Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

21

Ein Kriminalbeamter trat ein, um eine Meldung zu machen.

»Ich glaube, man hat den alten Minns umgebracht, Sir.«

Mary schrie erschrocken auf.

»Ja, zu Minns lief der Maskierte, Väterchen«, wandte sie sich an Henry.

»Wo ist denn Minns?« erkundigte sich Dick.

»In der Küche des Nebenhauses, Sir. Ich glaube, man hat ihn erschossen.«

Kurz darauf befand sich Dick an der Seite des verwundeten Dieners, der immer noch bewußtlos und dessen Rock voller Blut war.

»Lassen Sie mich mal nachsehen«, bat Mary. »Ich glaube nicht, daß er schwer verletzt ist«, erklärte sie nach kurzer Untersuchung. »Es ist aber besser, wir lassen ihn in ein Krankenhaus bringen.« Sie verband die Wunde.

»Wie kann das passiert sein?« rief Dick aus.

»Blicken Sie in den Anrichteraum. Dort werden Sie die Erklärung finden.«

Das Bett, in dem Minns zu schlafen pflegte, war zur Seite gerückt, und im Fußboden zeigte sich eine schmale Öffnung. Der Raum lag direkt über dem geheimnisvollen Weinkeller von Derricks Haus.

Früher mußte der Keller beiden Häusern gemeinsam gedient haben. Darauf deutete auch, wie Dick sich jetzt erinnerte, die Tatsache hin, daß Tommys Haus überhaupt kein Kellergeschoß besaß. Dieser Umstand war ihm schon damals, als er davon Kenntnis bekommen hatte, aufgefallen. Während er noch damit beschäftigt war, die Falltür genauer zu untersuchen, trat Mary an ihn heran.

»Auf diesem Wege sind wir immer ins Haus gedrungen«, sagte sie. »Minns ließ uns ein.« Als sie seinen fragenden Blick auffing, schüttelte sie den Kopf.

»Nein, den unterirdischen Gang haben wir nur ein einziges Mal benutzt. Der arme Minns!«

»Warum aber, Mary?«

»Er kannte Mr. Walter Derrick schon von früher her, als sie gemeinschaftlich als Diener in einem reichen Haus in Kapstadt arbeiteten.« Sie nickte ernst. »Du vermutest richtig. Walter Derrick ist der Mann, den du unter dem Namen Cornfort kennenlerntest, Dick. Der andere Walter Derrick –«

»... ist Hermann Lavinsky?« ergänzte Dick. »Ich dachte es mir. Sicher wurde ich mir aber erst, als ich ihn heute abend, nach der Schießerei in seinem Haus, vor meiner Haustür wiedertraf. Wir, er und ich, sind beide nicht sehr schlau gewesen. Ich, weil ich ihn nicht sofort festgenommen habe, und er, weil er glaubte, ich hätte es nicht bemerkt, daß weder vor seiner noch vor Tommys Haustür nasse Fußstapfen zu sehen waren, obwohl es den ganzen Abend heftig geregnet hatte. Als ich ihn vor der Haustür traf, wußte ich sofort, daß er nicht draußen gewesen sein konnte. Er hätte doch sonst Fußspuren auf der Treppe vor Tommys Haus hinterlassen müssen.«

Außer Minns' war noch ein anderer Unfall zu beklagen, wie Dick jetzt erst erfuhr. Sobald der Lärm des Feuergefechts an ihre Ohren gedrungen war, hatten die auf der Straße verteilten Kriminalbeamten einen konzentrischen Angriff auf die »Garage« unternommen. Als sie die Umzingelung vollendet hatten, rief sie jemand aus dem Garten an und bat sie, sofort hereinzukommen. Kaum waren zwei der Beamten durch das Tor, als sich dieses hinter ihnen schloß. Sie hatten noch alle Hände voll zu tun, um es wieder aufzubrechen, als sie bereits den Lärm eines angeworfenen Motors hörten. Ein dritter Beamter, der draußen geblieben war, wollte sich dem flüchtenden Wagen in den Weg werfen und war für seinen Pflichteifer überfahren worden.

»Walter Derrick ist bestimmt nicht in sein Hotel zurückgekehrt; die einzige Möglichkeit, ihn zu fassen, ehe er noch mehr Unheil anrichten kann, würde eine Benachrichtigung der Polizei von Sussex sein.«

»Du glaubst also auch, daß er versuchen wird, nach Keyley durchzubrechen?« fragte Mary. »Ich bin der gleichen Ansicht. Wahrscheinlich hat er alles sorgfältig vorbereitet. Zweimal konnte ich ihn beobachten, als er ein Motorboot mit einem starken Motor ausprobierte. Wo er es aber untergebracht hat, davon habe ich keine Ahnung.«

Nun erst stellte Dick die Frage, die ihn beschäftigt hatte.

