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16

Mr. Walter Derrick bekannte sich selbst zu einem ziemlich sorglosen Charakter.

»Mein Gleichmut«, erklärte er dem Berichterstatter des ›Post Herald‹, der ihn wegen der geheimnisvollen Ereignisse im Hause auf dem Lowndes Square interviewte, »besteht zu neun Zehnteln aus Faulheit. Ich bin ein Mensch, der sich niemals um ungelegte Eier kümmert. Ja, mein Haus ist alles mögliche, nur nicht ein normaler Wohnsitz. Alle Tage passiert dort etwas anderes. Vorige Woche findet man dort einen Mann ermordet, der erst ein paar Tage vorher aus Afrika gekommen ist, um eine alte Freundschaft mit mir aufzufrischen. Gleich darauf wird eine Wand im Salon so gut wie demoliert, und wenn ich Berichten glauben soll, die mir mein Freund, Inspektor Staines von Scotland Yard hat zukommen lassen, dann hätte sich vor einigen Nächten dort beinahe wieder eine Tragödie abgespielt.«

»Im Haus soll es auch spuken!« erklärte der Reporter.

»Ja, mein Wächter schwört, er habe den Geist meines Vaters gesehen. Das ist natürlich Unsinn und wahrscheinlich auf einen Trick zurückzuführen.«

»Was mögen denn die Einbrecher suchen?« wollte der andere wissen.

Derrick lachte.

»Das, wonach unser Sehnen geht: Geld! Inspektor Staines meint, daß mein Vater einen großen Teil Seines Vermögens im Hause verborgen habe. Möglich ist es natürlich, und es wäre besser, ich fände es und nicht ein Einbrecher. Dann würde wenigstens der Staat nicht um die Erbschaftssteuer betrogen werden. Ich glaube jedoch nicht daran, daß mein verstorbener Vater so etwas getan hat. Er starb plötzlich und konnte daher auch mit niemand über seine Hinterlassenschaft sprechen. Ich bin aber überzeugt, er würde es mir mitgeteilt haben, wenn er das Geld wirklich irgendwo im Hause verborgen hätte.«

Dick Staines las diesen Bericht in der Zeitung, während er noch im Bett lag. Die Selbstschußflinte war genau untersucht und als Jagdgewehr erkannt worden, dessen Lauf man abgesägt hatte.

»Das ist mein Gewehr«, rief Derrick überrascht aus, als ihm Staines die Waffe zeigte. »Ich habe es in Keyley gefunden, als ich das Landhaus kaufte. Seit Monaten habe ich die Waffe nicht mehr gesehen. Doch! Ja! Ich zeigte sie Lord Weald, als er das letztemal bei mir zu Besuch war, und er riet mir, sie ins Altertumsmuseum zu schicken.« Nachdenklich starrte Derrick auf das todbringende Gewehr. »Ich habe in Keyley noch ein Pulverhorn, das zu dem Gewehr zu gehören scheint, aber Kugeln waren keine dabei.«

Flüsternd beugte er sich vor: »Wissen Sie, Mr. Staines, was ich mir vorgenommen habe?« fragte er. Als Dick den Kopf schüttelte, fuhr er fort: »Ich werde eine ganze Woche lang in meinem Gespensterhaus wohnen und selbst die Schatzsuche aufnehmen. Meine Diener wollen natürlich nicht mit, so daß ich nur mit Larkin sein werde.«

»Soll ich Sie begleiten?« wollte Dick wissen.

»Ich dachte schon daran, Sie darum zu bitten«, sagte er. »Sie werden natürlich nicht alle Bequemlichkeiten haben, die Ihnen in Tommys Haus geboten werden können, aber dafür gibt es bei mir mehr Abenteuer.« Sie waren vor dem Haus angelangt. Ehe Derrick hineinging, meinte er: »Erzählten Sie mir nicht vom alten Inspektor Endred, der hier so gut Bescheid weiß? Darf ich ihn mal aufsuchen, um mit ihm einiges zu besprechen?«

»Kennen Sie ihn denn nicht?« erkundigte sich Dick erstaunt.

»Nein, ich erinnere mich seiner nicht. Er scheint zwar meinen Vater gut gekannt zu haben, wird mich aber, da ich bis zu meinem siebzehnten Lebensjahr in Northumberland in die Schule ging, kaum gesehen haben.«

Derricks Haus war so ziemlich wieder in Ordnung gebracht.

Am Nachmittag sprach auf Derricks Wunsch Inspektor Endred in Zivilkleidung bei ihm vor.

»Meine Besuche mache ich immer in Zivil«, erklärte er dem Hausherrn. »Ich bin einer von den Altmodischen und verwechsle Dienst niemals mit Vergnügen.« Neugierig blickte er sich im Salon um. »Fünfzehn Jahre muß es her sein, seit ich zum letztenmal hier war. Eine lange Zeit! Fünfzehn Jahre!?« Er zeigte auf einen altmodischen Lehnstuhl, der neben dem Kamin stand. »Dort saß Ihr Vater am liebsten.«

»Wir sind uns, glaube ich, nie begegnet, wie?« sagte Derrick.

