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8

Dick kehrte nach Hause zurück.

»Nein, es war niemand hier, Sir«, beantwortete Larkin Staines' Frage.

»Hat man Sie auch telefonisch nicht wieder beauftragt, nach Timbuktu zu fahren?« scherzte Dick.

»Das wird mir nicht mehr passieren, Sir. Ich habe mit Mr. Derrick ein Codewort vereinbart. Ohne dieses werde ich keinen wie immer gearteten indirekten Befehl meines Herrn ausführen.«

»Daran tun Sie recht«, stimmte ihm Dick zu. Er lächelte, als er Larkin sich alle Augenblicke furchtsam umblicken sah. »Ist das Gespenst wieder unterwegs?« fragte er.

»Nein, Sir; nicht, daß ich wüßte. Ich bin nur ein bißchen nervös geworden.«

Die Aussicht, hier eine zweite Nacht zu verbringen, schien ihn keineswegs mit Entzücken zu erfüllen. Dick fuhr nochmals in den Yard, um zu erfahren, ob dort etwas Neues vorläge. Er war auf der Rückfahrt nach dem Lowndes Square auf der Höhe der South London Station angekommen, als er ein Mädchen die Straße überqueren sah, das ihn sofort seinen Wagen stoppen ließ. Noch ehe er hinspringen konnte, war die Gesichtete verschwunden. Sie konnte nur in den Bahnhof eingetreten sein. Es war Mary Dane oder ihre Doppelgängerin. War sie nicht schon am Bahnhofseingang vorbei gewesen, als er sie zuerst erblickt hatte? Sie war und blieb verschwunden.

Er mußte sich unbedingt vergewissern, ob es Mary gewesen war, und er erinnerte sich nun, daß er ja ihre Adresse in Bognor kannte. Sicherlich war in dem Haus Telefonanschluß!

Kaum hatte er sein Zimmer betreten, als er bereits das Gespräch anmeldete. Wenige Minuten später hatte er die gewünschte Verbindung. Eine männliche Stimme beantwortete seine Frage nach Miss Dane.

»Ich will nachsehen, ob sie im Haus ist«, versprach der Mann am anderen Ende der Leitung. »Warten Sie, bitte, einen Augenblick!«

Beinahe zitternd vor unterdrückter Aufregung hielt Dick den Hörer ans Ohr gepreßt.

»Sie wollten mich sprechen, Mr. Staines?« hörte er plötzlich Miss Dane fragen.

»Sind Sie es selbst, Miss Dane? Ja? Hier spricht Staines.«

Er hörte ein helles Lachen. Dann:

»Was wollen Sie denn, Mr. Staines? Sie wollten wohl Tommy an den Apparat haben? Er sitzt nämlich draußen vor der Haustür und hält Wache.«

»Tommy?«

»Ja, Tommy! Er ist der ausdauerndste Mensch, den ich jemals kennengelernt habe. Was wollen Sie denn von mir?«

»Nichts Besonderes. Ich glaubte Sie vor wenigen Minuten hier in London gesehen zu haben.«

»So?« Der Hohn war unverkennbar. »Sehen Sie noch immer Gespenster? Was für eine Langeweile müssen Sie doch haben, wenn sich derartige Grillen bei Ihnen entwickeln.«

Ohne ein weiteres Wort hängte sie ab, ihn wie ein gescholtenes Kind vor dem toten Apparat stehenlassend.

Er begab sich auf den Balkon und erkundigte sich nach Larkins Befinden. Der Mann schien mutiger geworden zu sein.

»Ich glaube nicht, daß Ihr Schlaf heute nacht unterbrochen werden wird, Sir. Unsere Einbrecher werden heute wohl kaum kommen.«

Dick hoffte es, denn er war müde, ohne sich erklären zu können, warum er so abgespannt sein mochte. Er zog sich aus und war nach wenigen Minuten fest eingeschlafen. Der helle Tag schien schon ins Zimmer, als ihn endlich die laute Stimme Minns aus dem Schlummer weckte.

»Guten Morgen, Sir. Haben Sie gut geschlafen?« Er wartete die Antwort auf die Frage nicht ab, sondern fuhr fort. »Die Klingel hat sich nicht hören lassen, Sir?«

»Nein, Wir blieben beide unbelästigt.«

»Die Milchflasche Larkins steht noch vor der Haustür«, berichtete der Kammerdiener, dem Dick von seiner Klingelinstallation Mitteilung gemacht hatte. »Er scheint für einen Nachtwächter einen mehr als gesunden Schlaf zu haben, Mr. Staines. Gewöhnlich läuft er schon vor sechs Uhr morgens herum; heute hat er sich aber noch nicht sehen lassen.«

»Wahrscheinlich schläft er so gut, weil er wußte, daß ich in seiner Nähe und Rufweite war«, gab Dick ohne besonderes Interesse zurück.

