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Antisemitismus und Rassenfrage

Das Buch eines schwedischen Autors in Beziehung zum Kiewer Ritualmord-Prozeß

Warum sollte das Buch eines Dichters nicht tendenziös und aktuell sein dürfen? Nur der Deutsche nährt gern ein vorurteilsvolles und moroses Mißtrauen gegen den Schriftsteller, der die Übel und Laster der Zeit brandmarkt; er mag sich nicht trennen von der liebgewordenen und bequemen Vorstellung eines schwärmenden, träumenden, lebensfremden Gesellen, der ihm die überlegene Rolle des Kunstgönners und -dulders gestattet, dessen Hervorbringungen von Frauen nach Gebühr bewundert werden, der aber »ernsten Männern« im Grunde nichts zu sagen habe. Der sogenannte ernste Mann ist der Damm, an dem alle Geistesflut ohnmächtig zerschellt; der ernste Mann weiß nicht, oder will nicht wissen, daß es einen lebensfremden Dichter von Rang nie gegeben hat und nicht geben kann, daß die Phantasie und Seherkraft des wahren Dichters Welt und Menschheit sicherer umfaßt und klarer schaut, als die Augen von hundert praktisch Erfahrenen und hundert zweckhaft Forschenden vermögen, denn Welt und Menschheit sind ihm Idee und eingeborenes Bild, und das Wunder der Imagination kann durch keine Realität übertroffen werden.

Sonst wäre es kaum zu fassen, wie Aage Madelung, Schwede, Sohn eines Gutsbesitzers, Abkömmling eines alten Adelsgeschlechts, nach einem Aufenthalt in Rußland von immerhin nur wenigen Jahren fähig gewesen sein soll, das Leben, inneres und äußeres Leben der russischen Juden mit solcher Genauigkeit und Tiefe zu empfinden und zu gestalten, wie er es in seinem Roman »Die Gezeichneten« tut. Da ist kein einziger falscher Zug; nichts von Phrase und Schablone; keine psychologische Tüftelei und Notizenarbeit; nichts von Rhetorik und nüchternem Schildern; da ist die reine dichterisch-geistige Anschauung.

Das Buch ist keine Anklageschrift; es zeigt nicht jenes sentimentale Mitleid, das dem gebildeten Europäer schmeichelt, indem es ihn in seiner Trägheit befestigt; sein Verfasser ruft nicht Zeter und Mordio über die ungerechten Bedrücker und vergießt nicht Zuschauertränen beim Anblick der ungerecht Bedrückten, sondern mit wuchtiger Faust formt er ein paar Menschen, und diese Menschen sprechen nichts anderes als: seht nur, wie wir leiden, ist es möglich, dies zu ertragen? Der Dichter selbst, wie einer, der bestürzt ist von dem, was er getan hat, scheint sich aufzubäumen gegen die unerbittliche Gewalt, die in der Folgerichtigkeit seiner Schöpfung liegt, und steht unter seinen Geschöpfen als ein Mann, der solches Übermaß des Jammers nicht begreift und in einer Art von Raserei der übrigen Welt zuschreit: wie ist es möglich, daß das geschieht? wie könnt ihr es ertragen?

Es ist nur ein Zufall, daß das Buch zu derselben Zeit erschienen ist, in welcher der Kiewer Mordprozeß spielte, freilich einer, dem irgendwie etwas von Gesetz und Fügung innewohnt. Indem uns Madelung einen Einblick gewährt in die Art, wie ein »Ritualmord« inszeniert wird, indem er mittels lebendiger Gestalten und Vorgänge ein Bild gibt von dem beispiellosen Zynismus, mit welchem einige verbrecherische Regisseure den Blutdurst, die Rachsucht, die Lüsternheit und Bosheit des mißleiteten, dumpfen und unwissenden Volkes planmäßig gegen eine schwächere Gemeinschaft hetzen, macht er alle pathetischen Proteste, alle Kundgebungen der Abwehr, alle Beteuerungen der Unschuld, alle Beweise, beweglichen Klagen und naiven Argumente der einheimischen und ausländischen Juden und Menschenfreunde überflüssig.

Glaubt man denn, daß die Drahtzieher hinter den Kulissen im Ernst an ihre Beschuldigung glauben? Glaubt man im Ernst, daß politische Machenschaften und Winkelzüge von düsterster Herkunft und verwegenstem Raffinement durch Appelle an die Wahrheit, an die Humanität unwirksam werden können? Man wendet sich an die falsche Adresse, wenn man die Billigkeit einer gebildeten Gesellschaft, die Vernunft der Richter, die Gerechtigkeit der Regierenden anruft. Diejenigen, deren Blendung und Verführung durch die freche Anklage beabsichtigt wird, sind den Gründen des Herzens wie den Lehren der Geschichte gleich unzugänglich; sie verstehen nicht die Sprache der europäischen Menschheit, sie sprechen nur das simple Idiom der Wilden, der Besessenen, der jahrtausendelang Geknechteten und im Finstern Hausenden. Es ist der russische Bauer, dessen Arm von den Drahtziehern gehoben wird, der russische Bauer, dem seine eigene Not und Sehnsucht in einem Blutrausch abgelistet werden soll, damit er nicht sehe, was vor seinen Augen geschieht, und nicht spüre, was ihm an Rechten und Kräften vorenthalten und geraubt wird.

