Leben erhalten haben, durch den sie vollkommen verwirrt werden und den auf die heimischen Verhältnisse zu übertragen unmöglich ist.

 

Abends

Belasco-Theater. »Lulu Bell«, ein Negerstück, mit Leonore Ulric als Star. Das Stück eine Verwässerung von Wedekinds »Erdgeist.« Die Regie mustergültig, alles mit der unheimlichen Präzision, ohne die hier eine Kunstleistung nicht möglich ist. Die Ulric in Bewegung, Mimik, Rhythmus, Tempo, Ausdruck unübertrefflich. Sehr schöne Person, hinreißendes Temperament. Sie ist eine Weiße, ihre Partner sämtlich Neger, der Negergeruch von der Bühne her recht unangenehm, dazu die Gerüche von Parfüm und Pomade aus dem Publikum. Es war die fünfhundertsoundsovielte Aufführung, trotzdem gab sich die Ulric vollständig aus, ohne daß sie einen Augenblick lang den Geist des Zusammenspiels verriet. Dergleichen ist bei uns kaum zu sehen, das »Theater« dermaßen zu vergessen, ist dem Zuschauer nur bei den höheren dramatischen Schöpfungen möglich, wenn große Künstler in Einzelleistungen brillieren.

 

24. Februar

H. gab mir ein Buch, »Wealth against Commonwealth«, von einem gewissen Lloyd, eine Rarität. Als es vor fünfundzwanzig Jahren erschien, ließ Rockefeller alle Exemplare aufkaufen und den weiteren Druck verhindern. Es stellt auf mehr als fünfhundert Seiten in nüchternen Fakten den Verbrechensweg dar, auf dem der alte Rockefeller das Ölmonopol durchsetzte, ein Weg, der tatsächlich über Leichen ging, denn es verschwanden unter anderm Leute, die unabhängig genug waren, seine Absichten zu durchkreuzen, einfach aus dem Leben, ohne daß man je ergründen konnte, wohin sie gekommen waren. Das ungeheure Vermögen ist im Wortsinn aus Blut entstanden. Eine Zeitlang wurden alle Spenden und Stiftungen, die Rockefeller machte, zurückgewiesen. Nach und nach freilich war das Geld stärker, und es entstanden jene berühmten Foundations, die in die Hunderte von Millionen Dollar gehen und gemeinnützigen, wissenschaftlichen und humanitären Zwecken dienen. Loskauf. Der jetzt fünfzigjährige Sohn Rockefellers ist als strenger und lauterer Charakter geachtet. Er beschäftigt sich aufs ernsteste mit der Situation der arbeitenden Klassen und schafft viel Nützliches und Gutes.

 

25. Februar

Die Hälfte aller Läden in den Straßen sind solche für Damentoiletten. Das ganze öffentliche Leben ist auf die Frau zugeschnitten, die unsinnige Überheizung aller Wohnräume ist für die Frau und ihre leichte Kleidung berechnet, die Männer mögen schwitzen und tun es widerspruchslos und achselzuckend. Sie zucken überhaupt gern die Achseln.

Autofahrt den Hudson hinauf nach Yonkers und Longview. Bevor Newyork existiert hat, muß da eine Landschaft von großer Art gewesen sein. Die Atmosphäre ist von einer Reinheit und Zartheit, die jeden Maler bezaubern muß, namentlich eine gewisse Sorte von graublauen Tönungen habe ich nirgends sonst gesehen. Der Amerikaner liebt die Ausschweifung im Farbigen, was vor allem bei den nächtlichen Lichtreklamen hervortritt. Wenn man abends über den Broadway geht, mitten in einem beängstigenden Gewühl von mehr als hunderttausend Menschen, hat man in all dem wilden bunten Flammen und Flimmern einer geradezu unersättlichen Illumination nicht mehr das Gefühl, in einer normalen Ordnung der Dinge zu leben. Es ist eine unwahrscheinliche Wirklichkeit.

 

5. März. Chikago

Zwei interviewende junge Damen fragen mich, wann ich meine wissenschaftlichen Forschungen aufgegeben hätte, um mich der Dichtkunst zuzuwenden. Nach allerlei Hin- und Herreden, wobei meine Frau mir sorglich behilflich ist, stellt sich heraus, daß sie mich nicht nur für den Romanschriftsteller, sondern zugleich auch für den Syphilidologen Wassermann halten.

 

6. März

Die ganze Nacht mit Chaim Waitzmann im Gespräch. Interessante Aufschlüsse über Anfänge und Geschichte des Zionismus. Die Unterhaltung mit dem sehr bedeutenden Mann habe ich besonders fixiert, und sie wäre an besonderer Stelle einmal auszuführen.