Er trat auf den Balkon hinaus und blieb dort erschrocken stehen. Vor ihm lag die sauber durchschnittene Klingelleitung, die sein Schlafzimmer mit dem Larkins verbunden hatte. So schnell wie möglich eilte er ins Zimmer zurück und kleidete sich notdürftig an; dann schwang er sich über die Balkonbrüstung und begann die Kletterpartie ins Nebenhaus. Das Bett Larkins war leer und sicherlich auch gar nicht benutzt worden. Auf dem Schreibtisch lag die Taschenuhr, auf dem Fußboden die Schußwaffe des Wächters. Übles ahnend, öffnete Dick die Tür und rief nach Larkin. Alles blieb still. Vorsichtig stieg er über die Treppe in die Küche hinab, nicht ohne vorher einen Blick in den unverschlossenen Salon zu werfen. Der Raum war in gewohnter Ordnung; nur in der Nähe des Kamins erblickte Dick ein Bündel Leintücher, das gestern noch nicht vorhanden gewesen war. Wie kamen diese Tücher hierher? Hatte Larkins in diesem Zimmer geschlafen? Dick trat näher an die Feuerstelle heran und sah, daß unter dem Bündel ein Männerstiefel hervorragte. Mit einem einzigen Griff hatte er die Hüllen zur Seite gerissen. Erschrocken fuhr er zurück. Eine bluttriefende Gestalt lag dort, deren Hände zum ewigen Schlummer über der Brust gekreuzt waren. Das Gesicht des Toten war lang und hager, die sonst braungetönte Haut von marmorner Blässe.

»Lordy Brown?« flüsterte Staines entsetzt vor sich hin. »Mein Gott!«

Er kniete neben dem Toten nieder und öffnete dessen Rock. Jemand schien versucht zu haben, die Todeswunde zu verbinden, denn eine blutbefleckte Bandage verbarg die Verletzung. War der Samariter – oder handelte es sich um eine Samariterin – gestört worden? Neben der leblosen Gestalt Lordys lag eine halbgefüllte Flasche mit Jodtinktur, deren Inhalt wohl beim Anlegen des Verbandes benutzt worden war. Einige Zentimeter weiter entdeckte Staines ein kleines Besteckkästchen, wie es Krankenschwestern benutzen, und darin eine Visitenkarte, die an das Futter geheftet war und folgende Worte trug:

 

»Von R. T. an M. D.
Väterchen wünscht Dir ein frohes Weihnachten.«

 

»M. D.?« Leise flüsterte Dick die Buchstaben vor sich hin. »M. D.? Mary Dane?!«

Ohne zu zögern, rief er Scotland Yard an. Bourke beantwortete seinen Anruf persönlich.

»Ich bin in zehn Minuten dort, Staines. Durchsuchen Sie inzwischen die anderen Zimmer.«

Auch die Küche verriet kein Zeichen von Larkins Anwesenheit. Nur die kümmerlichen Reste seines gestrigen Abendessens lagen auf dem Tisch. Vom Wächter war im ganzen Haus keine Spur zu entdecken. Er war verschwunden und blieb es.

Sämtliche übrigen Zimmer des Hauses waren verschlossen, wie Dick sie am gestrigen Nachmittag verlassen hatte. An der Haustür waren weder Kette noch Riegel vorgelegt; der Schlüssel steckte im Schloß. Endlich erschienen die Beamten in Begleitung Bourkes.

»War er schon tot, als Sie ihn fanden?« lautete die erste Frage an Staines.

»Ja.«

»Wer mag ihn verbunden haben?«

»Ja, wenn wir das wüßten.«

»Er ist erschossen worden«, meinte Bourke, nachdem er die Wunde geprüft hatte. »Der Pulvergeruch liegt jetzt noch in der Luft. Wir wollen warten, bis der Arzt seinen Bericht abgibt. Dann werden wir ja die Todesursache kennenlernen. Wie heißt er? Lordy Brown, nicht wahr?«

Die Taschen des Toten wurden durchsucht; die Ausbeute war gering. Lordy schien in London verschiedene Adressen gehabt zu haben. Schlüssel oder Dietriche, die auf die Art seines Eindringens ins Haus hinweisen konnten, wurden nicht gefunden. Der Arzt erschien und untersuchte die Wunde, die er einem Revolverschuß zuschrieb. Nun erst, nachdem er wieder gegangen war, machten sich die Beamten an die Durchsuchung des Hauses. In Lordys Hüfttasche hatte man einen geladenen Browning und einen Zettel gefunden, der in der fehlerhaften Orthographie des Verstorbenen folgende Worte aufwies:

»Hyde Park – Makazin – Bricke, grünes Licht – links – 11.30 – viertel vor zwölf – Mr. Pinkey.«

»Sie sind doch so eine Art Hellseher, Staines«, scherzte Bourke. »Entziffern Sie doch diese Kritzeleien.«

»Ich werde mir den Zettel abschreiben und mich dann in aller Ruhe an seine Entzifferung machen«, erwiderte der Inspektor.