Der Jude ist sehr empfindlich gegen alle Angriffe auf seine Religion, seine Überlieferungen und die Reinheit seiner Überzeugungen. Aber um das offenbar Absurde, das böswillig Verzerrte, das undurchschaubar Verleumderische der Verdächtigungen abzuwehren, dazu fehlt es ihm an Stolz. Ich bin im Innersten davon durchdrungen, und jeder Mensch von Gesittung und natürlichem Gefühl ist es, daß ein Mord aus rituellen Motiven im Judentum niemals verübt worden ist, nie, seit Vorschrift und Kultus den Sinn und Inhalt besitzen, den wir in historischer Zeit an ihnen kennen. Angenommen jedoch, es gäbe einen solchen Mord, und irgendwem in der Welt scheint es nützlich, für diese Tat eines Fanatikers oder eines Wahnsinnigen ein ganzes Volk verantwortlich zu machen, warum sollte sich dann das ganze Volk dafür verantwortlich fühlen? Warum diese Nervosität, diese Angst, diese Unruhe? Warum diese Bittgänge um Bescheinigungen, um Wohlverhaltungszeugnisse, diese demütigen Nachfragen bei Bischöfen, Gelehrten und hohen Herren? Dünkt es dem Juden unerläßlich, sich seinen Leumund amtlich oder von den Machthabern der Gesellschaft bestätigen zu lassen, so werfe er einen Blick in die vergleichenden Statistiken der Verbrechen, ersuche um ein Dokument über seine bürgerliche Führung, verfertige eine Liste seiner Trunkenbolde, seiner Lustmörder, seiner Diebe, seiner Räuber und fordere vor dem Tribunal der Menschheit einen Spruch, ob irgendwelche Gewalttat, irgendein Rechtsbruch, den er begangen, auch nur ein Schatten von Sühne sei für die zahllosen Metzeleien, denen die inzwischen verflossenen Jahrhunderte nichts von ihrer Schauerlichkeit genommen haben, für die Einschränkungen und Erniedrigungen, die grausame Haft in abgesperrten Vierteln, die Verfemung durch Schandzeichen, und noch unlängst, so daß wir es denken können, für die Hekatomben von Geschlachteten, die Armeen von schutzlos Ausgestoßenen, deren Leben und Glück das heilige russische Reich einer Religion geopfert hat und noch opfert, die sich die Religion der Liebe nennt. Es ist dieselbe Religion der Liebe, in deren Namen die Bartholomäusnacht gefeiert, zwanzigtausend Hexen verbrannt, zweimalhunderttausend Ketzer gefoltert und zu Tode geführt, Montezuma von Mexiko auf den glühenden Rost gelegt und sein edles Volk vom Erdboden vertilgt wurde. Die Ursache solcher Taten ist aber gemeinhin viel weniger, als man denkt, die religiöse Intoleranz, sondern sie beruht zumeist in der Angst und Tücke derer, die um ihre Macht besorgt sind und um ihre Befugnisse zittern, in der Habsucht und Genußgier, welche, in ihrer Befriedigung bedroht, sich der schändlichsten Mittel ungestraft zu weiterer Stillung bedienen. So wie ein mittelalterlicher Autokrat, wenn er den Juden verschuldet war, kurzerhand das Märchen von der Brunnenvergiftung neu zurichten und verbreiten ließ und damit das Signal zu einem Massaker gab, so erwecken die unumschränkten Herren Rußlands und ihre Kreaturen den Haß des Volkes gegen dieselben Juden, um die Aufmerksamkeit von den Schäden der Verwaltung abzuleiten, den Eintritt der Revolution zu verzögern und die Massen auf einem andern Gebiet zu beschäftigen. Es ist Politik, meuchlerische Politik, und auf solche Politik mit Attesten zu antworten, die beweisen sollen, daß man artig und fromm war, ist so, wie wenn einer, der aus dem Hinterhalt mit vergifteten Pfeilen beschossen wird, ausruft: Warten Sie ein bißchen, bis ich mein Schulzeugnis geholt habe.

Wunderbar, mit wie wenig Gerechtigkeit, wie wenig Dankbarkeit und wie wenig Gedächtnis die Menschen ihr Auskommen finden. Der Jude, kann er nicht hinweisen auf ununterbrochene Dienste, die er geleistet hat, auf eine den idealen Besitztümern gehaltene Treue, die auf keine Weise zu brechen war und die immer wieder die Fähigkeit hatte, üble Einflüsse des fremden wie des eigenen Stammes zu bekämpfen und aufzuzehren? Er braucht nur günstige Verhältnisse, nur Erde und Luft, nur Freiheit und humane Übereinkunft, um fördernd, belebend, ja befeuernd zu wirken; es sind unerschöpfliche Kräfte zu sozialer und geistiger Betätigung in ihm, und Madelungs Wort, daß Rußland, um das mächtigste Reich der Welt zu werden, nichts anderes nötig habe, als seinen Juden die Menschenrechte zu geben, scheint wohl begründet. Aber der Jude selbst vergißt allzu leicht seine Mission wie auch seine Würde, wenn er eine Anklage, die in unserm Zeitalter eine Monstrosität und ein Verbrechen an dem Geist und Herzen der Zeit darstellt, als eine Wunde spürt, die ihm geschlagen wurde. Es gibt Taten des Einzelnen wie Taten der Nationen, die weder eine Geschworenenbank noch einen Areopag von Sachverständigen brauchen; sie richten sich von selbst, sonst wäre die Welt ein sinnloses Gebräu von Leidenschaften und der Mensch ein Nachtwandler im Chaos.

Geschrieben 1913

Offener Brief

an den Herausgeber einer Monatsschrift für »Kulturelle Erneuerung« (1925)

Sehr geehrter Herr Richard Drews!

Krankheit und Abwesenheit von zu Hause sind die Ursache, daß ich Ihren offenen Brief in der »Morgenröte« erst jetzt, erst heute zu Gesicht bekam. Die Tatsache, daß ich Ihnen trotz noch andauernder Unpäßlichkeit (ich befinde mich zur Kur in einem Wiener Sanatorium) sogleich antworte, mag Ihnen beweisen, wie ernst ich Ihren Appell nehme und wie wichtig es mir ist, das, was Sie in so würdiger und mich ehrender Form äußern, für meinen Teil ins klare zu stellen.

Daß ich es gleich zu Anfang sage: es überrascht mich, bei Ihnen dem Irrtum zu begegnen, als sei in mir oder in meinen Schriften irgendeine Tendenz oder nur allergeringste Neigung vorhanden, das Schädlingswesen in der Literatur und im öffentlichen Leben, insofern es von Juden ausgeht, zu verschleiern oder zu verschweigen. Davon kann gar keine Rede sein: da würde ich mich ja der Lüge vor mir selbst und meiner Sache schuldig machen. Wer sollte es besser wissen als ich, wer es schmerzlicher, nachhaltiger, beständiger fühlen? Als vor nun siebenundzwanzig Jahren, ich war damals ein junger Mensch von vierundzwanzig, die Juden von Zirndorf erschienen, herrschte unter meinen Angehörigen wie in den jüdischen Kreisen meiner engeren fränkischen Heimat helles Entsetzen über dieses »judenfeindliche« Buch (so betrachtete man es), und es fehlte nicht viel an Acht und Bann. Man macht ja immer wieder die niederschlagende Erfahrung, daß jede spezifische Nationalempfindung, um wieviel mehr jede nationalistische, durchaus keine Kritik oder Kennzeichnung verträgt, sondern lediglich lammfromme Idealisierung und servile Lobhudelei. Das ist bei den Juden nicht anders als bei den Deutschen oder Franzosen. Da liegt ja auch die Wurzel alles Chauvinismus. Wenn Sie sich die Mühe nehmen wollen, das erwähnte Buch zu lesen, so werden Sie darin finden, was Ihr offener Brief, wie mich dünkt, von mir fordert, so fordert, als hätte ich es zeit meines Lebens unterlassen: Abrechnung; glatte Abrechnung; Scheidung der Elemente, und zwar ohne Kompromiß und ohne Sentimentalität. Und so habe ich es immer gehalten, dazu trieb es mich unwiderstehlich vom ersten Tag an bis zum heutigen; erwägen Sie nur, daß ich in meiner autobiographischen Schrift die Trennungslinie mit jeder nur wünschbaren Deutlichkeit und Schärfe gezogen habe; es ist dann vielleicht sogar überflüssig, auf das Gestalthafte, also nicht unmittelbar Ausgesprochene zu verweisen, obwohl Deutsche darauf nicht groß achthaben, weil sie das innere Ohr nicht gewöhnt haben, zu hören, und das innere Auge nicht, zu schauen.

