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Akten zur Verteidigung Caspar Hausers

Der Schatten Caspar Hausers

Es lebte in einer Stadt des westlichen Deutschland vor mehr als vier Jahrzehnten ein Professor, dessen Namen wir aus wohlüberlegten Gründen verschweigen müssen. Es genüge, wenn wir sagen: der Professor. Vielleicht mögen einige bewanderte oder divinatorisch begabte Leser hinter dieser von unserer Diskretion und einem gewissen Mitgefühl errichteten Schranke eine bestimmte Persönlichkeit, wenn auch in verfließenden Zügen, erkennen, das ist dann ein Vorteil, dessen sie ohne Zutun und Verschulden des Autors teilhaftig werden.

Besagter Professor nun war seit Jahr und Tag mit unermüdlichem Eifer und einer Hingebung, deren nur ein deutscher Mann der Wissenschaft fähig ist, mit der Abfassung eines äußerst umfänglichen Werkes beschäftigt. Er hatte sich nämlich zur Aufgabe gesetzt, die beinahe sagenhaft gewordene, dessenungeachtet aber im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses, öffentlicher Streitigkeiten, unabsehbaren Zeitungshaders, endloser Beschuldigungen und Verteidigungen stehende Figur des Findlings Caspar Hauser einer gewissenhaften Prüfung zu unterziehen, ihre Antezedenzien festzustellen, ihre Würdigkeit, ihre Erlebnisse, ihre protokollierten Aussagen, mit einem Wort, ihr Leben und ihr Sterben. Er bediente sich hierbei gleichsam eines unsichtbaren Mikroskops; seine geistigen Augen waren von einer Schärfe, der nichts entging, kein Stäubchen auf der Ehre seines Objekts, keine Regung seiner Seele, keine Wandlung seiner Gesinnung, kein Motiv seines Handelns. So bildete er sich wenigstens ein; es war auch die Meinung seiner Bewunderer, und deren gab es nicht wenige, wie leicht zu glauben, denn jeder Professor hat seine Eingeschworenen und Trabanten hinter sich wie ein römischer Imperator, namentlich dann, wenn er sich im Stande der Negation befindet und etwas Seiendes bekämpft.

Er schuf an seinem Buche Tag und Nacht. Er hatte im Laufe der Zeit so viel Dokumente angesammelt, daß seine Schreibtischfächer nicht mehr ausreichten, sie zu fassen. Es waren Zeugnisse aus aller Welt, Belege von unwidersprechlicher Art, Indizien von eiserner Kraft, Nachweise von verblüffender Zielsicherheit. Es waren Stammtafeln, behördliche Manifeste, ärztliche Legitimationen, Tauf-, Geburts-, Wohnscheine, Krankenatteste, Obduktionsatteste, Laufzettel, Kriminalakten, Schulhefte, Zensuren, Journalartikel, Biographien, Schädelaufnahmen, Gedichte, Nekrologe und vieles andere mehr. Er konnte darin wühlen wie in einer Kiste voll Juwelen. Er konnte besichtigen, vergleichen, zusammenstellen, richtigstellen, alles mit philologischer Gründlichkeit und Prägnanz. Er konnte es nicht nur, sondern er tat es auch. Außerdem hatte er ein viele hundert Seiten starkes Manuskript vor sich liegen, mit dessen Hilfe er überzeugt war, sich in den Himmel der Unsterblichkeit zu schreiben, jedenfalls aber das Problem, dem er sein Leben weihte, vollkommen zu lösen und für alle Zeiten über das Wirrsal der banalen Meinungsverschiedenheiten emporzuheben.

In einer Dezembernacht geschah es, daß er, ein wenig ermüdet von der Arbeit, die Feder weglegte, sich in seinem Sessel zurücklehnte und die Augen hinter der goldgeränderten Brille träumerisch durch das Halbdunkel seiner faustischen Studierstube schweifen ließ. Da gewahrte er in der Ecke, neben dem großen Globus, weit außerhalb des Lampenkreises, eine im Grau der Dämmerung beinahe verrinnende Gestalt. Der Professor zog die Stirne in Falten und wunderte sich, ohne mehr zu erschrecken als es einem aufgeklärten Forscher ziemt. Mit unterdrückter, rauher Stimme rief er: »Hallo, wer da?«

Die Gestalt zuckte sichtlich zusammen, gewann aber bei dem Anruf bestimmtere Formen und näherte sich der Mitte des Raumes.

»Ich bin der Schatten,« sagte sie kaum vernehmlich.

»Was für ein Schatten?« erkundigte sich der Professor streng, als habe er einen Schüler vor sich, der sein Pensum nicht gelernt hat.

»Nun, der Schatten von dem da, von dem Caspar Hauser da,« flüsterte die Gestalt und wies mit schimmernder Hand auf das dickleibige Manuskript auf dem Schreibtisch.

»Wie soll ich das verstehen?« fragte der Professor mit unmutig verzogener Stirn und schob die Brille etwas höher hinauf; »was heißt das: der Schatten? Es gibt keine Schatten. Will sagen: keinen Schatten im Sinne leiblichen Residuums. Entweder du bist es selbst oder du bist eine Imagination. Bist du eine Imagination, so bist du natürlich meine eigene Imagination. Folglich kann und werde ich zu dir sprechen: Hebe dich hinweg. Es könnte ja sein, daß mein überanstrengtes Hirn zur Phantombildung neigt. Derlei liegt mir freilich nicht. Ich glaube nicht an Phantome. Ich glaube nicht an dich, ich glaube nicht, daß du da bist. Verschwinde, elender Geist!«

»Wenn du es auch nicht glaubst, Herr Professor, ich bin doch der Schatten, ich bin dennoch Caspar Hauser,« sagte sanft die Gestalt, und ihre Umrisse wurden allmählich deutlicher.

Der Professor verschränkte die Arme über der Brust. So entschlossen er auch aussah, konnte er sich gleichwohl eines leichten Schauers nicht erwehren, und mit einer Beklommenheit, die ihn ärgerte, so daß seine Stimme etwas Dumpf-Grollendes hatte, fragte er: »Was willst du? Zu welchem Ende behelligst du mich?«

Die Gestalt schwieg und senkte den Kopf, doch näherte sie sich dem Schreibtisch noch mehr und blieb erst stehen, als sie mit der schimmernden Hand, die eigentümlich wie ein Lebewesen für sich wirkte, den Bord des Tisches berührte.

»Wenn ich schon die Hypothese zulasse, daß du hier bist und ein Etwas außerhalb meiner selbst bist,« sagte der Professor in demselben böse grollenden Ton, »so habe ich vor allem das Recht, zu erfahren, welcher Zweck mit dieser zudringlichen Störung verfolgt wird. Den Fall gesetzt also, ich nähme deine Existenz oder scheinbare Existenz zu meiner Kenntnis: cui bono

Der Schatten deutete abermals auf das handschriftliche Konvolut und sagte: »Du schreibst da ein dickes Buch, Herr Professor –«

»Ich bin nicht gewohnt, daß man mich duzt,« fuhr der Professor zornig auf; »die Tatsache deiner nächtlichen Gespensterhaftigkeit befugt dich noch nicht zu so unverschämt vertraulichem Abergriff.«

Der Schatten duckte sich ein wenig und wich schüchtern einen halben Schritt zurück. »Da unten sagen wir alle du zueinander,« entschuldigte er sich; »ich habe das andere verlernt. Ich kann es nicht mehr. Da unten sind wir Brüder. Du mußt mich du sagen lassen, Herr Professor. Meine Hochachtung vor dir bleibt deswegen dieselbe. Es ist nicht nur Hochachtung, es ist auch Angst. Ich habe große Angst vor dir, obgleich ich ein Geist bin und du nicht.«

»Ha!« rief der Professor.

