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Stevenson und Fielding

Wenn man die europäischen Literaturen überblickt, behaupten sich, in bezug auf epische Kunst, neben den Russen an vornehmster Stelle die Engländer. Freilich, der Gipfel der Kurve scheint gegenwärtig überschritten zu sein oder doch einer jener Hochpunkte, von denen das achtzehnte wie das neunzehnte Jahrhundert eine stattliche Anzahl hatten, von Richardson und Fielding zu Dickens und Thackeray, von da zu Meredith, Thomas Hardy und Josef Conrad. D. H. Lawrence, der von jungen Menschen drüben angelegentlich empfohlen wird, kenne ich zu wenig, muß aber allerdings gestehen, daß ich seinen Roman »Der Regenbogen«, nachdem ich mich durch einige hundert Seiten gearbeitet hatte, nicht zu Ende zu lesen vermochte. Das Buch hat mich gelangweilt, obwohl seine Anhänger sagen, es behandle erotische Probleme mit einer für einen Briten ungewöhnlichen Kühnheit. Vielleicht war es gerade das, was mich langweilte. Bin ich ungerecht, so werde ich mein Urteil später zu revidieren suchen. Der Eros im heutigen Schrifttum ist eine heikle Sache, besonders in England; dort waren die Romanschriftsteller so lange in eiserne Konventionen gesperrt, daß ihnen die neue Freiheit, die sie sich seit einem oder anderthalb Jahrzehnten erobert haben, nicht genügend selbstverständlich ist.

Das Anziehende des englischen Romans war stets der vollendete Realismus, die scheinbare Nüchternheit, die Sachlichkeit und Horizontweite, mit der die Zeitgenossen das Bild einer Welt wiedergegeben sahen, die in jedem Bezug ihre allereigenste Welt war. Ich meine die Welt ihrer Interessen, ihrer Geschäfte, ihrer Heiraten, ihrer Familie, ihres Hauses und ihrer Reisen. Äußere Welt durchaus. Als äußere Welt wurde sie empfunden und bedurfte daher nicht wie bei den auf gleicher Stufe stehenden deutschen Dichtungen, die immer zunächst eine innere Welt statuieren, der Übertragung ins Unmittelbare. Das Unmittelbare war von Anfang an gegeben und hielt sich durch. Symbol und Idee kamen auf andere Weise zum Vorschein. Dann die Fabel. Ihre Grundlage war immer eine soziale, ihre Fassung gemüthaft, um nicht zu sagen gemütlich; auch in der Darstellung aristokratischen Lebens, das Höfische kommt ja fast kaum vor, vom bürgerlichen Standpunkt des Common sense aus gesehen, daher die entscheidende Humorfärbung in allen Schattierungen, durch alle Stände, wenigstens bei den repräsentativ volkshaften Erzählern, die alle, zu ihren verschiedenen Zeiten, universelle Wirkung hatten, wenn nicht durch diese besondere Qualität, so durch eine große Art, die Welt zu betrachten und, im Doppelsinn, Menschen zu bilden: bei Fielding, Sterne, Swift, Defoe wie bei Walter Scott, Dickens, Thackeray und Kipling.

In Deutschland hat man immer eine Vorliebe für den englischen Roman gehabt. Vielleicht, weil er mehr entlastete als beschäftigte, mehr zu schauen und zu fühlen als zu denken gab, wie es auch sein soll. Das Wort Unterhaltungslektüre hat einen verächtlichen Beigeschmack gewonnen; leider, die Produkte, auf die es gemünzt wurde, verdienen meist nichts Besseres. Wenn uns ein Roman nicht unterhält, wozu ist er sonst nütze? Die Unterhaltung muß nur auf einem respektablen Niveau vor sich gehen, und der Autor scheint mir verpflichtet, seine höheren Zwecke, erzieherischen Pläne und philosophischen Ideen mit einiger Zurückhaltung zu behandeln. Bezeichnend ist jedenfalls, daß heute, nicht nur bei öffentlicher Wirkung solcher Werke, sondern auch im privaten Gespräch, wie ich immer wieder beobachten konnte, zuerst oder sogar ausschließlich von ihrer Problematik die Rede war, dem Gedankengehalt, der Tendenz, der sogenannten Psychologie, fast niemals aber davon, was sie an Gestalt und Charakteren geben. Diese Mißkennung des Wesentlichen führt rückwirkend zu immer größerer Dünnheit eben dieses Wesentlichen.