Soll ich also bemüßigt sein, immer und immer zu wiederholen, was ich entweder schon gesagt oder schon geformt habe? Ein wirkliches Kunstwerk ist ohne die Gerechtigkeit, die Sie ausdrücklich von mir formuliert wünschen, gar nicht denkbar; sie wohnt ihm naturgemäß inne, sie ist sein Sinn und Kern. Da Sie mich zu denen zählen, die die Welt durch solche Werke bereichert haben, so ist damit auch Ihre Frage eigentlich schon beantwortet: die Entscheidung, zu der Sie mich auffordern, ist längst getroffen. Es nützt freilich wenig; auch indem ich Ihnen Rede stehe, bin ich mir bewußt, daß es wenig nützt. Die Wirrnis der Stimmen ist heute zu groß. Ich leiste Ihnen Rechenschaft; Sie vermitteln meine Worte dem Kreis der Freunde, in dem Sie stehen; von einem Tag zum andern sind diese Worte verhallt und vergessen, und binnen kurzem wird man mich abermals vor irgendwelche Schranken zitieren, genau so als ob ich geschwiegen hätte. Das weiß ich aus Erfahrung.

Abgesehen von alledem hat das ganze Problem noch eine Seite, die Sie sonderbarerweise nicht in Betracht zu ziehen scheinen. So heikel und eigentümlich meine Stellung zum Judentum auch ist, eine Eigentümlichkeit, die in Worte zu fassen hier zu weit führen würde, die sich vorläufig gegen Worte sogar wehrt und die mit jeder Lebensphase, jedem Tag meiner Existenz zunimmt, von außen nach innen sowohl wie von innen nach außen, das eine steht fest, daß ich mich als zugehörig und solidarisch erklären muß, solange die Schmach des gegenwärtigen deutschen Antisemitismus dauert. Denn gleichviel, ob es der durch Schlag- und Tagworte verhetzte Straßenpöbel ist, der in seinem Namen demagogische Orgien feiert, oder aber ob Gebildete und Gelehrte ihm in der Gesinnung huldigen und diese Gesinnung mit einem Prunk- und Tugendmantel sozialkritischer oder rassenphilosophischer Provenienz behängen: es ist und bleibt als historisches Phänomen eine nationale Schande und ein Flecken auf der Ehre des deutschen Namens. Es ist das uralte Prügelknaben- und Sündenbocksystem, verbrämt mit neuen, nicht immer guten Argumenten und ausgeartet zu einer Massenpsychose. Das ist nicht bloß meine Meinung, sondern auch die der edelsten Deutschen und die aller humanen und rechtlich denkenden Ausländer über uns. Kriegs- und Nachkriegsjahre haben vielerlei Unrat und Unflat an die Oberfläche der Gewässer getrieben; nicht bloß jüdisches Händler-, Schieber- und Spekulantentum, nicht bloß die Scharen halbbarbarischer, lebensgieriger, beutegieriger, aber von einem ganzbarbarischen Autokratismus generationenlang in Ghettowildnis gefangener und infolge des Krieges unglücklicherweise auf Deutschland als das Land der Mitte losgelassener polnischer und russischer Juden. (Was hätte ich mit ihnen zu schaffen, ich, dessen Vorfahren väterlicher- wie mütterlicherseits seit sechshundert Jahren im Herzen von Deutschland lebten und arbeiteten?) Es fällt mir nicht ein, mich blind dagegen zu stellen, was jüdischer Ausbeuter- und Wuchergeist, zersetzendes jüdisches Literatentum und negatives Wesen aller Art am allgemeinen Volksleben gesündigt haben; das wäre ja Heuchelei; aber die Juden in ihrer Totalität und insbesondere als Juden dafür verantwortlich zu machen, das scheint mir, bei der Gesamtverfassung der heutigen Sittlichkeit, doch ein wenig gar zu billig und gar zu einfach. Und ein Siebzigmillionenvolk, das den ganzen seelischen und materiellen Jammer, in dem es sich befindet, den paarmalhunderttausend Juden, die es beherbergt, in die Schuhe schiebt, gleicht doch zu sehr der Schulklasse, die ein englischer Schriftsteller schildert und in der kein Schüler mehr Vokabeln lernte und Aufgaben machte, weil ein kleiner Negerknabe seit einiger Zeit auf der letzten Bank saß: dadurch, sagten sie, seien sie beeinträchtigt und gelähmt.

Und sehen Sie, mein verehrter Herr Drews, wo eine Gesamtheit getreten und beschimpft, ungerecht beschuldigt und maßlos verlästert wird, gute Menschen und schlechte, mittlere und unzulängliche, Menschen eben und daher nicht besser und nicht schlechter als andere (oder wollen Sie ernstlich, daß ich den Aberwitz, menschliche Qualitäten nach Rassen zu verteilen, ernst nehme?), da kann ich, als dieser Gesamtheit zugehörig oder doch zugezählt, mich nicht zu den Beschuldigern und Beschimpfern schlagen, solange auf der andern Seite nicht reinliche Scheidung gemacht wird zwischen Schuldigen und Unschuldigen, zwischen wahr und falsch, zwischen Recht und Unrecht. Ich wäre ehrlos, wenn ich es täte. Meine unheimliche und gefährliche Zwitterstellung, erst in der allerletzten Zeit haben sich die Spannungen gemildert, bringt es mit sich, daß ich stets nach zwei Fronten gekehrt sein muß und alles, was andere gegen einfache Bürgschaft erlangen, nur gegen den doppelten Einsatz bekomme. Erst wenn Sie sich diese ungeheure Schwierigkeit vor Augen halten, wird Ihnen das Ungenügende und Provisorische dieser Zeilen bewußt werden.

Zwei Briefe an einen deutschen Philosophen

 

Februar 1923

Geehrter Herr,

ich hatte bei angefangener und leider nicht regelmäßig fortgesetzter Lektüre Ihrer Schrift einen sehr bedeutenden Eindruck von deren Inhalt gewonnen, wollte Ihnen aber erst schreiben, nachdem ich das ganze Werk mit der ihm zweifellos gebührenden Sorgfalt gelesen haben würde. Dies hätte ungefähr noch bis Mitte März gedauert, denn bis dahin hält mich eigene dringende Arbeit fest und hindert mich an der gebotenen Sammlung für fremde. Rechnen Sie noch hinzu eine ungeheure Überbürdung mit Korrespondenz (so wie Ihre Angelegenheit harren viele der Erledigung), so werden Sie die Verzögerung vielleicht entschuldigen.

Ihr Brief zwingt mich aber nun zu einer rascheren Antwort, die sich leider mit einem andern Gegenstand beschäftigen muß als mit Ihrem Werk. Es tritt mir darin nicht der Mann entgegen, dem ich über das »Wesen der Form« hinweg gern die Hand gereicht hätte, und der Grund ist leicht einzusehen.