»Nein, Sie waren in der Schule. Ein einziges Mal kamen Sie nach London, aber ich war gerade auf Urlaub. Ihren Vater kannte ich sehr gut. Er war ein sehr netter Mensch, nicht gerade leutselig, aber doch so, daß ich ihn achten mußte.« Auf eine Frage Derricks erklärte er: »Nein, ich hatte keine Ahnung, daß er sich wieder verheiratet hatte. Wußten Sie davon?«

»Nein, für mich bedeutete die Nachricht ebenso eine Neuigkeit.« Dann wandte er sich einem andern Thema zu. »Wie lernten Sie denn meinen Vater eigentlich kennen, Herr Inspektor?«

»Durch seine Fingerabdrucksammlung. Ich stand mit ihm, bis ich zur N.-Abteilung versetzt wurde, in reger Korrespondenz. Nebenbei bemerkt, Mr. Derrick: Ich bin derselben Meinung wie Ihr Vater. Auch ich glaube, entgegen der allgemeinen Meinung, daran, daß Fingerabdrücke sich doch wiederholen.«

»Mein Vater glaubte an Doubletten in dieser Beziehung?«

»Ja, und mit Recht. Er hatte Fingerabdrücke zu Tausenden. Von Verbrechern, anständigen Leuten, Pastoren, Bankbeamten usw. Wo immer er es durchführen konnte, besorgte er sich den Handabdruck aller Leute, mit denen er in Berührung kam. Sie lachten ihn aus, obwohl auch die besten unter uns eine gewisse Antipathie dagegen haben, ihre Fingerabdrücke herzugeben. Auch ich schreckte ein wenig davor zurück, als er mich darum für sein ›Familienbuch‹ – so nannte er seine Kartei – bat. Er hatte außerdem noch ein kleines rotes Büchelchen mit Lederecken, in dem er alle Abdrücke aufbewahrte, die von Personen seines Haushalts der eigenen Hand, Ihrer, der Haushälterin, meiner –, kurz alle aufbewahrte, die mit ihm in Berührung kamen.« Er schwieg.

Nachdenklich starrte Derrick vor sich hin. Dann sagte er: »Natürlich, jetzt erinnere ich mich des Buches. Ich muß fünfzehn Jahre alt gewesen sein, als er mich in sein Arbeitszimmer rief und meine Fingerabdrücke für das Buch abnahm ...«

»Ja, vier Finger und den Daumen, genauso wie es bei der Polizei gehandhabt wird. Ihr Vater war in dieser Beziehung ein wirklicher Fanatiker.«

Der Sohn des »Fanatikers« seufzte.

»Ja, das war er. Die Episode war mir ganz aus dem Gedächtnis entschwunden. Das Buch habe ich seither nicht zu sehen bekommen.«

»Irgendwo hier im Haus muß es sein«, gab der Inspektor zurück. »Seltsam, daß Sie es noch nicht gefunden haben, Mr. Derrick.«

Der Hausherr schaute zum Fenster auf die Straße hinaus, wo ein Pferd, unbeaufsichtigt gelassen, sich mit dem Milchwagen auf die Wanderschaft begeben hatte und gemütlich durch die Straßen schlenderte.

»Das ist unvorsichtig«, meinte Derrick, auf das Gefährt zeigend. »Das rote Buch? Ja, ich erinnere mich; eine Art Album. Ob auch die Fingerabdrücke meiner Mutter darin waren?«

»Nein, ich glaube nicht. Ihr Vater fing ja erst nach dem Tode Ihrer Mutter an, Fingerabdrücke zu sammeln.«

Bald darauf ging Endred. Als er auf die Straße trat, stieß er auf Staines.

»Na, Endred«, begrüßte ihn Dick neugierig, was wohl Endred mit Derrick besprochen haben mochte. »Stimmt hier irgend etwas nicht?«

»O nein. Ich habe mich nur mit Mr. Derrick über alte Zeiten unterhalten.«

»Ach, ja, ich erinnere mich, ihm Ihre Adresse gegeben zu haben.« Die beiden gingen zusammen weiter.

»Sie gehen wohl auch zum Yard, Staines? Ich werde in fünfunddreißig Tagen pensioniert und ...«

»Ja, Ihren silbernen Teepott bekommen Sie, Endred, darauf können Sie sich verlassen«, schnitt ihm Dick lachend das Wort ab. Er rief ein Taxi und schob den alten Inspektor, obwohl jener protestierte, in den Wagen. »Ja, ich weiß, man soll viel zu Fuß gehen«, erstickte er des alten Mannes Widerrede, »aber man soll es auch nicht übertreiben. Wie geht es denn Mr. Derrick?«

»Das ist ein feiner Mann«, urteilte Endred. »Einer vom alten Schlag. Ich erwähnte, daß ich pensioniert würde und ...«

»... er erbot sich, hundert Pfund zu spenden?«

»Sogar noch mehr: Hundert Guineen. Woher wissen Sie das?«

»Ich ahnte es«, erklärte er schmunzelnd.

»Wir sprachen über die Fingerabdrucksammlung seines Vaters«, setzte Endred nach einer Weile die Wiedergabe seines Gesprächs mit dem noblen Derrick fort: »Er konnte sich nicht einmal auf das Familienalbum besinnen.«

»Was ist das für ein Album gewesen?« erkundigte sich Dick.

Nun folgte dieselbe Aufklärung, wie sie Endred dem Sohn des alten Sammlers gegeben hatte.

»Was?« Staines sah seinen Begleiter, als dieser geendet hatte, an: »Erinnern Sie sich des Buches? Wessen Abdrücke waren denn noch darin enthalten?«

Endred nannte die Namen, soweit er sich ihrer erinnern konnte.

»Das sind sie, glaube ich alle, d. h. wenn nicht nachher noch einige aufgenommen wurden.«

Aber Staines hörte schon nicht mehr zu. Er klopfte an die Scheibe und ließ den Wagen anhalten. Sie befanden sich in der Nähe Scotland Yards.

»Ich muß hin«, erklärte er Endred. »Der Chef hat mich bestellt.«

Dick verließ ihn und ging zu Fuß dem Yard zu. Am Eingang sah er einen alten Mann stehen, der ihm bekannt vorkam.

»Henry??!« rief er erstaunt aus.

Ja, er war es, der hier, gemächlich an seiner Pfeife saugend, auf den Fluß hinausblickte.


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