»Warum hast du nicht sofort die Polizei von der ganzen Sache benachrichtigt, Mary?«

»Diese Frage ist leicht beantwortet«, entgegnete sie. »Das war das einzige, was wir nicht tun durften. Vergiß nicht, daß Mr. Cornfort – unter welchem Namen du ihn kanntest – ein entflohener Sträfling ist. Er hatte in Rhodesien eine lebenslängliche Zuchthausstrafe wegen Mordes zu verbüßen.«

Dick fuhr zurück. Entsetzt starrte er das Mädchen an.

»Aber Kind, dann muß er doch sofort verhaftet werden!« rief er aus.

»Das wird wohl stimmen«, gab Mary zu.

Es war schwierig, die Sussex-Polizei zu erreichen, und es dauerte über eine Stunde, ehe sie die richtige Stelle ans Telefon bekamen, die die Fahndung auf Derrick anordnen konnte. Nun erst erfuhr Dick, daß Keyley gar nicht in der Grafschaft Sussex, sondern in Surrey gelegen war.

»Das dauert nun nochmals eine Stunde«, fluchte Staines, »ehe wir die Leute von Surrey alarmieren können. Wir werden uns selbst nach Keyley auf die Strümpfe machen.«

Mittlerweile war auch Bourke eingetroffen, der, wie es Dick vorkam, über die Ereignisse keineswegs erstaunt zu sein schien.

»Wir müssen uns einen schnellen Wagen besorgen«, begann Dick, aber Mary fiel ihm ins Wort.

»Er wartet schon an der Ecke auf uns«, erklärte sie. »Es ist der unsrige, denn wie sollten wir es sonst fertiggebracht haben, schneller als Tommy in London zu sein oder deinen Zug zu überholen, wenn wir uns kurz vorher in Brighton oder sonstwo unterhalten hatten?«

»Wer steuert ihn denn?«

Sie lachte, und er konnte ihr die stumme Antwort glauben, denn er war noch niemals im Leben so schnell gefahren wie in jener Nacht, als Mary am Steuer saß, und der Rennwagen wie der Blitz auf dem Weg nach Keyley dahinraste. Hin und wieder glaubte Dick einen Unfall schon unvermeidlich, aber Henry de Villiers beruhigte ihn immer wieder.

»Meine Tochter ist eine ganz sichere Fahrerin«, meinte er. »Sie hat in Afrika drei Rennpreise gewonnen.«

Nach unglaublich kurzer Zeit kam der Wagen vor dem Tor von Keyley zum Stehen, wobei Dick einen erleichterten Seufzer hören ließ. Die letzten Kilometer waren in völliger Dunkelheit zurückgelegt worden, da Mary es für besser gehalten hatte, die Scheinwerfer auszuschalten.

»Es wird nicht viel nützen, denn er hat uns sicher gehört«, erklärte sie. Auch die drei Kriminalbeamten, die die Höllenfahrt mitgemacht hatten, dankten ihrem Schöpfer, daß er sie lebend ans Ziel gebracht hatte. Geräuschlos, einer hinter dem andern, schlichen sich die Fahrtteilnehmer den Pfad entlang, immer den Blick auf das völlig dunkel daliegende Haus gerichtet.

Dick zweifelte nicht einen Augenblick daran, daß sich der Gesuchte hier befand. Er hatte mit Hilfe seiner Taschenlampe auf dem Sand der Zufahrtsstraße frische Reifenspuren gesehen. Als sie die Haustür erreicht hatten, sahen sie auch den Wagen, der den Flüchtling hierhergebracht haben mußte.

Während sie noch beratschlagten, welche Wege sie weiterhin einschlagen sollten, blitzte hinter den Erdgeschoßfenstern ein Lichtschein auf. Es mußte, wie Dick zu wissen meinte, der Salon sein.

Jetzt öffnete jemand die Haustür. »Walter Derrick« stand auf der Schwelle, die eine Hand dick verbunden. Er war in Hemdsärmeln.

»Kommen Sie nur herein, meine Herrschaften«, lud er seine Verfolger leutselig ein. »Ich sah Ihre Scheinwerfer und hörte auch Ihren Motor. Haben Sie den armen Cornfort mit hier? Nein? Schade! Wen habe ich vor mir? Miss Jane oder Miss Mary de Villiers? Und auch mein lieber, alter Freund Henry, der ›Rollstuhlführer‹? Hm, hm!« Er wandte seinen Besuchern den Rücken zu und trat in den Salon zurück. »Sie brauchen den Revolver wirklich nicht, de Villiers«, erklärte er lächelnd, aber seine Worte machten auf »Henry« keinerlei Eindruck. Der bläulich schimmernde Lauf der Schußwaffe blieb genau auf Derricks Herz gerichtet. »Nun werden Sie mich wahrscheinlich verhaften wollen, nicht wahr? Und darf ich fragen, auf Grund welcher Beschuldigung?«

Er stellte die Frage so, daß man glauben mußte, er habe für die Antwort nur wenig Interesse.