Zunächst fragte ich mich verwundert, weshalb Sie sich überhaupt an mich gewandt haben. Meine Bücher scheinen Sie nicht zu kennen, was ja weiter kein Übelstand ist, denn ich bin darin keineswegs eitel. Sie berufen sich auf das kleine autobiographische Werkchen, das nur als Anhängsel und Kommentar zu den übrigen Schriften zu betrachten ist, etwas aussagend eigentlich nur für den, der sich eben mit diesen beschäftigt hat. Aber auch diese Schrift können Sie nicht gelesen haben, sonst müßten Sie ja wissen, daß ich mit dem Zionismus nichts, aber auch nichts zu schaffen habe, und daß es mir also sonderbar erscheinen muß, wenn Sie eine Gemeinsamkeit in der Anschauung darüber ohne weiteres voraussetzen. Hierin muß ich Sie gänzlich enttäuschen. Hierin hätte Sie auch Walther Rathenau enttäuschen müssen, und ich könnte Ihnen wohl die »eisige Gleichgültigkeit« erklären, über die Sie sich beklagen, denn er hatte für Ideen und Ziele des Zionismus, soweit sie nicht rein praktisch-humanitärer Art sind, genau so wenig übrig wie ich. Genau wie ich fühlte er sich als Deutscher, genau wie ich fühlte er sich von den Deutschen zurückgestoßen, verkannt und für alle Hingebung und Opferbereitschaft unbelohnt. Über sein Ende brauchen wir uns dabei nicht zu unterhalten; es ist ein Stück deutscher Geschichte.

Ich hätte gern sein Gesicht gesehen, als er Ihr Wort lesen mußte, »daß es Zeit sei, die Heimkehr der Juden in das Land ihrer Väter vorzubereiten«. Ein wunderliches Ansinnen, in der Tat, und in wunderlicher Stunde, während er im Begriff war, sein Leben für Deutschland in die Schanze zu schlagen! Und da Sie es ja, anders kann ich es nicht lesen, verblümter- oder unverblümterweise auch an mich stellen, so will ich Ihnen zuvörderst einmal sagen, daß meine Vorfahren nachweisbar seit mindestens fünfhundert Jahren im fränkischen Land saßen, und daß ich gern die Probe machen möchte, wieviel autochthon sich brüstende Deutsche, Sachsen, Pommern, Rheinländer, brandenburgisch-französische Emigranten das gleiche von ihrer Familie behaupten dürfen. Daß es den Juden nicht gelungen ist, sich dem Körper der Nation tiefer zu vermischen, ist nicht die Schuld der Juden. Es blieb aber erst dieser herrlichen Jetztzeit vorbehalten, einer Genossenschaft, die ursprünglich von fremder Art sein mag, blutmäßig oder religionsgeschichtlich, die äußere Zugehörigkeit zu Sprache, Landschaft und Volkstum trotz viele Male bewiesener innerer Zugehörigkeit beharrlich abzusprechen. Es wäre anmaßend von mir, wollte ich einen Mann von Wissen, wie Sie es sind, auf die blutige Geschichte der Unterdrückungen, Ausbeutungen, Verfolgungen, Vermögenserpressungen, Martyrien und abergläubischen Vorurteile hinweisen, über die sich jeder ehrlich Forschende in den erstbesten Chroniken und Historien irgendwelcher unbefangener Autoren belehren kann. Das zu sagen und zu beweisen bin ich müde, und man muß es nicht von mir verlangen. Ebenso erschiene es mir demütigend und lächerlich, auf die Reihe der selbstlosen humanen Genien zu deuten, Künstler, Gelehrte, Dichter und Forscher, von Montaigne bis Spinoza, von Mendelssohn bis Bizet und Gustav Mahler, die der Menschheit immerhin einige geistige und seelische Nahrung gereicht haben. Zur Führerrolle unfähig? warum? Ein köstliches Diktum, ungefähr so beweisbar wie der famose Ausspruch, daß die nationale Blüte in Frankreich und Spanien erst nach der Vertreibung der Juden eingesetzt hätte. Für Spanien trifft genau das Gegenteil zu, wie man weiß, zumindest was gewisse Ideale von persönlicher Freiheit und Würde betrifft, die bei uns freilich wieder in Verlust zu geraten scheinen. In Deutschland triumphiert jetzt ein Begriff von Rasse, der wie an Absurdität, so an Elastizität das Mögliche und Unmögliche zuwege bringt und vor allem jeder Demagogie und jedem Irrwahn Vorschub leistet. Erfunden von dem mittelmäßigen Franzosen Gobineau, propagiert und hochgezüchtet von dem frenetischen Renegaten Chamberlain, haben es die Deutschen in alter Blindheit und abhängiger Fremdenanbetung zu ihrem Schlachtruf gemacht, und keine Vernunft, keine Menschlichkeit, keine geschichtliche und philosophische Wahrheit kommt gegen das lapidar-bornierte: »der Jude wird verbrannt« auf. Wo in aller Welt ist denn diese »Macht der Juden«, von der Sie mit soviel düsterer Überzeugung sprechen? Liegt sie etwa in den Händen jener russischen Umstürzler, die ein Ergebnis jahrhundertelanger zarischer Unterdrückung und nur die Uhrweiser auf einem Zifferblatt sind, dessen Räderwerk wir kaum kennen? Die zufällig Wachen in einem trägen und zerschlagenen Volk verantwortlich machen für den Weckruf: das heiß ich mir Gerechtigkeit! und die zerstörerische Arbeit eines Dostojewski, die Tolstoische Lehre des Urchristentums, die der kommunistischen Verwirrung die Bahn geebnet hat, die zählen Sie nicht; das wäre nicht bequem. Oder finden Sie diese Macht bei den paar Bankhäusern in der Wallstreet, die genau so Exponenten eines Systems und einer elementaren Bildung des Sozialkörpers sind, wie die Armeen Frankreichs und die Kolonialpolitik Englands? Haben etwa die Juden den Krieg gewollt oder herbeigeführt oder ihn geführt? oder den Frieden von Versailles geschlossen? Meinen Sie unter den Mächtigen die paar armen Federfuchser oder sozialistischen und spartakistischen Schreier oder die paar tausend galizischen Maulwürfe, die das europäische Erdbeben aus ihren schmutzigen Löchern vertrieben hat? Ich höre sehr viel von jüdischem Wucher, aber selten hör ich von agrarischem Wucher, von dem der ungarischen Großgrundbesitzer etwa, der eine der Ursachen des Kriegs war, wie Sie von jedem Unterrichteten hierzulande erfahren können. Wer wie ich seit Jahren unter Bauern lebt, der weiß, was Wucher im kleinen ist, Wucher mit Brot und Korn und Vieh und Schmalz und Erde und Haus und Hof; aber: der Jude wird verbrannt. Wie lange soll dieser Wahnsinn noch dauern, die Verhetzung und Verblendung und Lüge, die zum Himmel stinkt? Ich weiß, daß es vergeblich ist, dawider zu kämpfen; ich sehe, wo wir stehen, wenn Männer wie Sie in den Fesseln liegen, und was ich hier schreibe, geschieht mehr unter einem Pflichtgebot als weil ich Hoffnung habe, etwas auszurichten. Der Wall ist eisern, die Waffen sind vergiftet, das Vorurteil ist unbeugsam. Dabei dieser ewige ergötzliche Widerspruch. Sie sagen wörtlich: Die persönlichen Erfahrungen, die ich mit Juden machte, waren stets solche der Zuneigung und tiefen Verstehens. Das kann man von fast allen Dichtern, Künstlern und Philosophen hören. Trotzdem sollen die Juden verschwinden. Womöglich vom Erdboden natürlich. Denn was sollen sie allesamt in dem kleinen Palästina? Einen neuen Nationalstaat aufrichten zu den andern künstlichen von Englands Gnaden? Sich von Türken, Arabern, Griechen, Persern langsam massakrieren lassen? Wahn, Wahn! Da Sie mich also forthaben wollen, was bedeutet es, daß Sie sich mit mir verbünden wollen? daß Sie mich für eine Gemeinschaft gewinnen wollen, der die erste Bedingung aller wahrhaften Gemeinschaft fehlt, nämlich Humanität? Wünschen Sie, daß ich Ihnen zur Beschaffung der Mittel behilflich bin (dazu waren und sind ja die Juden seit jeher gut genug), um mir dann, im ideellen Sinn, den Fußtritt zu geben, den Sie den Juden im allgemeinen zu versetzen entschlossen sind? Ich verstehe nicht. Ich lasse mich nicht als Ausnahme statuieren, solange man mich mit Schulmeisterhochmut aus der Regel weist.