»Und ich wollte dich fragen, warum du in deinem Buch da immerfort behauptest, daß ich ein Schwindler und Betrüger bin. Das tut mir weh. Auch wir in der Unterwelt empfinden Schmerz.«

Der Professor erlangte nach und nach seine ganze Zuversicht zurück. Die bängliche Haltung des Schattens flößte ihm um so größeren Mut ein, als er sie der Wirkung seiner persönlichen Gewalt zuschrieb. »Das wundert dich noch?« fragte er voll Hohn; »beschwerst du dich vielleicht gar? Fünfzig Jahre sind seit deinem Tode vergangen, und noch immer halten deine Schnurrpfeifereien die leichtgläubige Welt in Atem. Wir müssen die Materie, will sagen den Lügenkomplex, in zwei Teile scheiden, a und b. Teil a bezieht sich auf das Erscheinungsmäßige, Teil b auf das Gefasel von der fürstlichen Abkunft.«

»Ich verstehe das nicht,« flüsterte der Schatten mit traurigem Kopfschütteln; »ich habe eure schwere Sprache beinahe schon vergessen.«

»Ja, du warst immer ein miserabler Schüler,« bemerkte der Professor geringschätzig. »Ich will also versuchen, dir die Sache mundgerecht zu machen, und wiederhole: einerseits haben wir da das unsinnige Märchen von jahrelanger Einsperrung und Dunkelhaft bei Wasser und Brot, von plötzlicher Entführung, Nichtgehenkönnen, Nichtsprechenkönnen; das Auftauchen in der guten, leider nur etwas albernen Stadt Nürnberg, das Blendwerk mit dem kindlichen Geist und der unberührten Seele, das Geschwätz und Geschrei halbgelehrter Narren und einfältiger Schwärmer über den Augen- und Sinnentrug, den sie sich von dir haben vormachen lassen, die fingierten Mordanfälle bis zu jenem letzten in Ansbach, bei dem du dich ungewollter- oder ungeschickterweise etwas zu tief ins Herz getroffen hast; andrerseits lastet auf dir und deinen genasführten Anhängern die gotteslästerliche Fabel von deiner hochfürstlichen Geburt, diese verbrecherische Erfindung respektverlassener Demagogen, die zu beseitigen und zu zerstören ein Mann wie ich und viele andere noch, die mir allerdings nicht recht gewachsen sind (was du zugeben mußt, wenn du einmal mein Buch wirst lesen können), das Licht ihres Geistes verschwenden müssen.«

Dieser scharfsinnig aufgebaute, obschon etwas verschnörkelte und gotisch düstere Satz flößte dem Schatten sichtlich tiefen Schrecken ein. »Ich kann aber nichts dafür,« sagte er und faltete die Hände; »es ist alles so, wie es ist. Es war alles so, wie es war.«

Der Professor stieß eine imposante Lache aus. »Das könnte ja beinahe eine philosophische These sein,« spottete er. »Es war, wie es war. Natürlich. Wie war es denn aber? Hast du geschwindelt oder hast du nicht geschwindelt? Darauf kommt es an. Und bis zu welchem Punkte ging deine Freiwilligkeit, und von welchem Punkte an warst du das Opfer deiner sogenannten Freunde? Darauf kommt es an. Sprich. Erleichtere dich. Mach reinen Tisch mit der Lüge, die schon zum Himmel stinkt und als perverser Mythos die Erde verpestet.«

Es konnte beinahe scheinen, als lächelte der Schatten; jedenfalls war es ein trübes und melancholisches Lächeln, das um seine beinahe durchsichtigen Lippen spielte, als er antwortete: »Es ist wirklich sonderbar mit den Menschen. Wenn etwas einfach ist, mögen sie es nicht glauben. Alles, was verwickelt und schwer ist, das glauben sie. Alle sind darauf aus, ihr Gehirn anzustrengen und das Herz möglichst in Ruhe zu lassen. Woher kommt das, Herr Professor? Du bist doch ein so gescheiter Mann; du mußt mir das doch erklären können.«

»Unsinn,« brummte der Professor, »anmaßender Unsinn. Zur Sache, zur Sache.«

»Meine Sache ist gut aufgehoben bei denen, die die Augen innen haben, und schlecht aufgehoben bei denen, die sie außen haben,« sagte der Schatten, tief in sich gekehrt. »Wenn ich zu dir sprechen würde: ja, ich habe gelogen, dann würdest du jubeln und würdest sagen: Caspar Hauser ist ein anständiger Kerl. Du würdest dich freuen und würdest mich loben; warum? Weil dir soviel an der Wahrheit liegt? oder nicht nur deswegen, weil du es dann besser weißt als die Anderen? Wie kann ich aber sagen, etwas ist Lüge, was ich bin? Wie kannst du von mir verlangen, daß ich mein wirkliches Leben nicht gelebt haben soll, und nur das andere, das du dir einbildest, weil es dir wunderbar vorkommt, während es doch das Einfache und Natürliche ist. Wenn ich beweisen könnte, daß es gewesen ist, wie es gewesen ist, dann wäre es ja schon anders gewesen. Begreifst du das nicht? Begreifst du nicht, daß das Dunkle mein Leben ist und das Geheimnis mein Wesen? Ach, ich habe keinen höheren Wunsch, als daß der Schleier endlich fällt. Freilich, dann bin ich nicht mehr, dann wandle ich nicht mehr, dann ist auch mein Schatten nicht mehr da und mein Bild nicht mehr da. Das ist aber alles besser als mit solcher Last im Geisterreich zu schweben, mit solcher Last wie Ahasver. Ich kann nichts dazu tun, um euch zufriedenzustellen, euch, die ihr mein Grab aufwühlt, weil ihr mich für einen Lügner haltet.«

Der Professor war keines Wortes mächtig. Er befand sich durchaus in der Situation eines Examinators, den der Examinand bereden will, daß alles, was er gelehrt, was er erforscht, was er seit seiner Kathederbesteigung verkündet hat, falsch und unhaltbar sei. Wir dürfen deshalb nicht zu streng mit ihm ins Gericht gehen; wir müssen seine besondere Art zu erfassen suchen, seine Umpanzerung gegen das fließende Leben, seine beleidigte Würde, und wenn wir ihn so sitzen sehen zwischen einem unglaubwürdigen Schatten und einer sehr glaubwürdigen Handschrift, sozusagen zwischen dem Grauen des Metaphysischen und der Realität der Tinte, mischt sich vielleicht in unsere heimliche Genugtuung (eine Genugtuung, die wir sogar empfinden, wenn ein starker Baum aus seinen Wurzeln gehoben wird) ein wenig Mitleid. Der Autor jedenfalls muß sich zu diesem Gefühl bekennen.