Jetzt haben rührige deutsche Verleger wieder zwei bedeutende englische Autoren dem deutschen Publikum in guten Übersetzungen und schönen Ausgaben vermittelt: Robert Louis Stevenson und Henry Fielding. Von jenem ist bei Buchenau und Reichert beinahe das gesamte Oeuvre erschienen, des letzteren »Tom Jones« hat E. A. Reinhardt in seine ausgezeichnete Sammlung »Epikon« ausgenommen. Ein weitgeschwungener Bogen, dessen Eckpfeiler diese beiden Dichter bilden; was überdeckt er nicht alles: das politische und soziale Leben von anderthalb Jahrhunderten. Und welche Kontinuität dabei. Legt man den Meister jener frühen Zeit aus der Hand, um sich mit dem Werk des so viel späteren zu beschäftigen, so ist es, als ginge man auf einer gepflegten dauerhaften Allee, die über ungeheure Entfernungen führt und an keiner Stelle unterbrochen ist. Man kann sich den Unterschied zwischen zwei Kulturentwicklungen nicht besser verdeutlichen, die Stetigkeit und Gelassenheit auf der einen Seite, die Zähigkeit, Sprunghaftigkeit, Eigenwilligkeit auf der andern, als wenn man einen deutschen Roman von 1750 mit einem von 1900 vergleicht, wobei es noch schwer fallen dürfte, Produkte zu finden, die in ähnlichem Sinne repräsentativ sind. Der Roman in seiner höheren Form ist eigentlich nur möglich, wo es eine wirkliche Gesellschaft mit lebendigem Mittelpunkt gibt, und wo vom ganzen Volk, durch alle Stände hindurch, gewisse Traditionen aufgenommen und durch seine eigene Existenz beständig genährt werden.

Eine entscheidende Wesensverschiedenheit drängt sich von selbst auf: die vertikale Bewegung hier: der deutsche Romandichter arbeitet in die Höhe oder in die Tiefe, je nachdem er geistig und bildungsmäßig oder seelisch und schauend orientiert ist. Die horizontale Bewegung dort: das erste Gesetz ist Breite. Das Ergötzliche bei den meisten englischen Romanen, und so auch bei Stevenson, ist die Mühelosigkeit, mit der der Schauplatz gewechselt wird; plötzlich, wie im »Junker von Ballantrae«, wird ein Teil der Handlung nach Indien verlegt, später nach Amerika, ganz ohne Zwang; die berühmtesten Geschichten spielen in der Südsee, die reizende, nur im Schluß verunglückte Novelle »Das Teufelchen in der Flasche« auf Hawai. Alles das ist englisches Gebiet, englischer Boden, man ist von denselben sozialen Strömungen, denselben politischen Interessen getragen wie zu Hause, man ist auch in Bombay noch zu Hause oder auf Neuseeland, das alles ist zugehörige Welt. Eine Geschichte wie die »Schatzinsel« wäre in Deutschland ein Abenteurermärchen, für den Engländer ist sie ein nationales Epos, genau wie »Robinson Crusoe« oder wie das »Dschungelbuch«.

Dadurch gewinnt die stofferfindende und handlungsverknüpfende Phantasie eine Weiträumigkeit, der gegenüber fast alle deutsche Figurenwelt wie in eine zu enge Stube gepfercht erscheint, dazu eine Freiheit und Urbanität, wie sie eben Leuten eigen ist, die genügend Platz haben. Ich bin dahinter gekommen, daß gute Manieren ein wenig Platz brauchen. Bei uns konnten sich die Leute nicht rühren, und zu dieser rein geographischen Kalamität des Mittellandes, das noch dazu Jahrhunderte hindurch um seine politischen Zusammenhänge rang, tritt noch der Mangel eines gesellschaftlichen, eines geistigen Zentrums, wie es zum Beispiel die Franzosen in solchem Grad besitzen, daß der Begriff Paris nicht bloß eine ungeheure Tatsachenwelt, einen unausschöpflichen Hintergrund von Geschichte, Gestalt, Vorgang, lebendiger Überlieferung und fast zu Engrammen gewordenen Schauplätzen, sondern auch eine Art Mythos in sich schließt. Zwischen Kosmopolitismus und Provinzialismus gibt es bei uns eigentlich keine rechte Mitte, weil es eben auch keine rechte Grenze gibt, weil das Deutsche seinem Wesen nach überfließend ist und für das, was es an Überfluß hat, noch heute hat, darüber ist kein Zweifel möglich, das Gefäß fehlt und vorläufig auch die Bindung und das Maß. Aber ich glaube, wir sind auf dem Wege dazu.