Sie haben recht: die Menschheit ist nur ein Gelächter wert.

 

April 1923

Lieber Herr B.,

daß ich Ihre letzten Briefe und Zuschriften so lange nicht beantwortet habe, ist in einer schier unerträglichen Überbürdung mit Briefpflichten aller Art begründet, in einer vorübergehenden Vortragsreise nach der Schweiz und vornehmlich in der Beendigung meines Werkes. Jetzt erst kann ich wieder ein wenig Atem schöpfen, und heute, als ich beschloß, Ihnen zu schreiben, kam Ihr Brief vom 31. März.

Auf alles, was Sie schreiben, wäre so viel zu sagen, daß ich vollkommen daran verzweifle, dafür den Raum, die Zeit und die Kraft zu gewinnen. Tief und merkwürdig bewegt hat mich der Brief an Rathenau, und er gab mir auch den ersten Impuls zu einer Erwiderung. Aber vergeblich suche ich in dem wahrhaft ungeheuern Gebiet dieser Fragen und Probleme einen Platz, wo ich stehen könnte. Meine Gabe, mich auseinanderzusetzen, ist gering, so gering fast wie die der Rede. Alles, was ich vermag, ist zu schauen und Erfahrungen schauend zu gestalten. »Schriftsteller« bin ich jedenfalls keiner.

Eine frühere Fassung eines Briefes an Sie liegt vor mir, in welcher ich Ihnen mit einer gewissen Ungeduld zu erklären versuche, weshalb Ihre Briefe anfangs etwas so Verletzendes für mich hatten. Sie schlugen zuweilen einen apodiktischen Ton der Belehrung an, der mich reizte und abstieß; es war in Ihren Worten nicht selten ein unbeugsames Schulmeistern, das Sie wahrscheinlich gar nicht beabsichtigten, dessen Eigentümliches aber darin bestand, daß Sie über mich hinüber, nicht aber zu mir sprachen. Ich sagte in dem Entwurf jenes Schreibens, daß ich Ihre Unbedingtheit, Ihre geistige Unerbittlichkeit nicht nur begriffe, sondern daß sie etwas Erschütterndes für mich habe, daß ich Züge darin fände, die meinem Wesen verwandt seien. Ich fügte aber dann hinzu, daß mir bei alledem ein wenig die Liebe fehle, und ich fragte Sie, ob das nicht ein deutscher Fehler überhaupt sei: der Mangel an Cortesia in geistigen Dingen. Diese finstere Ungeduld, diese gepreßte und hochgespannte Leidenschaftlichkeit (was ja nicht ganz dasselbe ist wie Leidenschaft), die das Angesicht des Partners nur genetisch mißt und abschätzt, treibt in die eisige und unfruchtbare Höhe der Ideologie hinauf und erklärt dem lebendigen Leben unbewußt den Krieg. Ich wollte Ihnen dafür Belege aus Ihren Briefen zitieren, so z. B. die seltsame Zurückweisung meiner Worte: ich hätte mit dem Zionismus nichts zu tun; Sie beriefen sich auf die Seele (auf meine Seele!), die mehr von mir wüßte als ich selbst. Richtig. Aber das gerade hätten Sie mir nicht sagen sollen, denn hierin, wenn überhaupt irgendwo, weiß ich Bescheid. Ich hätte eher erwartet, daß Sie sich erkundigen würden, welche Gründe ich zu einer solchen Behauptung hätte.

Inzwischen ist mir das alles zu gering, zu klein geworden. Erstens sehe ich, daß es Ihnen in einem ungeheuren Maße Ernst ist, und das entwaffnet mich nicht nur, sondern es zwingt mich zu einem Ernst gleichfalls, der der Sache würdig ist. Zweitens kommt man mit gegenseitiger Kritik nicht einen Schritt weiter, und drittens hat ja Ihr heutiger Brief einen ganz andern Klang.

Lassen Sie mich noch einmal über die Judenfrage sprechen. Ich kann es nur von meinem persönlichen Standpunkt, von meinem Erlebnis aus tun. Aber versuchen Sie mich zu hören. Ein Erlebnis wiegt vielleicht unter Umständen schwerer als eine Idee oder kann auf einem gewissen Gipfelpunkt die Bedeutung einer Idee gewinnen. Es kommt nur darauf an, was an Gestalt daraus erwächst.

Zuerst etwas Allgemeines. Ich glaube, der Grundirrtum, dem Sie verfallen sind, ist der, daß Sie die Juden als ein Volk ansprechen. Das sind sie nicht, das können sie niemals wieder sein. Die Juden sind eine Summe von Individuen. Darin liegt ihr Verhängnis, darin liegt ihre europäische Vergangenheit, darin liegt ihre Menschheitszukunft, Glück oder Untergang. Gelingt es den Juden heute, einen Staat zu gründen, so werden sie vielleicht eine Nation sein, vielleicht als »Volk« gelten und anerkannt sein; Juden werden sie dann aufgehört haben zu sein. Wohlfahrt, nationale Bindung, äußerliches Gedeihen, einen Rang zwischen den andern zahlreichen nationalen Gebilden dieser Vernunftzeit werden sie sich möglicherweise erringen; ihre weltgeschichtliche Mission aber ist damit zu Ende. Ich empfehle Ihnen, einmal die »Geschichte des Volkes Israel« von Renan zu lesen, ein Werk von ganz erstaunlicher Gründlichkeit und Tiefe. Sehr schön, wie er nachweist, daß alle die hohen gesetzgeberischen und moralischen Anlagen des Volkes erstarrten und erstarben, als sie aufhörten, Nomaden zu sein, und in Kanaan sich staatlich und seelisch zur Ruhe setzten. Ich möchte mich darüber nicht weiter verbreiten; was ich meine, wird Ihnen ja ziemlich klar sein: alles, was vom Begriff des Nomadischen ausgeht und ausgehen kann, das Sendbotentum, das Verkündertum, Deutertum, Vermittlertum, die Unseßhaftigkeit als universellen Schutz gegen Quietismus in jeder Form. Ich gebe zu, das führt weit, und man muß vielleicht ein visionäres Wissen vom Gang der Völkergeschichte und -geschicke haben, um es gelten zu lassen; aber ich hatte solche Augenblicke einer Vision, das darf ich ruhig sagen. Man schlage die Juden tot, man treibe sie aus, man mache sie zum Kinderschreck und zum Gegenstand der Verachtung: das alles würde minder verhängnisvoll für die Kulturmenschheit sein, als wenn sie selbst sich aus der Rolle ausschalteten, die sie durch Berufung und Schicksal bisher in der Welt gespielt haben.