Indessen fuhr die Schattenstimme fort, und trotz ihrer sanften Schüchternheit war es, als fülle sie den ganzen Raum: »Wüßt ich nur, was ihr meine Lüge nennt, da ihr doch alle, die für meine Wahrheit zeugen, auch Lügner heißt. Erst war mein Kerker das Unterirdische; dann war mein Kerker das Oberirdische, eure unbegreifliche Welt; jetzt habt ihr einen neuen Kerker gezimmert für meine Seele. Wie soll ich mich retten? Wie soll ich euch überzeugen? Ihr wißt um meine Träume und nennt sie Lügen; ihr wißt um meine Leiden und nennt sie Lügen; ihr wißt um meinen grausamen Tod und nennt ihn Lüge; ihr habt mir das Herz aus dem Leib gerissen, und dann habt ihr triumphierend gesagt: Seht, er hat kein Herz! Verbrechen sind an mir geschehen, und statt daß ihr die sucht und richtet, die sie begangen haben, verlangt ihr von mir, daß ich sie auf mich nehmen und tragen soll. Ihr sucht die Wahrheit am falschen Ort, und weil ihr sie nicht finden könnt, sagt ihr: er hat gelogen. Ihr habt nicht den Mut, die zu fragen, die alles wissen, darum sagt ihr: wir wissen schon längst alles, und was wir nicht wissen, ist des Wissens nicht wert. Große Herren haben für mich geredet; ihr hört es nicht. Und große Herren haben für mich geschwiegen, ihr achtet es nicht. Ihr glaubt nicht einmal den wahren Schuldigen, wenn sie sich selber anklagen – aus lauter Ehrfurcht vor ihnen. Wenn man euch den rechten Weg gezeigt hat, seid ihr ärgerlich geworden, und wenn man euch ein Licht angezündet hat, habt ihr geschrien, man soll es auslöschen, weil es euch die schöne Finsternis stört. Hättet ihr mein Bild, so hättet ihr meine Wahrheit, aber ihr habt bloß euer Wort, und an dem beißt ihr euch wund. Wann wird dies alles enden und wann wird die gerechte Sonne euch erleuchten? Ich sollte vielleicht meine Bruderschatten heraufbeschwören, die schuldigen, und sie anflehen, sich endlich zu offenbaren. Aber das darf nicht sein, denn Leben und Tod der Menschen sind dem gleichen Schicksalsgebot unterworfen, und die Schatten müssen tun und leiden, was den Lebendigen auferlegt war. Einmal wird es sein. Einmal wird Wahrheit sein. Aber wenn ich dann zu dir komme, Herr Professor, und zu dir spreche: gib mir die Ehre wieder, auch du, so wirst du sagen: ich bin es nicht. Du wirst so erbittert darüber sein, daß dein Nein nicht mehr gelten soll; so erbittert, daß das Ja aus Millionen Kehlen bloß ein widriges Geheul für dich ist; eher wirst du auf ewig verstummen, als daß du die Augen aufschlagen wirst zu mir, dem du Übles zugefügt hast; lieber wirst du dich tot stellen, als zu mir sagen: mein Sinn hat sich gewandelt. Und daß das nicht möglich ist, daß du den Sinn nicht wandeln kannst, auch wenn du die Wahrheit schon siehst und spürst, das macht eure Welt so unbewohnbar – für einen Schatten.«

Damit verging der Schatten. Ein silbriger Dunst in der Ecke war alles, was von ihm übrigblieb, und auch dieser löste sich bald auf. Es ist ziemlich verbürgt, daß der Professor eine leichte Konsternation zu überwinden hatte, wenigstens möchten wir den wohlwollenden Leser gern zu diesem Glauben bereden. Er nahm dann seine Brille von der Nase, putzte sie halb sorgfältig, halb zerstreut und sagte mißvergnügt vor sich hin: »Närrische Blasen, die ein müdes Gehirn zwischen Nacht und Morgen aufwirft …«

Und er schrieb weiter.

 

Meine persönlichen Erfahrungen mit dem Caspar-Hauser-Roman

1

Vor einigen Jahren veröffentlichten die meisten deutschen Zeitungen einen Artikel der Schriftstellerin Klara Hofer, in welchem sie verkündete, daß es ihr gelungen sei, das Gefängnis Caspar Hausers in Franken, in der Nähe von Nürnberg, zu finden, und sie knüpfte an diese Tatsache alle möglichen Schlußfolgerungen; hauptsächlich schien ihr damit bewiesen zu sein, daß Caspar Hauser, der Geheimnisvolle, noch heute vom Kampf der Meinungen, Urteile und Vorurteile Umtobte kein Betrüger gewesen, daß die Erzählung von dem unterirdischen Verließ, in welchem er von der frühesten Kindheit an seine ganze Jugend zugebracht, auf Wahrheit beruhe. Ich erinnere mich nicht mehr an die Einzelheiten der Beweisführung und wie sie das Faktum des Bestehens eines solchen Gefängnisses mit dem andern Faktum, daß Caspar Hauser dort eingekerkert war, in Zusammenhang brachte. Es schien mir nicht sehr belangvoll, auch nicht ganz überzeugend, der Kern der Frage lag und liegt ja woanders. Natürlich stießen die Argumente der Entdeckerin auf Gegenargumente, der jahrhundertalte Streit begann wieder einmal von neuem, ein Rauschen im Blätterwald, das Ergebnis war gleich Null. So ist es seit hundert Jahren gewesen.

Eine große deutsche Zeitung forderte mich damals zur Äußerung auf. Ich äußerte mich also, besprach den Gegenstand, das Problematische des Falles ziemlich ausführlich, aber, wie ich zugebe, ohne den Glauben, daß damit etwas gefördert oder geklärt werden könne, denn ich wußte ja seit langem, daß die schuldvolle Dunkelheit über dieser Affäre nicht durch Feuilletons und advokatorische Episteln, sondern durch Eingriffe und Entscheidungen von ganz anderer Art behoben werden könnten. Ich war gleichwohl der Ansicht und drückte sie auch aus, daß es sowohl der Frau Klara Hofer wie auch der mich befragenden Redaktion nicht um das Kriminalistische des Falles zu tun sei und nicht um die Erneuerung einer längst vermoderten europäischen Sensation, sondern daß es diesmal um Höheres gehe, um die Reinigung eines edlen Namens und außerordentlichen Wesens von hundertjährigem Unglimpf, eingerosteter Mißkennung und Verleumdung, ja um mehr, um die endliche Tilgung einer ungesühnten deutschen Schuld.

Sollte ich mich getäuscht haben? In diesem Jahr, 1928, ist das Jahrhundert voll, seit der geheimnisvolle Mensch, an einem Pfingstmontag, zum erstenmal in Nürnberg auftauchte. Geheimnisvoll, das ist das Wort, das sich immer wieder einstellt, wenn man von ihm zu sprechen hat. Es ist viel Lärm um ihn gewesen, viel Haß, viel Neugier, viel Entdeckerwut, viel wissenschaftliches Gehabe und psychologisches Rätselraten, viel Anklage, viel Irrtum, viel Mißverständnis und viel Romantik. Der ganze Kontinent war von seinem Namen erfüllt: das Geheimnis ist geblieben wie am ersten Tag.

Wie lange noch? Wie lange noch wird die Lüge Gewalt haben über dein Andenken, Caspar Hauser, wie lange wird sie noch das holdeste Menschenbild, von dem wir Kunde haben, besudeln? Damals gefiel ich mir in einer Art von verzweifeltem Optimismus. Wenn nicht alle Zeichen trügen, sagte ich, ist die Wahrheit auf dem Weg, seit dem scheußlichen Mord im Ansbacher Hofgarten im Dezember 1833 hat das Gedächtnis der Menschheit nicht aufgehört, beunruhigt zu sein, und Archive, die bis vor wenigen Jahren jeder Nachfrage und Forschung unzugänglich gewesen sind, werden sich vielleicht in kurzer Zeit öffnen.

Sollte ich mich getäuscht haben?

2

In meinem autobiographischen Buch »Mein Weg als Deutscher und Jude« schrieb ich, rückblickend auf die Zeit, in der ich den Caspar-Hauser-Roman veröffentlichte: »Zunächst erhob sich ein übler Zeitungsstreit um das Andenken Caspar Hausers, und ein Platzregen von hämischen Beschimpfungen und dünkelhaften Zurechtweisungen ging über mich nieder, den man des Verbrechens bezichtigte, die alte Lügenfabel von fürstlicher Abkunft des Findlings wieder aufgewärmt und zum Vergnügen eines sensationshungrigen Publikums serviert zu haben. Ich wurde belehrt, daß Professor Mittelstädt in seiner berühmten Schrift und Lehrer Meyer in seiner aktenmäßigen Darstellung, und wer weiß wer noch und wo, längst die Welt davon überzeugt hätten, daß Caspar Hauser ein schwachsinniger Betrüger gewesen sei, der die öffentliche Meinung Deutschlands und Europas zum Narren gehabt; daß es eine naive Anmaßung und Unwissenheit sei, das seit einem halben Jahrhundert glücklich begrabene Märchen neuerdings zum Gegenstand der Diskussion und Fehde zu machen, und daß ich mir für meine literarische Stoffgier ein harmloseres Gebiet wählen möge, das weniger geeignet sei, Beunruhigung und Ärgernis zu erregen. Nun bin ich ja heute wie vordem durchdrungen von der Meinung, daß Caspar Hauser wirklich der prinzliche Knabe gewesen, für den ihn Daumer und Feuerbach und nachher viele andere, die totgeschwiegen oder totverleumdet wurden, gehalten; es sind mir dokumentarische Belege, glaubwürdige Zeugnisse genug zu Aug und Ohr gekommen, andere werden einst ans Licht treten; die Intrigen reden eine deutliche Sprache; es gibt noch hochgestellte Wissende; manche haben mir ihr Vertrauen geschenkt; ein Zweifel darüber, was die Schreibtischpsychologen so leichtfertig ableugneten, war bei ihnen gar nicht zu finden.«

