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15

Tommy Weald setzte sich gemächlich in den Lehnstuhl seines Hotelzimmers und machte eine geistige Inventur. Es mochte viele geben, die bei ihm keine besondere Intelligenz vermuteten, aber gleichwohl war Tommy klüger als mancher andere. Er war nicht übermäßig reich, dazu war er zu sorglos mit seinem Geld umgegangen. Er hatte es aber fertiggebracht, das reduzierte Vermögen seines Vaters wieder auf eine beträchtliche Höhe zu bringen. Seine Sachverwalter hätten manches Stück von ihm erzählen können, wie er die Börse dazu gebracht hatte, ihm das Geld wiederzugeben, das der Vater verspielt hatte. Vielleicht war es gerade sein harmloses Aussehen, das die Leute täuschte. Man hatte ihm »Tips« gegeben, weil man mit »seiner geistigen Beschränktheit« Mitleid zu haben schien. Die Spekulationen hatten sich als glücklich herausgestellt, und sein Vermögen hatte nach und nach immer mehr zugenommen.

Er hatte einer seiner Erbtanten die Verlobung mitgeteilt. und daraufhin folgendes Glückwunschschreiben erhalten:

»Es ist natürlich dringend notwendig, sich nach den Eltern Deiner Braut zu erkundigen. Viele junge Mädchen haben das beste Benehmen und sind demzufolge schwer von wirklichen Damen aus guter Familie zu unterscheiden ...«

Die Antwort Tommys auf diesen Brief war alles andere als parlamentarisch. Er heirate Mary und nicht ihre Familie; es mache ihm gar nichts aus, wenn ihr Vater sein Leben etwa durch Lumpensammeln friste, und in diesem Ton weiter. War er aber allein, dann wurde ihm beim Gedanken an die geheimnisvolle Vergangenheit seiner zukünftigen Gattin doch etwas unheimlich. Das Leben bestand doch nicht aus lauter Sonnenschein, wie er eine Zeitlang in der ersten Liebesfreude geglaubt hatte.

Langsam verstrich die Zeit. Tommy wurde es langweilig, und so kam es, daß er eine Viertelstunde zu früh vor dem Haus der Geliebten eintraf. Das Warten war in dem langsam, aber ununterbrochen herabrieselnden Regen gerade keine angenehme Beschäftigung. Den einzigen Zeitvertreib lieferte ein Betrunkener, der singend und mit sich selbst außerordentlich zufrieden, die Gegend unsicher machte.

Aus dem nächtlichen Schatten des Gartens löste sich eine Gestalt und kam auf den Wartenden zu.

»Oh, mein armer Tommy«, flüsterte Miss Dane, denn sie war es, dem triefenden Liebhaber zu, »ich hatte keine Ahnung, daß es regnete. Wie rücksichtslos von mir! Ich hätte schon lange hier sein können, wenn ich mich ein wenig mehr beeilt hätte!«

»Schadet nichts, Liebling«, tröstete sie der galante Lord. »Wenn ich mit dem Kommen gewartet hätte, bis es aufhörte zu regnen, dann hätte ich dich wahrscheinlich heute abend überhaupt nicht zu sehen bekommen. Wie geht's denn dem alten Gerippe, dem Cornfort?«

»Er schläft. Er ist immer so furchtbar müde!« Das Mädchen hakte sich in seinen Arm ein.

Sie spazierten trotz des Regens im Garten auf und ab, bis das Mädchen endlich auf eine Schaukel aus Zeltleinwand wies, die ihnen als Regenschutz dienen konnte. Gemeinsam nahmen sie unter dem improvisierten Dach Platz. Tommy umarmte seine Braut. Lange saß sie schweigend da, bis Tommy sich aufrichtete.

»Mary, mein geliebtes Mädchen, ich habe dich etwas Wichtiges zu fragen.«

Sie seufzte. »Vor deinen Fragen habe ich Angst«, erwiderte sie.

Aber er ließ sich nicht von seinem Vorsatz abbringen.

»Bist du in Dick Staines sehr verliebt, Mary?«

Sie schien sich die Antwort zu überlegen.

»lch habe ihn sehr gern«, gab sie endlich zu. »Soweit ich ihn kenne, ist er wirklich ein netter Mensch.«

Er räusperte sich, ehe er die Frage stellte, von deren Beantwortung sein persönliches Glück abhing.