Dies ist meine unerschütterliche Überzeugung. Und was nun das Persönliche anlangt, so steht die Sache mit mir so. (Es auszudrücken fällt mir schwer; es ist fast für mich selbst noch ein undurchdringliches Geheimnis, zum Teil wenigstens.) Ich habe mich ein ganzes Leben lang mit diesem Problem herumgeschlagen, es von allen Seiten betrachtet, von allen Seiten durchleuchtet, habe seine Qualen und Verstrickungen bis an die Grenzen des Ertragbaren erlitten, die sozialen, die psychischen, die blutmäßigen, die geistigen Fundamente und Zusammenhänge erforscht, habe zuletzt noch in einem öffentlichen Bekenntnis eine Zugehörigkeit festgestellt, die zu konstatieren ich mich mehr aus äußeren, aus Stolz und Anstandsgründen, als aus inneren verpflichtet fand – um schließlich die Entdeckung zu machen, daß ich eigentlich im letzten und tiefsten Sinn das Opfer eines Aberglaubens war. Es kam nach und nach die bestimmte Erkenntnis eines großen Irrtums über mich; es kam nach und nach so, daß alle diese starren, bösen, hindernden, giftigen Vorurteile wie Krusten von mir abfielen, und ich sah, daß dieses Judesein, wie es in der allgemeinen Auffassung bestand, für mich keine Gültigkeit mehr hatte. Wohlverstanden, dieser Vorgang betrifft ausschließlich und allein meine eigene Person; ob er auf mich selbst beschränkt bleiben oder Folgen haben wird, ob er einmalig und isoliert oder der Beginn und Anstoß einer Wandlung überhaupt, das weiß ich nicht, interessiert mich auch vorläufig nicht; jedenfalls ist es so. Und es ist nicht etwa eine billige Losschraubung und verzweifelte Ausrede; wollte ich Ihnen den überaus schmerzlichen Prozeß in allen seinen Phasen schildern, so brauchte ich dazu ein ganzes Buch; es kann also von einer eingehenden Analyse keine Rede hier sein. Sie sind auch der erste und einzige Mensch, dem ich davon Mitteilung mache. Muß ich betonen, daß das nicht das mindeste mit Assimilationsgelüsten zu tun hat? Ich will ja nicht in eine andere Gestalt schlüpfen oder mir eine andere Zugehörigkeit erreden oder erkaufen; ich will bleiben, was ich bin, und werden, wozu ich bestimmt ward. Es verlangt mich auch nicht, damit hervorzutreten; es wird schon irgendwie seinen Weg nehmen und zum Lichte kommen. So konnte ich also nur ein Achselzucken haben, als Sie mir vom »Land meiner Väter« sprachen. Ich habe nicht einmal den Hauch einer Empfindung dafür; jeder italienische Marktflecken bedeutet mir mehr, mehr Bindung, mehr Bild, mehr Wesen. Hat irgendwer in der Welt das Recht, mich, mein Bewußtsein, meine Form um siebenhundert oder tausend Jahre zurückzuwerfen? Auszulöschen, was durch die Sprache geschlechterlang in mich geflossen ist, durch die Landschaft, durch die Geschichte, durch das stumme Miterleben Jahrhundert um Jahrhundert? Sie können mich zu einem Exilierten machen, gewiß, aber zu einem Palästinenser machen können Sie mich nie und nimmermehr. Ich leugne nicht den Blutstrom, den gewaltigen des Ostens, der mich trägt und nährt; ich bin stolz darauf, ich glaube, daß er Reichtümer enthält, vermittels welcher ich spenden und schenken kann; aber warum sollte mich der gerade entheimaten dürfen? Sind nicht etwa die Hunderttausende ausgewanderter Deutscher heute vollgültige und vollgültig genommene Amerikaner, auch dann, wenn sie ihr Deutschtum vertreten? Sollen immer und immer wieder nur die Juden die Ausnahmen von allen menschlichen, sozialen, biologischen Gesetzen und humanen Übereinkünften sein? Warum? Wie viele Deutsche gibt es nicht, die noch vor hundert, vor fünfzig Jahren Slawen, Romanen, Skandinavier, Kelten waren und nun mit dem dicksten Knüppelnationalismus Deutschlands Antlitz verunstalten? Aber das führt uns ja wieder in die Niederungen. Es hat dieses ganze Gerede über »die« Juden, »die« Deutschen keinen Sinn und Zweck. Es sind, angewandt auf soziale Erscheinungen, Hilfskonstruktionen und Ablenkungstheorien. Ich kenne nur Menschen. Ich weiß nur von einzelnen Menschen. Für mich hat Gültigkeit nur die Gestalt; die Kategorie ist nicht meine Sache. Und wenn Sie z. B. behaupten, die Juden hätten kein Naturgefühl, so könnte ich Ihnen, ohne mich eine Sekunde zu besinnen, ein halb Dutzend Juden nennen, die an großer, andächtiger, durchdringender Naturempfindung ihresgleichen suchen. Lesen Sie einmal das Wintergespinst, eine Novelle von Moritz Heimann; betrachten Sie einmal die Reiter am Meer von Liebermann; lassen Sie sich die dritte (oder ist es die vierte?) Symphonie von Gustav Mahler vorspielen; wenn da überall nicht Naturgefühl ist (und in den Künstlern drückt sich ja nur gesammelt und verklärt aus, was in den übrigen gärt und webt), so ist das Wort selbst eine Lüge. Nicht anders steht es mit dem, was Sie als die Befähigung zum Führer bezeichnen. Sie beruht auf Erziehung, Zucht, Auslese, Notwendigkeit und Erleuchtung; sie einer Menschengruppe zu- und der andern absprechen, heißt einem Irrwahn huldigen. Es kann nur geschehen, wo die wirkliche Menschenliebe fehlt. Es kann nur geschehen in einer Welt, die so verfinstert ist durch Ideologien, wie die mittelalterliche durch die Scholastik und den Glauben an Hexen und Goldmacher. Eine kommende Zeit wird es erkennen. Liebe, das ist es, was den Deutschen heute fehlt, glauben Sie mir; der tiefe, leuchtende Eros ist ihnen unbekannt, daher diese sonderbare teutonische Hybris, der man jetzt so häufig begegnet. Sollten Sie es nicht wissen, Sie, der Sie dem Eros einen so hohen Platz in Ihrem Gedankengebäude eingeräumt haben? Was es mit der großen Masse der Juden in Europa auf sich hat, darüber gebe ich mich keinerlei Täuschung hin; die westlichen Juden, als gesellschaftlicher Komplex, werden an ihrer inneren Leere und Glaubens-, Religionslosigkeit (Religion im höchsten Sinn gefaßt) zugrunde gehen, die östlichen werden durch Nationalisierung als Juden zu existieren aufhören; übrigbleibt dann eine neue Humuserde, die neuen edleren Menschenwuchs hervorbringen wird, wenn die Zeit erfüllt ist.