Als der Tote weggeschafft worden war und die beiden Beamten allein waren, erkundigte sich Bourke:

»Haben Sie den Hausbesitzer benachrichtigt, Staines?«

»Noch nicht«, erklärte Dick. »Ich hielt es für besser, zu warten, bis Sie kämen.«

»Rufen Sie ihn jetzt an«, ordnete der Chef lakonisch an und entfernte sich, um Larkins neues Schlafzimmer näher zu untersuchen.

Als Dick den Hörer abhob, um sich mit Keyley verbinden zu lassen, meldete sich statt des Fernamtes Bourke.

»Hier oben ist die Hauszentrale, Staines«, machte er seinen Inspektor aufmerksam. »Ich habe mich eingeschaltet, um Ihnen das mitzuteilen.«

Kurz darauf meldete sich Walter Derrick.

»Bitte, kommen Sie umgehend nach London«, bat ihn Dick. »Erinnern Sie sich des Mannes Brown, den ich Ihnen gegenüber erwähnte?«

»Natürlich. Er war gestern hier, um mich zu sprechen. Meine Leute haben mir, als er schon wieder weg war, Bescheid gesagt. Ins Haus wollte er nicht kommen; warum, das weiß ich nicht. Was ist denn schon wieder mit ihm los? Hat er wieder etwas ausgefressen? Ich glaubte, er sei hiergewesen, weil er mich anpumpen wollte.«

»Nein, er wird kein Geld mehr gebrauchen«, gab Dick zurück. »Er ist verunglückt.«

»Was?« Die Stimme Derricks klang wie geborstenes Glas. »Ist er ... tot?«

»Ja, wir haben ihn tot in Ihrem Salon gefunden.«

Ein entsetzter Ausruf Derricks drang an sein Ohr.

»Soll das etwa ein Witz sein?« fragte der Hausherr. »Er versuchte wohl einzubrechen, wie? Sie wissen doch, daß ich ihm alles zutraue.«

»Was er hier bei Ihnen wollte, vermag ich jetzt noch nicht zu sagen, Mr. Derrick. Jedenfalls wurde er hier erschossen.«

Eine lange Pause trat ein. Dann klang wieder Derricks Stimme:

»Was sagt denn Larkin aus? Hat etwa er ihn erschossen? Larkin trug ja einen Revolver bei sich.«

»Larkin ist spurlos verschwunden.«

»Um Himmels willen! Schöne Geschichten! Ich komme so schnell wie möglich.«

»Wissen Sie, wo Larkin sein könnte?« wollte Dick wissen.

»Nicht die geringste Ahnung. Ich kann mich im Augenblick nicht einmal auf seine Privatadresse besinnen.«

Ehe ihn Dick noch bitten konnte, Lord Weald mitzubringen, hatte Derrick angehängt. Bourke trat ein.

»Haben Sie den Salon durchsucht, Staines? Etwas gefunden?«

Einen Augenblick zögerte Dick, dann zog er das neben dem Toten gefundene Verbandsbesteck aus der Tasche.

»Jemand wollte Brown nach dem Schuß verbinden«, sagte er. »Hier dieses Besteck fand ich neben dem Toten. Die Samariterin scheint geprüfte Krankenschwester gewesen zu sein.«

»Ja, auch mir machte der Verband diesen Eindruck«, gab Bourke zu.

Eingehendst untersuchte er das Etui, fand aber, da Dick es schon vorher entfernt hatte, das verräterische Kärtchen mit der Widmung nicht. – Warum Staines dieses »Corpus delicti« seinem Chef vorenthielt, vermochte er in diesem Augenblick nicht zu sagen. Eine innere Stimme warnte ihn davor.

Etwas später meldete sich ein erster Zeuge, ein Würstchenverkäufer, der seinen Stand in der Nähe des Lowndes Square aufgeschlagen hatte und dort während der Nacht Chauffeuren und andern Nachtdienstleuten Erfrischungen verkaufte. Er kannte Larkin, der öfter bei ihm vorsprach, genau und hatte ihn aus dem Hause kommen sehen. Wie der Mann weiter erzählte, hatte ihm der Wächter im Vorübereilen zugerufen, daß er es eilig habe, denn er müsse nach Kings Cross Bahnhof, um mit dem Mitternachtszug nach Liverpool zu fahren.

»Ist Derrick schon hier?« fragte Bourke, als der Zeuge wieder entlassen worden war.

»Ja, eben ist er eingetroffen«, erwiderte Dick, der mit dem Chef auf der Diele stand. »Er scheint ganz von Sinnen zu sein und weiß nicht, was hier eigentlich gespielt wird.«

»Dann geht es ihm genauso wie uns«, meinte Bourke ruhig.


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