Da der allgemeine Ideengang in der obenerwähnten Schrift es mir verwehrte, mich mit den Angriffen und Feindseligkeiten, die mir der Roman verschaffte, näher und im einzelnen zu befassen, hatte ich mich auf die zitierten Andeutungen beschränkt. Aber es war wirklich ein unerfreuliches und entmutigendes Erlebnis. Eine ganze Reihe von Provinzzeitungen fiel im Chorus über mich her und behandelte mich wie einen gefährlichen Übeltäter. Ich hatte den unabweisbaren Eindruck, als sei von irgendwoher eine bestimmte Losung ausgegangen, ein Befehl, daß man sich so und so zu verhalten habe, wenn gefährliche und unerwünschte Wirkungen des Buches verhütet werden sollten. Ich konnte nicht umhin, zu vermuten, daß gewisse Weisungen von einer gewissen Stelle ausgingen und daß diese Taktik eine bereits langgeübte sei. Es fehlte auch nicht an anonymen Briefen, an literarischer und persönlicher Verächtlichmachung, an antisemitischem Hohn, sogar an bedenklichen Drohungen nicht. Ein Angehöriger des großherzoglich badischen Hauses beauftragte meinen Freund Alfred Walter Heymel, mir zu sagen, daß er bis jetzt ein Schätzer meines Talents gewesen sei, daß ihn aber die Frivolität, die ich durch die Publikation des Hauser-Romans an den Tag gelegt, von seiner guten Meinung über mich abgebracht habe. Von anderer Seite wieder erhielt ich heimliche Zuschriften, in denen mir, als sei ich etwa ein Detektiv, versichert wurde, ich befände mich auf der richtigen Spur, man freue sich über die endliche Aufhellung des finsteren Mysteriums und könne mir das notwendige beweiskräftige Material zur Verfügung stellen, sofern ich es wünschte.

Alles das war sehr auffallend, sehr seltsam, um so mehr, als es sich nicht um eine aktuelle Prozeßangelegenheit, sondern um eine Dichtung handelte, in der ich aus künstlerischen Gründen wohlerwogenerweise alles im Dunkel gelassen hatte oder wenigstens im Halbdunkel, was sich auf die Abkunft des Helden bezog. Es läßt sich verstehen, daß ich dann, als ich die künstlerische Arbeit hinter mir hatte, verstimmt, bestürzt, in gewisser Weise aufgeweckt durch die unerwarteten Umtriebe, mich über das Werk hinaus mit der Person identifizierte, die mich so viele Jahre erfüllt und beschäftigt hatte, und mich zur Wehr setzte, indem ich seine historische und menschliche Existenz zu verteidigen unternahm.

Zuvörderst verwahrte ich mich gegen die Ausschlachtung des Werkes zu irgendwelchen politisch-dynastischen Zwecken. Ich fand den Standpunkt unerträglich, ich hatte überhaupt Mühe, ihn zu begreifen.

3

Die Gestalt Caspar Hausers war ein entscheidendes Jugenderlebnis für mich gewesen, eine Vision seit dem Erwachen des Bewußtseins beinah. Ich lebte in seiner Landschaft, alte Leute erzählten mit Ergriffenheit von ihm, mein Großvater hatte ihn noch gekannt und gesprochen, der Schauplatz seiner Leiden und seines Todes war der meiner eigenen Entwicklung. Wenn man uns Kindern den Vestnerturm auf der Burg zeigte, wußten wir, daß das düstere Gemäuer sein erster Aufenthalt unter Menschen gewesen war. An vielen Orten in Franken ist es heute noch so, wie es vor vierzig, vor achtzig Jahren war: fragt man auf dem Dorf einen alten Bauer oder in der Stadt einen alten Handwerksmeister nach Caspar Hauser, so geht ein undefinierbares Leuchten über sein Gesicht, und man hat das Gefühl, als spräche man von einer heiligen Person. Da ist kein Mißtrauen, kein Verdacht, durch drei Generationen hindurch ist das Bild noch unvergessen. Eine gewisse romantische Verehrung ging aber bis in die gebildeten Schichten hinauf. Am Anfang des Jahrhunderts unterhielt ich mich einmal in Nürnberg mit einem angesehenen bejahrten Arzt über die schmählichen Beargwöhnungen, die noch immer, sieben Jahrzehnte nach seinem Tod, gegen den Findling gerichtet wurden, daß es denen, die in Deutschland öffentliche Meinung machen, noch immer beliebe, ihn für einen Betrüger zu erklären. Da blieb der alte Herr aus der Straße stehen und sagte mit einem Ton mitleidsvoller Verwunderung: »Caspar Hauser ein Betrüger! Aber, aber!«

Der erste Entschluß zu einer Caspar-Hauser-Dichtung reicht in mein siebzehntes Jahr zurück, doch bis zur Verwirklichung sollten fünfzehn Jahre vergehen. Ich begriff sehr früh, daß dazu geistige Reife, Kenntnis der Welt und die vollkommene Beherrschung des Metiers erforderlich waren. Außerdem auch eine gewisse Unabhängigkeit; ein solches Vorhaben durfte nicht durch das Zittern ums tägliche Brot gefährdet werden. Die Studien allein, Beschaffung des Materials, der Akten und einschlägigen Literatur beanspruchten Jahre. Verschiedenartige Versuche und Entwürfe begleiteten mich durch alle Anfangsstationen meiner schriftstellerischen Laufbahn. Im Jahre 1904 (die endgültige Fassung des Romans erschien 1908) lag ein beinahe fertiges Manuskript vor, moderne Erzählung, worin die Caspar-Hauser-Figur nur eine symbolische Rolle spielte. Nachdem ich es verworfen hatte, schrieb ich als Übung für den mir vorschwebenden halb historischen, chronikartig distanzierten, halb poetischen Stil die Schwestern-Novellen. Es widerstrebt mir, von diesem Leidensweg zu sprechen, es ist da nichts, wessen man sich rühmen dürfte. Will einer Welt und Gestalt formen, so bleibt ihm die Hölle des Suchens und der Enttäuschung nicht erspart. Oft war ich nahe daran, die Hoffnung aufzugeben und den Plan fallen zu lassen; ich habe, während ich dies niederschreibe, meine Tagebücher aus jenen Jahren durchgesehen; ich fühlte Mitleid mit dem Mann, der sich da so verzweifelt abplagte, trotzdem ich dieser Mann selber war. Erst als ich die zusammenfassende und das Ganze wie ein Himmel überwölbende Idee gefunden hatte, konnte ich das Werk als gesichert betrachten. Die betreffende Tagebucheintragung vom 3. Dezember 1905 lautet: »Der gestrige Abend verdient einen roten Strich im Kalender. Schon lange quälte ich mich mit dem alten Stoffmaterial zur Trägheit des Herzens herum und kam langsam oder wurde von irgendeiner Kraft widerwillig zur Überzeugung gebracht, daß eine allgemeine Fabel, wenn auch mit noch so lebendigen, d. h. dem gegenwärtigen Leben abgeschauten Figuren mir nichts mehr bedeuten könne und lediglich zu verfeinerter Psychologie führen müsse. Das ist mir zu wenig. Warum, sagte ich mir schließlich, einer Idee zuliebe einen Stoff weiterschleppen, der mich nicht ganz und gar erfüllt? Muß es nicht ein künstliches Gebilde werden? Und wie unter dem Feuer eines Blitzes riß ich mich los, urplötzlich vermählte sich in mir die Caspar-Hauser-Vision mit der Trägheitsidee, urplötzlich war mein Arzt und Ehemann zum Lehrer Quandt geworden, die ganze Tragödie stand gewaltig da, und der Titel war mit leuchtenden Lettern an die Wand gemalt: Caspar Hauser oder die Trägheit des Herzens.«

Damit war Spiel und Gegenspiel gegeben: Caspar Hauser gegen die Welt. Man sieht daraus, daß die realen Vorgänge aufgehört hatten, von primärer Wichtigkeit für mich zu sein, sie konnten zurücktreten, um dem Wesentlichen des Stoffes Platz zu machen, und dieses war: das tragisch Gesetzhafte einer von der Welt noch nicht befleckten Seele und wie die Welt stumpf und verständnislos daran vorübergeht.