»In allem Ernst, Mary: Bist du nicht in ihn verliebt? Ich will dich natürlich nicht beleidigen, aber er ist doch ein hübscher Mann, und ich ... ich bin dagegen ein Ekel! Du weißt, na, du weißt, was ich sagen will! Ob du nicht vielleicht doch mit ihm glücklicher ...«

»Du sprichst Unsinn, Tommy«, rügte sie. Etwas wie Trotz klang aus ihrer Stimme. »Ich kenne niemand, den ich mehr als dich liebe. Glaubst du mir nun?«

»Was?« fragte der vorsichtige Bräutigam. »Daß du niemand kennst, den du mehr liebst als mich?«

»Natürlich kenne ich niemand. Ich liebe dich! Warum, weiß ich nicht. Das weiß überhaupt kein Mädchen, warum es gerade den einen Mann liebt.«

Für Tommy war ihre Antwort zu hoch. Er liebte keine ungeklärten Fragen. Er ging allem auf den Grund. Wie kam es, daß seine Braut, ihm, Tommy, in Dick Staines' Gegenwart so steif gegenübertrat?

»Na, es wird schon stimmen, was du sagst, Mary«, gab er endlich großmütig zu. »Ich hatte mir wirklich Sorgen gemacht, Liebling. Du und Dick, ihr scheint euch so gut zu verstehen, daß ich oft mehr als eifersüchtig wurde.«

Das Mädchen drückte zärtlich seinen Arm und tadelte ihn: »Dann hast du dich eben wie ein kleines Kind benommen«, urteilte sie.

Conforts Haus stand an einer Straßenkreuzung und war rings von einem mit niedrigem Gebüsch eingefaßten Garten umgeben. Die beiden Verliebten konnten von ihrem Sitzplatz die Gartentür im Auge behalten, denn gegen den dunklen Horizont hob sich alles plastisch ab.

Tommy hatte ausnehmend feine Ohren. Er war es, der die Gartentür leise öffnen und wieder schließen hörte.

»Wer kommt denn da?« fragte er.

Sie befreite sich aus seiner Umarmung und stand auf.

»Hörtest du etwas, Tommy? wollte sie wissen.

Ehe er noch ihre Frage beantworten konnte, tauchte vor ihnen eine Männergestalt auf, die hinkend den Weg überquerte und gleich darauf im Gebüsch verschwunden war.

»Heiland«, flüsterte der Lord erregt. »Das war doch der alte Cornfort?« Er kannte dieses hagere Gesicht, die wirren grauen Haare, die Adlernase ...

»Sagtest du nicht ...«, wandte er sich an das Mädchen.

»Unsinn, Tommy«, gab sie unwirsch zurück. »Mr. Cornfort schläft. Das war ein anderer Pensionär des Hauses, der da eben vorbeiging.«

»Du schwindelst, süße Mary. Wenn das nicht eben der weiland oder beinahe weiland Mr. Cornfort war, fresse ich einen Besen.«

Für einen Augenblick schien sie die Fassung zu verlieren.

»Vielleicht hast du auch richtig gesehen«, gab sie endlich zu. »Warum soll er nachts nicht auch ein wenig bummeln gehen?« Er bemerkte, daß ihre Stimme zitterte, als sie diese Worte sprach. Plötzlich riß sie sich von Tommy los, lief über den Rasen und verschwand gleich darauf im Haus. Nach wenigen Minuten schon trat sie wieder heraus. In ihrer Begleitung befand sich der alte Henry, den Tommy verwundert betrachtete. Der Rollstuhlführer Cornforts war für den Lord ein Mensch voller Rätsel gewesen; stets hatte er ihn in Begleitung seiner Braut gesehen und war zu der Meinung gelangt, daß der Alte als lebendes Mobiliar mit in Kauf genommen werden müsse. Mary und Henry flüsterten aufgeregt miteinander, und Tommy glaubte sogar »Verdammt noch einmal« verstanden zu haben. Nun eilte auch der Rollstuhlführer auf die Straße hinaus, und Mary setzte sich wieder.

»Wir brauchen uns den Kopf nicht zu zerbrechen«, meinte sie. »Mr. Cornfort hat öfter einmal derartige Anwandlungen von Energie. Ich bin nicht sehr erbaut von seinen Ausgängen, denn wie leicht kann er dabei einen Anfall bekommen und stürzen.«

»Was ihm natürlich nicht sehr gut bekommen würde«, urteilte der Lord. »Der alte Cornfort! Stell dir einmal vor, Mary: Den ganzen Tag läßt er sich im Rollstuhl herumkutschieren, um nachts zu Fuß Eskapaden zu unternehmen?!«

»Das Laufen tut ihm unserer Meinung nach gut«, erklärte die Pflegerin des Alten unruhig.