 

7. März

Warenversandhaus Sears, Robbock & Co. Dieses Ungeheuer von einem Institut ist oft genug geschildert worden, soviel ich weiß. Wem Zahlen imponieren, der erfährt, daß das Haus 48000 Angestellte beschäftigt, der Briefeinlauf täglich 70–80000 Briefe beträgt. Am Morgen kommt die Bestellung, nachmittags um 4 werden 70–80000 Pakete nach allen Teilen der Vereinigten Staaten versandt: Frauenhüte, Schirme, Schuhe, Sensen, Pflüge, Musikalien, Schreibpapier, Lampen usw. Die Präzision ist staunenswert. Triumph des laufenden Bandes. Das Wunderliche ist dabei, daß das Hinterland so lebendig wird, der einsame Ansiedler mit seinen Bedürfnissen für die Wirtschaft, die Familie, die Unterhaltung. Doch solche Besichtigungen ermüden ungemein, da sie ja die Seele in keiner Weise angehen, sondern nur ein motorisches und kombinatorisches Interesse erregen, in gewissen Momenten allerdings sehr weite, ja ungeheure Aspekte über das Leben dieses Volkes eröffnen. Gleichwohl bleibt die Abwesenheit jeder Gemütsbeteiligung bedrückend. Ein Gewebe maschineller Verrichtungen, Hochstand der Organisation, Minimum an Zeitverbrauch. Aber was geschieht mit all der unverbrauchten Zeit? Ganz ergötzlich ist die Geschichte der Entstehung der riesigen Firma. Mitte der neunziger Jahre lebte irgendwo in Mittelwest ein kleiner Postbeamter namens Sears, der auf seiner Station alles selber machte. Eines Tages läuft ein Paket Uhren von einer kleinen Firma Robbock in Chikago ein. Der Adressat verweigert die Annahme, Sears übernimmt den Verkauf, indem er die Uhren einzeln an seine Bekannten versendet, er schlägt alle Uhren los, ersucht Robbock, ihm noch mehr Uhren zu senden, verkauft auch diese, tritt schließlich mit Robbock in eine reguläre Verbindung, einige Jahre später gesellt sich Mr. Rosenwald hinzu, der in Herrenkleidung Geld »gemacht« hat, Sears und Robbock sterben, und Rosenwald bringt das Geschäft zu der jetzigen Höhe, das heißt zu einem Jahresumsatz von zweihundertachtzig Millionen Dollar.

 

8. März

Die Prediger in den Vereinigten Staaten hatten die Prohibition befürwortet, weil sie für den nachlassenden Besuch der Kirchen den Alkohol verantwortlich machten. Das Gesetz hat aber die Frequenz durchaus nicht gesteigert, ganz im Gegenteil, und nun versuchen sie, die Gotteshäuser dadurch anziehender für die Gläubigen zu machen, daß sie Tanzdielen und Kinos in den Kirchen einrichten.

 

16. März

Pasadena. Der unwiderstehliche gesellschaftliche Herdentrieb ist hier im Westen noch bemerkbarer als im Osten. Zu sagen, was nicht alle sagen, fällt bereits unangenehm auf, und nun erst zu tun, was nicht alle tun. Du hast zu essen, was auf der Karte steht, mit Spezialwünschen begegnest du äußerstem Befremden. »Man« geht zu der und der Zeit da und da hin, »man« hat das und das hübsch, reizend, angenehm oder unmöglich und meidenswert zu finden. Alle kleiden sich zur gleichen Zeit gleich, alte Damen wie junge Mädchen, junge Mädchen wie Kinder. Individuelle Lebensformen gibt es nicht. Liebhabereien darf sich nur der sehr reiche Mann gestatten. In Gesellschaft sprechen die Frauen von Dresses und Schminke, die Männer von Business. Wenn zum Beispiel ein Mann auf dem Lande am Sonntag nicht regelmäßig in die Kirche geht, ist einfach seines Bleibens nicht, er verfällt der Ächtung. Auf eigene Faust selig werden kann er nicht, auf eigene Faust reich werden, das allein kann er.

Obwohl fast die Hälfte aller Amerikaner direkt oder indirekt von Deutschen abstammt, ist von deutscher Kultur fast nichts zu spüren. Das Eigentümliche des Deutschen im Auslande: ein fast ängstlicher Übereifer, das fremde Gesicht, fremde Sitte und Mode, fremde Sprache anzunehmen. Manche fallen sogar durch eine lächerliche Bemühung auf, den hundertprozentigen Amerikaner zu spielen und, obwohl sie Deutsch sprechen und verstehen, sich zu stellen, als sprächen und verstünden sie es nicht. Die Traditionen der 1848er Revolutionäre, die einst dem jungen Amerika als deutsche Einwanderer das wertvollste geistige Kontingent stellten, sind bereits abgestorben.