4

Caspar Hauser gegen die Welt. Es blieb dabei. Auch das Dichtwerk sollte diesem Schicksal nicht entgehen. Wie unausrottbar das Gift der Übelmeinung war, des starren Vorurteils, bewies mir schon kurz nach Erscheinen des Buches der Rezensent einer großen österreichischen Zeitung, in dessen Spuren nachher bewußt oder unbewußt viele andere traten. Es geschah das Absurde, daß der gute Mann den Roman als literarisches Produkt über den grünen Klee lobte, zugleich aber mit dem größten Nachdruck sein Erstaunen darüber äußerte, das lebhafteste Mißfallen, daß ich es unternommen und mir zum Ziel gesetzt habe, einen notorischen Hochstapler und Simulanten wie Caspar Hauser zu glorifizieren, als sei es ein ganz ehrenwerter, aber nach allen Resultaten der historischen und psychologischen Forschung völlig aussichtsloser Versuch, das Andenken eines solchen Individuums für die Nachwelt zu retten. Ich finde unter meinen Papieren aus jener Zeit die Erwiderung, die ich dem strengen Kritiker zugedacht hatte, von der aber nur ein Teil, und nicht der schlagkräftigste, in die Öffentlichkeit gelangte, aus Gründen, die ich nicht näher zu erörtern brauche. Es erhellt aus dieser Antwort auch, wie ich damals von außen und von innen gezwungen wurde, die gedichtete Figur mit der geschichtlichen zu identifizieren. Es blieb mir schließlich gar nichts anderes übrig, denn ich sah, wie die mythischen und die faktischen Elemente ineinander und gegeneinander wirkten, und wie den Zeitgenossen der Roman in manchem Bezug zum Dokument wurde, obschon zum mißverstandenen, so wie vordem alle Dokumente zum Roman geworden waren.

Der betreffende Kritiker hatte sich halb unwissentlich vor meinen Augen zur typischen Person des Widerspruchs gemacht, und gleich vielen sogenannten vernünftigen Skeptikern der vorhergegangenen Jahrzehnte stellte er allen Augenschein und alle menschliche Wahrscheinlichkeit auf den Kopf und plätscherte in gewohnter Manier unbefangen im Wasser der Verleumdung. Ich appellierte an sein Billigkeitsgefühl, indem ich ihm bemerklich machte, daß es sich nicht mehr um meine Leistung, sondern um die Person Caspar Hausers handle; für diesen müsse ich eintreten und könne es nicht zugeben, daß er aus dem Buch herausgeführt, auf die Richtstätte eines Zeitungsartikels gebracht und dort justifiziert würde. Ich sagte ihm, unser Streitfall sei nicht der eines Schriftstellers gegen seinen Beurteiler, sondern der eines ungerecht und böswillig Verdammten gegen eine ganze Welt von verblendeten Feinden. Ich gab ihm zu verstehen, daß, wäre Caspar Hauser wirklich ein Betrüger gewesen und diese Annahme unumstößlich, ich ein im tiefsten Sinne fragwürdiges, jeder Grundlage entbehrendes und beinahe schwachsinniges Buch geschrieben hätte. Man kann, sagte ich, als Dichter eine Figur in ihren Motiven variieren, aber man kann sie nicht in ihrer Wurzel abbrechen; man kann allenfalls Casanova als einen Auswürfling zeichnen oder als den glänzenden Exponenten des Ancien régime; das ist eine Sache literarischer »Auffassung«, aber es geht nicht an, die Caspar-Hauser-Gestalt als Lügengestalt zu denunzieren, da sie einfach nur deswegen lebendig geblieben und dichterisch zu fassen ist, weil sie den Inbegriff der Reinheit und der Schuldlosigkeit darstellt.

Ich zitiere weiter, nur um zu beweisen, daß damals, vor sechzehn Jahren, die nämliche Argumentation notwendig war, die, wie es scheint, auch heute noch nicht überflüssig geworden ist. Alle Gegner des Buches und somit Gegner der Sache beriefen sich auf die Akten. Was waren das aber für Akten? Fast ausschließlich bestanden sie aus den sorgfältigen, aber den giftigsten Geist des Argwohns und der Verzerrung atmenden Aufzeichnungen und Beobachtungen des Lehrers Meyer in Ansbach. Sonderbarerweise hat sich das bösartige Elaborat dieses provinzlichen Schultyrannen Jahrzehnt um Jahrzehnt gegen allen Einspruch, alle Korrektur, alle Richtigsetzung, alle gerechte Betrachtung, gegen Daumers wahrheitsvolles Buch sowohl wie gegen Feuerbachs erleuchtete Seelenanalyse behauptet, und sämtliche beauftragten Chronisten und mittelmäßigen Skribenten, die noch viele Jahre nach dem Martertod des unglücklichen Findlings seinen Namen an den Pranger hefteten und mit Schmutz bewarfen, manchmal aus sehr trüben Gründen, wie man leider hinzufügen muß, berufen sich auf ihn. Denn es darf ja nicht vergessen werden, daß der Ruf einer Dynastie auf dem Spiele stand, noch immer. Das alles hielt ich meinem Kritiker vor, und da er unter anderm auch die lästerliche Fabel aufgetischt hatte, Caspar Hauser habe, weil ihm schließlich niemand seine albernen Erfindungen geglaubt, also gleichsam aus Reue und Verzweiflung, Selbstmord verübt, konnte ich mich nicht enthalten, ihm zu sagen, daß jeder, der an solcher Nachrede teilhabe, ebenso schuldig an dem Verbrechen gegen Caspar Hauser sei wie seine Mörder selbst.

Und so steht es eigentlich noch heute. Trotzdem an die bis zum Ende des vorigen Jahrhunderts hartnäckig in Wirkung verbliebene Betrügerlegende niemand mehr recht glaubt, sei es, weil das Ereignis und sein nach sentimentaler Biedermeier- und Räuberromantik schmeckender Verlauf allmählich selbst legendär geworden ist, sei es, weil eine immanente und langsam wachsende Wahrheit sich unwiderstehlich durchzusetzen beginnt, so hängt doch noch immer ein Dunstschleier des Mißtrauens über der Erscheinung und dem Schicksal Caspar Hausers. Aber es scheint, als ob von Zeit zu Zeit, nach Jahrzehnten des Schweigens, das Andenken an das »Kind von Europa« wie eine Flamme aus der Versunkenheit emporschlage, als ob da ein Gesetz der Periodizität walte; es scheint, als habe die gemordete Seele im Grab keine Ruhe und der Schatten müsse wandeln, bis Gerechtigkeit geworden ist.

5

Drei Figuren sind zu betrachten: Mittelstädt, der Professor; Meyer, der Lehrer; Feuerbach, der Mensch.