Ihm schien es, als spannte sie ihre ganze Aufmerksamkeit an, um jeden Laut von der Straße her aufzufangen. In der Nähe hörte man den Lärm von Fehlzündungen eines Motorrades, und das Mädchen erschrak so, daß sie beinahe das Gleichgewicht verloren hätte.

»Horch, Tommy!« flüsterte sie. »Was war das?«

»Klingt wie ein Motorrad«, beruhigte er sie und legte den Arm um ihre Schultern. Sie zitterte wie Espenlaub.

»Ich bin so ein Angsthase«, stotterte sie, »wenn ich nur den Mut aufbringen könnte ...«

»Du hast Mut zur Genüge«, erklärte er. »Natürlich wird man nervös, wenn man den ganzen Tag hinter einer alten Ruine wie Cornfort hertrotten muß. Und ...«

Der Klang eines Revolverschusses drang unmißverständlich an die Ohren des jungen Paares.

»Oh, Tommy«, rief das Mädchen erschreckt aus, »warum hat er es nur getan?« Schritte ließen sich hören, die näher und näherkamen.

»Lassen Sie mich los«, befahl eine ärgerliche Stimme. Gleich darauf wurde die Gartentür geöffnet, und Mr. Cornfort wurde buchstäblich hereingeworfen, dicht hinter ihm folgte Henry, der sofort die Tür wieder verschloß.

»Was ist denn hier los?« erkundigte sich der Lord näselnd.

Henry wandte sich der Stimme zu: »Nichts, Mylord«, gab er höflich Auskunft. »Ist es nicht gefährlich, hier draußen zu sitzen, Miss?« richtete er das Wort an Mary.

»Was war denn los?« fragte sie leise.

»Jemand treibt sich hier herum«, lautete die Auskunft. »Haben Sie, Mylord, als Sie kamen, jemand bemerkt?«

»Ja, draußen torkelte ein Betrunkener herum«, erwiderte Tommy, der sich des singenden Mannes von vorhin erinnerte.

Ein Schutzmann tauchte auf und blieb stehen, als er die Gesellschaft im Garten sah.

»Haben Sie nicht eben auch Schüsse gehört?« fragte er.

»Nein, Sir«, entgegnete Henry. »Es war ein Motorrad, dessen Fehlzündungen Sie wahrscheinlich für Schüsse hielten.«

Wie zur Bestätigung klang auch jetzt von ferne der Lärm der Explosionen. Das Rad schien sich rasch zu entfernen; der Lärm wurde immer schwächer und verstummte endlich ganz.

»So, so, das war es also, was ich hörte«, seufzte der Polizist erleichtert. »Seit der verdammten Bombenwerferei muß man hier ständig auf der Hut sein.« Er patrouillierte weiter.

Henry wandte sich an Tommy: »Ich glaube, Sir, es ist besser, wenn Sie jetzt gehen.«

Noch ehe der Lord etwas erwidern konnte, rief jemand vom Hause her: »Schnell! Lassen Sie sich verbinden.«

Es war der alte Cornfort. Die Stimme war kräftig, gar nicht wie die eines todkranken Mannes.

»Sind Sie verwundet?« fragte das junge Mädchen beinahe weinend.

»Nein«, erwiderte Henry. »Nur eine Kleinigkeit, kaum ein Ritz. Ich habe mich an einem Dornbusch verletzt.« Er hielt krampfhaft seinen linken Unterarm fest.

»Du bist verwundet, mein Liebling«, rief das Mädchen dem alten Henry zu. Tommy staunte. »Liebling?« Seit wann sprach man einen Rollstuhlführer mit »Liebling« an?

»Sie irren sich, Miss Dane«, erklärte der alte Mann fest. »Wollen Sie, Lord Weald, nun, bitte, den Garten verlassen?«

»Gute Nacht, Tommy!« Das Mädchen bot ihm die Lippen zum Abschied. »Ich bin heute abend so furchtbar nervös, Geliebter. Ich hätte niemals ...«

Ehe er sie fragen konnte, was sie meine, war sie verschwunden. Er stand wie vom Donner gerührt. »Verdammt komisch«, sprach er laut vor sich hin und machte sich auf den Weg ins Hotel zurück. Er hielt seine Augen offen, um den Betrunkenen wiederzusehen, aber er begegnete nur einem untersetzten Mann, der wohl eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Sänger haben mochte, jedoch vollständig nüchtern war.


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