Es ist ungemein lehrreich, zu sehen, wie ein großer Schriftsteller wie Fielding, indem er auf jene räumliche Ausbreitung verzichtet, gleichwohl zu einer Vielgestaltigkeit und Vielschichtigkeit seiner Welt gelangt, die ihm nicht weniger Vorteile gibt, da ja der kleinere Organismus im großen enthalten und seine Spiegelung ist. Die eigentümlich primitive Handlung des »Tom Jones« eine Liebesgeschichte, derengleichen in der Literatur schockweise vorkommen, verschafft ihm den Anlaß zu einem sozialen Gemälde, das so umfassend wie nur möglich ist. Ich wage zu behaupten, daß der Roman jede Kulturgeschichte über das England des achtzehnten Jahrhunderts entbehrlich macht. Blickt man auf die Lektüre zurück, so hat man ein höchst amüsantes Gewimmel charakteristisch unterschiedener Figuren aus allen Klassen und Berufen, hat man Wirtshausszenen, ländliches Idyll, kriegerische Vorgänge, das Leben in London und das Leben in Gutshöfen; jede Person hat man wirklich kennengelernt, nicht gar zu genau, aber doch so, daß man um ihre Rolle in der Welt weiß, daß man weiß, wie sie sich benimmt, was sie für eine Ehe führt, was sie für ein Einkommen hat, wie sie sich kleidet und ob sie an Gott glaubt oder nicht. Auf diese Weise tritt man in angenehm distanzierte Beziehung zum reichen Landedelmann wie zum rauflustigen Pferdeknecht, zum stets betrunkenen, fluchenden, unverträglichen Squire und zu der Dame, die ihrem Ehemann davongelaufen ist, der schwatzhaften Zofe und dem unehrlichen Pächter, der Frau aus guter Familie, die Zimmer vermietet, und der vornehmen Lady, die im Geruch eines leichtfertigen Wandels steht. Alles das hat unendlich viel Luft, Bewegung, Wechsel, Überraschung und Laune. Laune, wie soll man das anders bezeichnen, dieses höchst wunderliche Gemisch von Ironie, philosophischer Betrachtung, Weltmüdigkeit und erheiterndem Viel-Lärm-um-wenig. Was an Erfahrung dahinter liegt, bitterer, schlimmer Erfahrung des Menschen Fielding, der ja durch alle Höllen des Lebens gegangen ist, wird dadurch wie in einen zarten aber unzerreißbaren Schleier gehüllt. Und diese Erfahrung ist an keine Zeit und Epoche gebunden, sie ist keine englische Erfahrung, sondern eine menschliche, von einem Punkt aus gewonnen, wo man eben sehr viel Überblick hat.

Demgegenüber wirkt Stevenson klein. Schon weil ihm die Wucht fehlt, die Faust, die höhere Konsequenz; er ist von mehr elegischer Art; mehr ästhetisch gerichtet; auch weil er nicht wie Fielding die Existenz eines großen Herrn geführt hat. Zudem war sein Leben zu kurz, er starb schon in der Mitte der Vierzig. Der Epiker von mehr als literarischem Belang ist das Produkt einer gewissen Summe nicht nur persönlicher, sondern auch nationaler Erlebnisse, und diese zu gestalten, reift er erst spät. Eine Erzählung wie »Dr. Jekyll und Mr. Hyde«, die bei seinen Landsleuten großen Ruhm genießt, zeigt bei überraschender Erfindungs- und bezaubernder Darstellungsgabe (mit welcher Sicherheit und Genauigkeit, drei, vier Striche, ein halbes Dutzend schlagende, aber diskrete Details, ist zum Beispiel ein Londoner Anwalt hingestellt) doch ziemlich deutlich seine Mängel. Das Motiv, von Poe und E.T.A. Hoffmann stammend, vermag sich trotz reicher Entfaltung schließlich nicht über die Bizarrerie zu erheben, an die es der Einfall des Autors fesselt. Mit den »Einfällen« ist es überhaupt gefährlich; in der Entwicklung bestricken, in der Lösung enttäuschen sie; man tut als Schriftsteller am besten, sich vor ihnen zu hüten, nicht ohne Grund hat sie Hebbel die Läuse der Vernunft genannt. Womit freilich nicht gesagt ist, daß einem nichts einzufallen braucht; es kann einem gar nicht genug einfallen.

Das Besondere an Stevenson, und was ihn liebenswert macht, ist sein Griffel, die Feinheit der Hand, die Delikatesse seiner Führung und seiner Farben und der Schleier von Melancholie, der über seinen Erzählungen liegt. Denn Erzählungen sind es, im schönen alten Sinn, seltene oder seltsame Begebenheiten, vorgetragen von einem, der das Leid oder das Glück oder das bloße Vergnügen des Schauens und Erlebens bei seinen Zuhörern in ein ruhevolles Gefühl des Geschaut- und Erlebthabens verwandelt.


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