Die Hauptstütze der Zweifler und Leugner war das in den achtziger Jahren erschienene Buch von Mittelstädt, einem namhaften Juristen, Typus des phantasielos argumentierenden Vernünftlers, der in diesem Fall jedoch die sachliche Ruhe, die ihm hätte gemäß sein sollen, durchaus nicht bewahren konnte, sondern mit wahrer Teutonenwut daran ging, nicht nur die dynastische Legende und tragische Gloriole um Caspar Hauser zu zerstören, sondern auch mit der eisigen Sicherheit des Richters von Amts wegen »das Kind von Europa« als unverschämten Gauner bezeichnete und seine Anhänger, die früheren wie die zeitgenössischen, des Leichtsinns, der Albernheit, wenn nicht gar der absichtlichen Täuschung bezichtigte. Es ist vielfach die Meinung aufgetaucht, als habe Mittelstädt, vielleicht gutgläubig, vielleicht nicht, sein Buch im höheren Auftrag geschrieben, um die sich immer wieder regenden Stimmen der Anklage durch einen Akt forensischer Gründlichkeit endlich und endgültig zum Schweigen zu bringen. Das kann nicht mehr untersucht werden, die Motive, die ihn getrieben haben, werden ewig unerforschlich bleiben. Ob er als williger Advokat dunkler Hintermänner in die Schranken getreten ist oder nur erfüllt von der prinzipiensüchtigen Besserwisserei seines Standes, läßt sich heute nicht mehr sagen. Schaden genug hat er angerichtet. Sein Buch wurde mir immer wieder als das historische Standardwerk entgegengehalten, als unwiderlegliche Tatsachenquelle. Dagegen kam man nicht auf. In der Beziehung herrscht bei uns eine geradezu schülerhafte Unterwerfung. Wenn ein Professor redet, haben die Dichter das Maul zu halten. Er hatte Vorläufer, er hatte Nachfolger. Man hat bis zur Stunde nicht aufgehört, mit einem Eifer, von dem man nur vermuten kann, daß er dem schlechten Gewissen entsprang, denn auf natürliche und menschliche Weise läßt er sich kaum erklären, die Hauser-Gestalt mit Hilfe der sogenannten gesunden Vernunft und einem Aufgebot von mehr oder weniger fadenscheinigen Indizien durch den Kot der Verdächtigung und üblen Nachrede zu schleifen, als wäre der Vorwurf, den sein Schicksal bildet, ein immerwährendes Ärgernis. Hinzu kam ein dem Deutschen anerzogener Glaube an die Unantastbarkeit gekrönter Häupter. Skandal, Mord, Prinzenbeseitigung, schauerliche Dinge; man konnte im Notfall darüber tuscheln und die gekitzelte Neugier konnte sich bis zu einem gleichsam ehrfürchtigen Grauen steigern; in der Öffentlichkeit hieß es kuschen und schweigen. Das war bis zum Jahr 1918 nicht anders, also auch in der Zeit, in der der Roman erschien.

Lehrer Meyer. In ihm erkennen wir die tragende Säule des hundertjährigen Unwesens. Auf ihn, seine Aufzeichnungen, seine aktenmäßig geschriebene Darstellung beruft sich Mittelstädt, berufen sich, wie schon gesagt, alle diese Fanatiker, die aus ihrem Phantasiemangel einen Wahrhaftigkeitsdünkel machen, einen säuerlichen, mürrischen, von falschen und verfälschten Tatsachen, auch von mißverstandenem, strotzendem Richterhochmut (aus Rücksicht auf noch lebende Mitglieder der Familie hatte ich den Namen des Mannes in Quandt verwandelt, ich gestehe, es fiel mir schwer, auf die charakteristische Lautlichkeit zu verzichten, die allein schon einen Typus malt). Es ist über die Person dieses Chronisten und Biographen weiter kein Wort zu verlieren; schade um die, die ich bereits verloren habe. Zu denken gibt nur, daß ein ödes Machwerk wie die »Authentischen Mitteilungen über Caspar Hauser« immer wieder zur Bekräftigung der Anklage und Verleumdung herhalten müssen, während Friedrich Daumers pietätvolles und verständiges, obschon ein wenig überschwengliches Buch demgegenüber in eine schier absichtliche Vergessenheit geraten ist. Zugegeben, schon Daumer, obwohl Poet und Humanist, war zugleich auch Schulmeister, immer verführt, das Einfache, Kreatürliche, Kindhafte in Caspar Hauser einer Vorstellung davon zu opfern. Er sah nicht den Menschen, er sah nur seine Idee vom Menschen. Ein Schulfall, nicht bloß ein Schulmeisterfall, wir alle verkehren mit Menschen nach unserer Idee von ihnen. Auch der Freiherr von Tucher zeigte sich als bürgerlicher Pädagog von reinstem Wasser, auch bei ihm findet sich stets die armselige Verwechslung von Phantasielüge mit Zwecklüge, von Angstlüge mit Vorteilslüge. Überhaupt, was in dieser Bürgerwelt der Begriff Lüge für Unheil anrichtet! Aber den höchsten Triumph feiert doch die Schulmeisterei in der Respektabilität und Seelenverknöcherung des Ansbacher Lehrers. Der Mann hatte sicherlich die besten Absichten, er war von vornherein von seiner erzieherischen Aufgabe so erfüllt, wie es nur ein Lakai von seinem Dienst bei der angestammten Herrschaft sein kann. Er war in tiefster Seele so überzeugt davon, daß Caspar Hauser ein Schwindler sei, daß er sich, als der Jüngling mit der Todeswunde in der Brust sich vom Hofgarten nach Hause geschleppt hatte, zu dem beispiellosen Aberwitz verstieg, den er nachher auch urbi et orbi verkündete, Hauser habe sich selbst »ein wenig zu beschädigen« versucht, weil er in der letzten Zeit ein nachlassendes Interesse an seiner Person bemerkt habe, und dabei sei der Dolch »versehentlich« ein wenig zu tief gegangen. Wahrhaftig, die Nüchternen sind im Notfall phantastischer als alle Phantasten. Man kann sich in Deutschland nicht lächerlich machen, sonst wäre diese famose These durch das Gelächter unsterblich geworden, das sie hätte erregen müssen, und nicht durch ihren finsteren Ernst. Alle Meyers seit hundert Jahren haben daran geglaubt, und da kein Feuerbach mehr aufgestanden ist, um ihre unerlaubte Dummheit zu verspotten und ihre pöbelhafte Roheit zu züchtigen, läuft die Fabel nach wie vor durch alle gottverlassenen Hirne. Es gibt zwei verschiedene Geistesverfassungen, durch die die Menschen veranlaßt werden, das Ungewöhnliche zu leugnen: die der Aufklärerei und die einfache Denkfaulheit. Beiden liegt zugrunde die Unfähigkeit zur Anschauung. Ich kenne Leute, die das Sonnenklare nur darum in Abrede stellen, weil es so banal wäre, es zuzugeben (die Furcht vor Banalität hat unter mäßig begabten Geistern mehr Unheil angerichtet als man glaubt, und indem sie das Selbstverständliche durch einen meistens leicht zu durchschauenden Kunstgriff der Paradoxie aus der Welt hinausjonglieren, verdecken sie nur die Kraftlosigkeit ihres Auges und die Armut ihres Herzens); und ich kenne andere, die alles, was einem Wunder ähnlich sieht, leidenschaftlich von der Schwelle ihres Bewußtseins abdrängen (wobei sie sich eine verlogene, den Begriffen Zauberei und Schwindel ähnliche Vorstellung von Wunder zurechtgemacht haben), nur weil sie außerstande sind, ihr erstarrtes Weltbild zu korrigieren, und somit aufgehört haben, sich zu »wundern«. Tiefes Wort: sich wundern.