Mein lieber Herr B., das alles sind sehr private Bekenntnisse, Bruchstücke eines Seins. Sie wünschten von mir, daß ich Ihnen mit meinen Erfahrungen beistehe. Sie sind, nach allem, was ich bis jetzt von Ihnen weiß und fühle, ein äußerst einsamer Mensch, der in seiner Vereinsamung, wie mir scheinen will, oft nach Menschen greift, die seiner nicht recht würdig sind. Was in Ihnen sich formt, geht mir unmittelbar nahe, aber eine lebendige Verbindung zwischen uns ist nur dann möglich, wenn wir uns über das Thema, das den wesentlichen Inhalt meines heutigen Schreibens bildet, verständigen können. Das heißt, wenn Sie imstande sind, sich meiner Ansicht zu nähern. Ich sage Ihnen dies in aller Aufrichtigkeit; was hätte denn sonst auch Sinn.

Der Jude als Orientale

Brief an Martin Buber, bezüglich einer Feststellung in der Schrift: »Der Literat oder Mythos und Persönlichkeit«

Lieber Martin Buber,

Sie haben mich gebeten, ich möge eine auf Juden und Judentum sich beziehende Stelle in meiner Schrift »Der Literat oder Mythos und Persönlichkeit« Im zweiten Teil dieser Sammlung. zugunsten einer Sammelschrift in ausführlicherer Weise, als es dort geschehen ist, also gleichsam erläuternd oder exemplifizierend, der Betrachtung würdigen und dabei das Angedeutete, Hingeworfene und scheinbar Beiläufige rechtfertigen, festigen und klarstellen.

Es handelt sich um folgenden Passus: »In der Existenz des Juden gibt sich die schärfste Gegensätzlichkeit geistiger und seelischer Eigenschaften kund. Er ist entweder der gottloseste oder der gotterfüllteste aller Menschen; er ist entweder wahrhaft sozial, sei es in veralteten, leblosen Formen, sei es in neuen, utopischen, das Alte zerstörenden, oder er will in anarchischer Einsamkeit nur sich selber suchen. Entweder ist er ein Fanatiker oder ein Gleichgültiger, entweder ein Söldner oder ein Prophet. Das Schicksal der Nation, ihre Vereinzelung unter fremden Nationen, ihre ungeheuren wirtschaftlichen und geistigen Anstrengungen im Kampf gegen die widrigsten Umstände, der fortwährende Zustand der Abwehr, der Selbstbehauptung, das plötzliche Erwachen am Morgen eines Kulturtags, das leidenschaftliche Ergreifen der Hilfsmittel und Waffen dieser Kultur und die darauf erfolgte gewaltsame Unterdrückung und Zerschneidung der Tradition, all das hat die Juden als ganzes Volk zu einer Art von Literatenrolle vorbestimmt. Wo sich hingegen der Einzelne wieder des großen Zusammenhangs bewußt wird, wo er im Schoß der Geschichte, der Überlieferung ruht, wo urewige Symbole ihn tragen, urewige Blutströme ihm Adelsbewußtsein verleihen und zugleich alles Errungene und Erworbene organisch damit verschmilzt, da mag er wohl den Weg zu Göttlichem leichter als andere finden. Der Jude als Europäer, als Kosmopolit ist ein Literat; der Jude als Orientale, nicht im ethnographischen, sondern im mythischen Sinne, mit der verwandelnden Kraft zur Gegenwart, die er besitzen muß, kann Schöpfer sein.«

So schrieb ich im Jahre 1909. Diese Überzeugung hat sich seitdem verstärkt, ja, sie ist zu einer Art von Maxime geworden, einem Maßstab, einem geistigen Gesetz. Allein ich sehe wohl, daß hier eine gewisse Zusammenfassung des Ausdrucks und Weitmaschigkeit der Schlüsse denjenigen befremden muß, der in diese spezifische Abbreviatur nicht eingeweiht ist und die Worte nur nach ihrem engsten Verstande fragt. Ich will daher versuchen, mehr in der Fläche zu bleiben.

Wie Ihnen vielleicht noch erinnerlich ist, hatte ich in jenem Buch den Literaten als den vom Mythos losgelösten Menschen bezeichnet, und es war damit, nach meinem Dafürhalten, ziemlich viel Licht auf diesen Begriff gefallen, obgleich ich zugeben muß, daß nun auf einmal der »Literat«, der »Gottlose« nur noch in einer sehr lockeren Verbindung mit der »Literatur« stand und mehr als Gegensatz zum schöpferischen Menschen fixiert war. Dieser Gegensatz führte auf logischem Wege auch zu dem zwischen dem Juden als Europäer, als Kosmopolit und dem Juden als Orientalen.

Es ist der Gegensatz zwischen Verwelkung und Fruchtbarkeit, zwischen Vereinzelung und Zugehörigkeit, zwischen Anarchie und Tradition. Sich von der Vergangenheit abzuschneiden, ist das leidenschaftliche Bestreben des auf sich selbst gestellten Juden, gerade weil ihn Milieu, Reminiszenz, Gewöhnung und Verpflichtung mancherlei Art äußerlich oder innerlich an die Vergangenheit binden. Aber er findet in der Bindung das Gesetz nicht, und so zerstört er sie und wird Einzelner, Individualist. Er hat nicht Phantasie genug, um zwei nur dem Scheine nach verschiedene Formen der Existenz in seinem Gemüt zum Einklang zu bringen, und so leugnet er die eine, die wurzelhafte, und macht die andere zu einem Zufallsprodukt, wähnend, er sei dessen Lenker und Beherrscher. Ein Wahn, der nicht verhindert, daß er die tiefe Unsicherheit seiner Position beständig spürt; weil er sie spürt, will er sie desto glaubhafter machen und greift daher zu Mitteln, die seinen Charakter kompromittieren, indem sie sein Selbstgefühl nur in der Gebärde steigern. Alles wird Gebärde an ihm, alles Überhitzung, alles Manie. Ihm ist sozusagen die Idee seines Daseins geraubt, infolgedessen muß er jeden Erfolg, jede Wirkung, jede Förderung seiner eigenen isolierten Persönlichkeit abzwingen, und so besitzt er auch nichts weiter als eben diese Persönlichkeit, deren Sklave und Opfer er ist. Er muß sich behaupten, er muß sich durchsetzen, und da er ohne lebendige Wechselwirkung und ohne tiefere Zugehörigkeit lebt, muß er seine Anlagen und Fähigkeiten überspannen und bietet ein jammervolles Schauspiel beständigen Krampfes, beständiger Gier, beständiger Unruhe.