»Vor allen Dingen wollen wir erst einmal mit der für Mord anfangen«, erklärte Dick. »Dann käme auch noch Ihre gesetzwidrige Aneignung einer fremden Identität in Betracht. Der Mord dürfte aber für den Augenblick genügen.«

Derrick zuckte die Achsel.

»Ich glaube, Herr Inspektor, Sie werden doch noch einige Schwierigkeiten bei Ihrem Unternehmen haben. Wenn ich wirklich ein Mörder wäre, muß ich dann auch ein Esel sein? Ich hätte Sie persönlich mehr als einmal ins Jenseits befördern können, mein lieber Staines. Henry? Na, was ist mit ihm? Die Bombe? Glauben Sie wirklich an eine dramatische Ader bei mir? Natürlich würde so eine Handgranate ein gutes Mittel gewesen sein, Sie alle aus dem Wege zu räumen, aber – komme ich denn wirklich als Täter in Betracht? Bitte, schließen Sie doch die Tür! Es zieht!«

Ein Beamter schloß auf einen Wink Dicks die Tür, während ein zweiter sich am Fenster aufstellte.

»Ich bin unbewaffnet, wozu also diese melodramatische Szene, de Villiers, die Sie da mit Ihrem Revolver aufführen?« Derrick blickte direkt in die Mündung des Revolvers. »Was wird nun jetzt?«

Unzweifelhaft war etwas mit dem Mann geschehen; er schien Schmerzen zu leiden; sein Gesicht wurde immer hagerer, seine Lustigkeit war gezwungen.

»Sind Sie verletzt?«

Derrick schüttelte den Kopf.

»Nicht so schlimm«, erwiderte er. »Wieviel Jährchen werde ich wohl bekommen? Sieben? Na, unter falschem Namen reisen ist doch kein Kapitalverbrechen.«

»Das langt nicht ganz«, erwiderte Dick. »Ich beschuldige Sie auch des Mordes an Lordy Brown.«

»Kein Mensch sah mich die Tat begehen. Der Mann war in mein Haus eingebrochen und bewaffnet. Ich hatte das Recht, ihn zu töten; vorausgesetzt, ich wäre es wirklich gewesen. Darf ich Sie darauf aufmerksam machen, daß Sie auch für diese Anschuldigung keinen Beweis haben? Ferner möchte ich darauf hinweisen, daß Mr. de Villiers oder seine Tochter, die sich in jener Nacht ebenfalls unrechtmäßigerweise in meinem Haus befanden, ebensogut als Täter in Frage kommen könnten. So viel verstehe ich doch vom Gesetz, mein lieber Herr Inspektor, daß Sie nicht die geringsten Beweise haben, um mich zum Galgen zu senden.«

Dick wußte das besser, als jener ahnte. Derrick bemerkte den nachdenklichen Zug um Staines' Mund und lachte.

»Ich begrüße Sie als meinen Wohltäter«, kicherte er. »Jener Schuß, den Sie mir nachsandten, hat mir viel Gutes getan. Sie wundern sich? Gut, Sie werden bald erfahren, was ich meine. Haben Sie noch etwas gegen mich vorzubringen?«

»Eine Kleinigkeit wäre noch zu erwähnen, Mr. Hermann Lavinsky«, warf Dick mit ruhiger Stimme ein. »Wie steht es mit dem Mord von Slough? Man hat einen alten Kassierer kaltblütig niedergeknallt und beraubt. Auf der Mordwaffe fand man den Daumenabdruck des Täters. Eine Woche später verließen Sie England unter dem Namen Cleave und begaben sich nach Südafrika.«

Wieder das verschmitzte Lächeln des Angeschuldigten.

»Und der Beweis für Ihre Andeutungen?«

»Den haben wir. Ein Abdruck Ihres Daumens wird ihn uns bestätigen und genügen, eine Verurteilung herbeizuführen.«

Derrick lachte. Dann begann er, den Verband langsam von seiner Hand abzuwickeln. Ein Blick Dicks genügte, um ihn zurückschrecken zu lassen. Der Schuß, den er dem Flüchtigen nachgesandt hatte, war diesem zum Heil geworden. Er hatte alle Möglichkeiten, Derrick den Mord von Slough zu beweisen, zerstört. Der Daumen war völlig zerschmettert.


 << zurück weiter >>