6

Und nun Feuerbach. Der große Kriminalist und Kriminalpsycholog war, wie jedermann weiß, der Ahnherr eines ganzen Geschlechts hervorragender Männer, des Philosophen Feuerbach, des Philologen Feuerbach, des Malers Feuerbach. Er selbst ist sicherlich eine der eminentesten Gestalten der deutschen Geistesgeschichte, Reformator des Rechts in einem hohen, humanen Sinn und im Denken und Handeln von einer exemplarischen Wahrhaftigkeit. Ich glaube, ich habe in dem oben zitierten Romanabschnitt ein ziemlich genaues Porträt seiner Person gegeben, kein wesentlicher Zug ist erfunden. In zwei bedeutenden und für jene Zeit beispiellos mutigen Publikationen, beide in jenem mustergültigen Deutsch abgefaßt, das damals zum selbstverständlichen Rüstzeug eines Schriftstellers von Rang gehörte und dessen Schönheit nur von seiner Präzision und messerscharfen Logik übertroffen wird, nahm sich Feuerbach der Sache Caspar Hausers an. Die eine ist ein »Memoire, übersandt an die Königin Karoline von Bayern«, die andere, ein wahres Meisterwerk psychologischer Untersuchung, nennt sich: »Caspar Hauser, Beispiel eines Verbrechens am Seelenleben des Menschen.« Mit eben jener Logik, furchtlos bis zur Selbstpreisgabe, wies er nach, daß Caspar Hauser ein legitimer und in frühester Jugend beiseite geschaffter Prinz des Hauses Baden sei, Bruder der Königin Karoline, Bruder der Herzogin von Hamilton, Bruder der Königin von Schweden. Die Konstellation war unzweideutig. Eine ehrgeizige Frau, dem Bruder des regierenden Fürsten zur linken Hand angetraut, strebt mit allen Mitteln nach der Herrschaft. Die rechtmäßige Fürstin, Stefanie von Baden, eine Beauharnais, Stieftochter Napoleons, hat ihrem Mann, dem Großherzog, vier Töchter und vier Söhne geboren. Die Töchter bleiben am Leben, die Söhne sterben kurz nach der Geburt, angeblich an Krankheiten, Feuerbach behauptet durch Mord. Mit Ausnahme eines einzigen, nämlich jenes, der fünfzehn oder sechzehn Jahre später in Nürnberg auftauchte (Caspars beziehungsvolle Träume nötigten schon damals zu der Annahme, daß er sich noch an eine früheste Kindheit in einem Schlosse erinnerte) und der zu Erpressungszwecken und, um den Auftraggebern die Hände zu binden, am Leben erhalten worden ist, aber gleichsam als stummer Zeuge nur, denn da man ihn in einem unterirdischen Gefängnis, bei Wasser und Brot und in Finsternis hat aufwachsen lassen, bildet allein seine Existenz eine Drohung, selbst zu zeugen vermag er ja nicht, dafür hat man gesorgt. Eine schmähliche und düstere Hofintrige im Stil des nahen achtzehnten Jahrhunderts, ebenso waghalsig wie unmenschlich, aber die Darlegungen Feuerbachs waren (und sind) so unmittelbar einleuchtend, so genau im Detail, so vertrauenerweckend in der Kenntnis der Verhältnisse, so gewissenhaft in der Aufzählung der Indizien und so unnachsichtig in den Schlußfolgerungen, daß sich auch damals kein Einsichtiger und Unparteiischer ihrer überzeugenden Gewalt entziehen konnte. Und Feuerbach wußte, was er aufs Spiel setzte. Er setzte einfach seinen Kopf aufs Spiel. Er verlor ihn auch bei dem Spiel.

Wie sich denken läßt, regte diese erstaunliche Anklage die Gemüter stürmisch auf. Trotz seines makellosen Rufes, der vorbildlichen Lauterkeit seines Charakters, trotzdem er eines der höchsten Staatsämter bekleidete, wagte man es, ihn als einen wider besseres Wissen gedungenen schreibenden Schergen der bayrischen Begehrlichkeit nach dem Lande Baden hinzustellen. Die Zeitungen rasten; damals standen die Journale im Sold und unter Aufsicht der Regierungen, wer den kleinsten Fürstenhof auch nur kritisierte, vergriff sich hoch und war seines Lebens nicht mehr sicher. Es regnete Gegenschriften, die von Gift und Haß strotzten; servile Federn sträubten sich empört über die einem Herrscherhaus angetane Schmach, durch die Verfolgungen der klerikalen und Hofparteien schon vorher verbittert genug, war Feuerbach dem Kesseltreiben kaum noch gewachsen, der Ekel zwang ihn, sich immer mehr von den Geschäften zurückzuziehen, und sein Tod, wenige Monate vor Hausers Ermordung, war nur die äußere Besiegelung seiner Niederlage, mag nun dieser Tod gewaltsam erfolgt sein, wofür alle Umstände sprechen, woran auch die Überlieferung in der Feuerbachschen Familie festhält, oder durch einen Schlaganfall, wie es offiziell hieß. Man kann aber schwerlich annehmen, daß das Schicksal den Drahtziehern einen so willkommenen Gefallen erwies, indem es ihren gefährlichsten Widersacher gerade in dem Zeitpunkt hinwegraffte, wo er sich auf einer Reise befand, die ihm wichtige Enthüllungen über das Caspar-Hauser-Geheimnis versprach. Jene Herrschaften hatten nichts zu fürchten, weder das Gesetz noch die öffentliche Meinung. Verantwortungen gab es keine. Das Leben des Bürgers oder vielmehr des Untertanen war nichts wert und nicht geschützt. So fiel Feuerbach, wie schon so viele andere gefallen waren und viele andere später fallen sollten (noch im Jahre 1878 wurde in Nürnberg ein Mordanfall auf den achtzigjährigen Daumer verübt, und zwar kurz vor der Veröffentlichung seines Caspar-Hauser-Buches), und die greulichen Machenschaften konnten ziemlich unbehindert weiter betrieben werden, die Stanhope, Meyer, Hickel und ähnliche dunkle Gesellen hatten freie Bahn.