Wir kennen sie ja, lieber Freund, wir kennen sie und wir leiden an ihnen, diesen tausenden sogenannten modernen Juden, die alle Fundamente benagen, weil sie selbst ohne Fundament sind; die heute verwerfen, was sie gestern erobert, heute besudeln, was sie gestern geliebt, denen der Verrat eine Wollust, Würdelosigkeit ein Schmuck und Verneinung ein Ziel ist. Sie geben sich nur hin, wo sie sich verlieren können, und bewundern nur dort, wo sie sich verstoßen fühlen. Im Grunde ihres Herzens glauben sie bloß an das Fremde, das Andere, das Anderssein, erklärlicherweise, denn als Entgötterte sind sie ja unverwandelbar und suchen vermittels eines Salto mortale oder einer Ekstase die Ergänzung im Extrem. Die in der Gier und im Krampf vergeudete Seelenkraft macht ihr Gemüt alsbald arm und öde und drängt sie auf das Feld steriler Spekulation, d. h. sie treiben Kritik um der Kritik willen, der Formel und dem Urteil zuliebe. Aber sie leiden auch selbst, und ihr Leiden ist ein tödliches, das wissen sie so gut wie wir, die wir ihnen nur ins Antlitz zu schauen brauchen, um den Tod darin zu erkennen.

Der Jude hingegen, den ich den Orientalen nenne – es ist natürlich eine symbolische Figur; ich könnte ihn ebensowohl den Erfüllten nennen oder den legitimen Erben –, ist seiner selbst sicher, ist der Welt und der Menschheit sicher. Er kann sich nicht verlieren, da ihn ein edles Bewußtsein, Blutbewußtsein, an die Vergangenheit knüpft und eine ungemeine Verantwortung der Zukunft verpflichtet; und er kann sich nicht verraten, da er gleichsam ein offenbartes Wesen ist. Er ist kein Leugner, sondern ein Bestätiger. Er ist niemals Sektierer, niemals Partikularist, er hat nichts von einem Fanatiker, von einem Prätendenten, von einem Zurückgesetzten, er hat alles innen, was die andern außen suchen; nicht in verbrennender Rastlosigkeit, sondern in freier Bewegung und Hingabe nimmt er teil am fortschreitenden Leben der Völker. Er ist frei, und jene sind Knechte. Er ist wahr, und jene lügen. Er kennt seine Quellen, er wohnt bei den Müttern, er ruht und schafft, jene sind die ewig wandernden Unwandelbaren.

Er ist, in solcher Vollkommenheit gesehen, vielleicht mehr eine Idee als eine Erscheinung. Doch sind es nicht die Ideen, durch welche die Erscheinungen hervorgebracht werden? Jede menschliche Wirklichkeit ist das Erzeugnis einer Idee, und die bloße Ahnung des Sternes, der über dem Sumpf des Rationalismus leuchtet, ist wirklicher als das behagliche Quaken des Frosches in seiner Mitte.

Rassenantagonismus

An eine amerikanische Zeitschrift

Wer in der Frage des Rassenantagonismus die Situation mit unbefangenen Augen betrachtet, wird, soweit deutsche Verhältnisse zur Debatte stehen, mit geringer Hoffnung in die nächste Zukunft blicken. Das Prügelknaben- und Sündenbocksystem ist zu seiner vollen Blüte gediehen, und wenn man Zeuge ist, täglicher Zeuge, welcher Mittel sich die politische Propaganda bedient, muß man sich immer erst klarmachen, daß man wirklich im zwanzigsten Jahrhundert lebt und nicht etwa im sechzehnten oder siebzehnten, wo alle Formen und Arten des Aberglaubens sich kumuliert gegen ein fast vollkommen wehrloses Volk kehrten und die herrschenden Mächte in bewußter oder unbewußter Berechnung die latente Unzufriedenheit der Nation immer wieder und mit sicherem Erfolg auf die Juden ablenkte. Das ist in groben Zügen genau die Lage. Das vom Krieg zermalmte, durch Hunger und Blockade entkräftete, durch vieljährige Enttäuschungen zerstörte Land hat seine Urteilskraft und die Klarheit des Blickes verloren und wird ohne Widerstand den aufpeitschenden Lügen von Demagogen und Desperados zur Beute. Ich habe, in früher Ahnung der Entwicklung, schon in meinen ersten Büchern dagegen anzukämpfen versucht, allerdings nicht durch Wort und Predigt, sondern durch Gestalt und Idee, ein mehr als dreißigjähriges Wirken hat an dem Schrecken der Tatsachen wenig zu ändern vermocht; wie sollte es auch, ein solches Wirken greift mehr in die Zukunft als in Zeit und Gegenwart und antizipiert Zustände, an denen wir, ich und meinesgleichen, eben auf diese Art bauen. Als ich vor vier Jahren mein autobiographisches Werk »Mein Weg als Deutscher und Jude« veröffentlichte, erhielt ich aus dem gegnerischen Lager Hunderte von Zuschriften zum Teil sehr merkwürdiger Art; manche waren geradezu erschütternd durch den Ausdruck der Bestürzung oder sogar der Erweckung; Professoren, adlige Damen, junge Menschen schrieben in seltsamer Naivität: wir wußten wirklich nicht, daß das alles so ist, Sie haben uns eine Binde von den Augen gerissen, wir werden von nun ab die Dinge ganz anders betrachten usw. Da schöpfte ich Hoffnung. Ich kann nicht sagen, daß diese Hoffnung in mir ganz vernichtet ist, da ich sonst an der menschlichen Natur verzweifeln müßte, aber gegenwärtig liegt es wie eine ungeheure schwarze Wolke über uns. Für das Phantom, das zu bekämpfen es gilt, hat der Kulturhistoriker Gothein, indem er das Wesen der spanischen Inquisition analysiert, einen treffenden Namen gefunden: der Blutdünkel. Darin begreift sich alles, was heute an Rassengegensätzen und nationalem Fanatismus die Welt verfinstert. In zweihundert Jahren wird man darauf mit derselben schaudernden Verwunderung zurückblicken, wie wir auf die Hexenprozesse. Solche Konstatierung enthebt mich, enthebt keinen unter uns der gebieterischen Pflicht, für die Vermenschlichung der Menschheit zu wirken und der verhängnisvollen Selbstvergiftung, der die weiße Rasse unterliegt, mit allen Mitteln, allen Kräften des Geistes und des Herzens entgegenzuhandeln.


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