 

3. April. Newyork

Abends bei Prof. S. Ein reicher Gelehrter, der eine wundervolle Bibliothek besitzt. Begegnung mit einer jungen Dame aus dem Rheinland, die seit zwei Jahren hier lebt, Szenarien für den Film schreibt, durchs Telephon kochen gelernt und nacheinander vierzehn Stellen als Haushälterin innegehabt hat. Man erzählt von einem Sammler, der in London ein altes Speisezimmer kauft, sich zur Begutachtung aus Newyork Sachverständige kommen läßt; als die Einrichtung in Newyork ausgeschifft wird, zeigt sich, daß ein kostbares Büfett beschädigt ist, man läßt einen geschickten Tischler von Ruf kommen, der besichtigt das angeblich alte Stück und erklärt mit einer gewissen Befriedigung, er könne es wohl reparieren, da er es selber hergestellt habe. Bei der Gelegenheit fällt mir auch die Geschichte ein, wie eine Frau nach dem Beruf ihres Mannes gefragt wird und sie mit unbewegtem Gesicht antwortet, er sei Wurm. Wie denn, Wurm? verwundert sich der Frager. Ja, er sei Wurm in einem Antiquitätengeschäft, das heißt, er erzeuge die Wurmlöcher in den alten Möbeln.

 

6. April

Auf der Aktienbörse. Der riesige Saal voll von kreischenden Stimmen, erregten Schritten, leidenschaftlich gestikulierenden Männern, ununterbrochenes Klappern der Nummern an den Wänden, wo auf großen Tafeln die Büros durch Zahlen aufgerufen werden, der ganze Fußboden von farbigen Papierfetzen bedeckt, eine brodelnde Luft gehetzter Spekulation. Ich sah das Gewühl von oben, im doppelten Sinn. Hier wird täglich eine Million Aktien umgesetzt, das bedeutet eine Milliarde Dollar. Es ist das Zentrum unserer Welt, wo die Preise diktiert werden und die Vermögen entstehen.

Abends bei einem Diner saß neben mir eine berühmte Verfasserin von short stories, was hier ein besonderer Beruf ist. Sie sagte, sie habe mich schon lange treffen wollen, um mir ihre Mißbilligung darüber auszudrücken, daß ich im Christian Wahnschaffe eine so unsinnige Verschwendung mit kurzen Geschichten getrieben habe, daraus hätten sich doch mindestens fünf Bände machen lassen. Was für ein Mangel an Geschäftsgeist!

 

13. April

Brand des neuen Netherland-Hotels. Ich stand in der Nacht lange auf dem Balkon vor unseren Zimmern, beunruhigt und enerviert durch die Feuersirenen und schrillen Feuerglocken. Ungeheure Funkengarben über den Wolkenkratzern. Am Morgen erfahre ich, daß reiche Amerikaner mit ihren Frauen in dem gegenüberliegenden Plaza-Hotel alle freien Fenster gemietet, ihre Bekannten eingeladen und fire parties veranstaltet hatten.

8. Kurze Schlußbetrachtung

Die Frage, die sich immer wieder in den Vordergrund stellt, lautet: Wird Europa gegen Amerika bestehen bleiben, das sein Schicksal zu werden scheint? Wir haben ein narkotisierendes Schlagwort: Amerikanismus. Es ist, wie so viele Schlagworte, ein Gefahrensignal an einer Stelle, wo es keine Ausweiche mehr gibt. Zusammenstoß also? Katastrophe? Ich glaube es nicht. Die Furcht, die von dem Begriff ausgeht, kann wahrscheinlich nur durch eine entschlossene Koalition aller geistigen Mächte beschworen werden. Aber warum überhaupt Furcht? Es handelt sich um Ausgleiche von so gewaltigen historischen Maßen, daß der zeitgebundene menschliche Wille nur geringen Einfluß darauf hat, wenn er sich nicht inspirativ, durch einen regierenden Gedanken über die Gegenwartsenge erhebt.

Auf der Rückreise zeigte uns der Kapitän des Schiffes verschiedene nautische Apparate, unter anderm wies er auf eine kleine Perle im Kompaßgehäuse hin, deren Bewegung die ganze Steuerung des riesigen Dampfers selbsttätig reguliert. Ich gestehe, daß mir bei der Veranschaulichung dieses Gesetzes der Kraftübertragung vom Kleinsten aufs Größte, vom magischen Herz- oder Gehirnpunkt auf die tote Masse, einen Augenblick lang vor Entzücken der Atem stockte. Mit diesem Bild will ich denn auch schließen und das schöne Symbol dem Nachdenken des Lesers überlassen.


 << zurück weiter >>