7

Es gibt Beweise, die ihre Kraft und Schlüssigkeit einbüßen, wenn man sie führt. Was bewiesen werden soll, braucht hier nicht bewiesen zu werden. Es ist so grundlegend wie die Voraussetzung bei einer geometrischen Aufgabe. Die Reinheit der Erscheinung ist im Falle Caspar Hauser die Voraussetzung und das Absolute. Die Schuldlosigkeit liegt im Schicksal, enthüllt sich in ihm und ist geradezu ein Teil von ihm. Die einer menschlichen Seele unter bestimmten Lebensformen eingeborene Tragik ist ebenso unverkennbar wie der vor unsern Augen in einem Reagenzglas sich abspielende chemische Prozeß. Ich kann mir denken, daß der Schulmeister und Professor auch diesen leugnet, solange er nicht allgemein anerkannt ist und in staatlich approbierten Lehrbüchern nachgelesen werden kann, man hat es ja bei vielen Grenzphänomenen der Wissenschaft immer wieder erlebt. Bei der Konzeption des Romans und der Vision der Caspar-Hauser-Gestalt mußte mir die historische Grundlage schließlich ebenso gleichgültig werden, wie die kriminalistischen und genealogischen Forschungsergebnisse. Denn auch ohne die dynastische Legende blieb genug übrig: ein Menschenwunder, nicht mehr und nicht weniger. Um nicht mehr und nicht weniger ging es: Darstellung einer Menschwerdung und die Schuld der unbegreifenden Welt an der Zerstörung einer Seele. Diesen Vorgang konnte ich allerdings fast in seiner ursprünglichen Pragmatik aus der Geschichte in die Dichtung übertragen, selten gibt einem die Wirklichkeit solches Material in die Hand, auch die neuere psychologische Wissenschaft hat oft genug Anlaß gehabt, auf die tiefe innere Wahrheit der seelischen Verfassung und Entwicklung Caspar Hausers hinzuweisen, ich erinnere nur an ein bedeutendes Buch von Konstantin Brunner. In die Kampfarena mußte ich meinerseits erst treten, als die Figur selbst und als solche beargwöhnt, bezweifelt, negiert wurde, als dieselben Mittel, dieselben Verleumdungen, dieselbe Hetze wie Anno dazumal aufgeboten wurden, um die Erinnerung an ein Märtyrerschicksal zu besudeln, die Wahrheit einer Existenz in Lüge zu verkehren und sogar die Errichtung des geistigen Monuments, das sie im Andenken der Nation erhalten sollte, herostratisch zu hintertreiben. An jedem Blatt der Geschichte Caspar Hausers klebt Blut, und wie weit und wie tief die verbrecherischen Einflüsse gereicht haben, kann wohl niemals ganz aufgedeckt werden. Die Leugner des höfischen Schauerdramas und der prinzlichen Abstammung machen sichs leicht, sie lehnen sich an frühere Leugner an und beziehen sogar ihre moralische Entrüstung von ihnen, die schüchternen Einwände der Andersgesinnten verlieren sich dann in ihrem unanständigen und unlogischen Hohngeschrei. Es entbehrt aber nicht einer eigentümlichen paradoxen Komik, daß die Eingeweihten, Personen und Gesellschaftskreise, die seit jeher um die internen Vorgänge wußten, sei es durch Familientradition, sei es durch unmittelbare Erfahrung, daß sich die um den devoten Untertanenzorn der verschiedentlichen Professoren und Schulmeister ernsthaft nie gekümmert haben, sondern sich in aller Stille – mit ihrem Wissen begnügten. Manchmal auch nicht in der Stille. So hat Bismarck in seinen Memoiren die Caspar-Hauser-Affäre mit jener souveränen Beiläufigkeit erwähnt, die keinen Zweifel darüber läßt, daß er Hauser für einen legitimen Erben der badischen Krone hielt. Kurz nach dem Erscheinen meines Buches veröffentlichte Carmen Sylva, die Königin von Rumänien, im Berliner »Tag« einen Artikel, der unverblümt derselben Meinung Ausdruck gab. Die gesamte aristokratische Gesellschaft Europas hielt und hält heute noch an dieser Tatsache dermaßen fest, daß eine bloße Einschränkung unter informierten Personen nur als ein Zeichen der Unwissenheit gilt. Solche versteckte Überlieferungen innerhalb einer bestimmten Schicht sind ja nichts Seltenes, namentlich in Deutschland, wo die offizielle Geschichtsschreibung tatsächlich auf einem ganz andern Blatte steht als die inoffizielle (wer sich darüber einen ziemlich amüsanten Aufschluß verschaffen will, braucht nur in der teilweise allerdings veralteten, aber höchst ausführlichen und an Dokumenten überreichen Geschichte der deutschen Höfe von Vehse zu blättern, auch er nimmt ohne weiteres die badische Abkunft Hausers als bewiesen an). Eines Tages erhielt ich einen Brief aus der Privatkanzlei des Großfürsten Konstantin Michailowitsch (ich glaube mich in dem Namen nicht zu irren, der Brief ist mir leider verlorengegangen), darin wurde mir beweglicher Dank für das Caspar-Hauser-Buch ausgesprochen, ich erfuhr dann, daß dieser Herr, aus welchen Gründen weiß ich nicht mehr, seit vielen Jahren bemüht war, die irdischen Überreste Caspar Hausers aus dem Ansbacher Kirchhof in die Pforzheimer Erbgruft überführen zu lassen. Es war offenbar eine Sühne-Idee, vielleicht auch eine Art dichterisches Verklärungsbedürfnis, denn der Großfürst war ein Dichter. Was den Karlsruher Hof betrifft, so wußte man, daß der alte Großherzog jede Veröffentlichung über Caspar Hauser unweigerlich auf seinem Schreibtisch fand; er hatte sie nicht gefordert, es ließ sich niemals ergründen, wer sie hingelegt, sie war eben da. Die Großherzogin, abergläubisch, jedenfalls bis an ihr Lebensende schreckhaft empfindlich, schrieb jedes Unglück, das sich in der Familie ereignete, der Rache zu, die der Geist Caspar Hausers an ihrem Geschlechte nahm. Solche Gespenstereien haben natürlich keine Beweiskraft, immerhin sind sie nicht bedeutungslos; die Kenntnis davon verdanke ich der verstorbenen Fürstin Marie Erbach, die der Großherzogin nahe gestanden. Sie übergab mir auch kurz vor ihrem Tode ein Schriftstück, in welchem sie alle Umstände zusammenfaßte, die die badische Deszendenz Caspar Hausers über jeden Zweifel stellten. Als Schwester der Battenbergs, Nichte der Königin Viktoria von England, verwandt mit dem hessischen wie mit dem Zähringer Hof, kannte sie die Verhältnisse, wie sie nur ein zugehöriges Mitglied kennen kann, außerdem war sie durch und durch liberal und hatte die schädliche und überflüssig gewordene Geheimniskrämerei in der ganzen Angelegenheit niemals weder gebilligt noch begriffen.

Daß ich nach dem Erscheinen des Romans beinahe in einen Prozeß mit der Familie Stanhope verwickelt wurde, erwähne ich nur der Kuriosität halber. Die Nachkommen entrüsteten sich darüber, daß der Lord in dem Roman Selbstmord verübt, während sein Urbild nachweislich ruhig in seinem Bett verstorben war. Ich mußte ein Protokoll unterschreiben des Inhalts, daß der Stanhope des Buches und der Stanhope der Wirklichkeit nichts miteinander zu tun hätten. Ich bescheinigte es ohne Gewissensbisse.

8

Nun stehen die Dinge so. Die gültigen, die aufklärenden Dokumente, die den Fall Hauser aus dem Bezirk der Mutmaßung und des Meinungskampfes in den der Unumstrittenheit heben können, befinden sich zur Zeit in den Archiven eines fürstlichen Hauses in Ungarn. Die dritte Tochter der Großherzogin Stefanie hatte, wie schon erwähnt, einen Earl of Hamilton geheiratet, die Tochter aus dieser Ehe wurde einem österreichischen Fürsten vermählt, und diese Dame ist erst wenige Jahre vor dem Krieg gestorben. Ich habe sie nicht gekannt, aber mir ist glaubwürdig erzählt worden, daß sie aus ihrem Verwandtschaftsverhältnis zu Caspar Hauser nie ein Hehl gemacht habe, auch soll sie noch im Alter den überlieferten Hauser-Bildnissen verblüffend ähnlich gewesen sein. Vor etwa zwei Jahren bekam ich einen Brief eines Wiener Advokaten, der mich in der Hauser-Angelegenheit um eine Unterredung bat. Die Unterredung fand statt, ich lernte einen vornehmen und klugen Mann kennen, einen von der aussterbenden alten Garde, Sachwalter aristokratischer Familien, darunter auch jenes fürstlichen Hauses in Ungarn. Er hatte von der Lektüre des Hauser-Romans einen gewissen Eindruck erhalten, ließ sich von mir erzählen, wie weit meine Kenntnis der Verhältnisse ging, und im Verlauf des Gespräches stellte er mir den Einblick in die Archive des betreffenden Hauses als möglich in Aussicht, wenn der sehr bejahrte Chef der Familie, der sich jedem Versuch, das sorgfältig gehütete Geheimnis preiszugeben, hartnäckig verweigere, einmal die Augen geschlossen habe. Der junge Herr, der übrigens, so oft von Caspar Hauser gesprochen werde, ihn ganz gleichmütig als seinen Großonkel bezeichne, werde bestimmt leichter zugänglich sein.

Deutlicher zu sein ist mir leider verwehrt. Ich habe nur zu sagen, daß wir durchaus nicht mehr auf die kleinen Indizien angewiesen sind, auf all das fruchtlose Hin und Her und Wenn und Aber, da doch die unumstößliche Wahrheit nicht nur im Bewußtsein von so vielen lebt, sondern auch dokumentarisch erhärtet werden kann. Finge man wieder an derselben Stelle zu forschen an, wo der furchtsame Schulmeister bereits vor hundert Jahren angefangen hat, so hätte man einen langen Weg vor sich, der schließlich in dieselben Labyrinthe des Irrtums und der Hypothese führen würde wie damals. Die Rücksicht auf das badische Haus besteht nicht mehr, nicht etwa deshalb, weil dieses Haus kein regierendes mehr ist und man da auftrumpfen dürfte, wo man früher allzu bereitwillig geschwiegen hat, sondern weil die Verhehlung und die Vertuschung sinnlos geworden sind. Die Familie hat in dem Jahrhundert seit dem Auftauchen des Findlings, an dessen tragischem Geschick und Untergang ihr, oder vielmehr ihren Kreaturen, ein so erheblicher Anteil zugeschrieben worden ist, viele ausgezeichnete Männer und Frauen hervorgebracht, und ihrer ist die ganze Schauerballade um Caspar Hauser nicht mehr recht würdig. Sie ist nicht mehr zeitgemäß.

Der Schatten will zur Ruhe gelangen.


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