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6

Dick hatte eben das Aktenstück in die Registratur zurückbringen lassen, als sein Telefon klingelte:

»Sind Sie es, Staines?« Es war die Stimme Walter Derricks.

»Ja, hier Inspektor Staines. Gibt es etwas Neues?«

»Nein, Gott sei Dank, nicht. Ich rufe nur an, um Sie einzuladen, morgen und übermorgen das Wochenende bei mir in Godalming zuzubringen. Ja, Weald will auch kommen. Nein, nur wir drei, sonst niemand. Sie werden sich zwar langweilen, Staines, aber es ist jetzt wirklich herrlich hier draußen. Also kommen Sie, ja?«

Dick hatte nichts Besonderes vor und nahm die Einladung an. Er wollte eben anhängen, als er sich der Begegnung mit Lordy entsann:

»Ich traf gestern einen alten Freund von Ihnen, Derrick«, sagte er.

»Einen alten Freund von mir? Wer soll denn das gewesen sein?« Die Frage klang verwundert.

»Ich gebe Ihnen morgen einen genauen Bericht, Derrick. Jedenfalls war es ein ganz merkwürdiges Pflänzchen.«

»Dann scheint es sich doch um einen Freund von mir zu handeln«, lachte er. »Männlich oder weiblich? Oder gar mein Familieneinbrecher?«

»Nein, so interessant ist der Mann wirklich nicht.«

Ehe Staines London verließ, erkundigte er sich bei der »Union Castle Line«, ob Lord Brown wirklich Passagier der »Glamis Castle« gewesen sei. Weder in den Listen dieses Schiffes noch eines andern, die in den letzten Wochen von Kapstadt in London eingetroffen waren, fand er den gesuchten Namen. Brown mochte es wohl für richtiger gehalten haben, inkognito zu reisen, um die Kapstadter Polizei über seine Absichten im unklaren zu lassen. Wie Dick wußte, wurde Kapstadt seit Monaten von einer Einbruchsepidemie heimgesucht, und es war leicht möglich, daß Mr. Lordy Brown der Boden Südafrikas zu heiß geworden war und er es vorgezogen hatte, Kapstadts Klima mit einem ihm zuträglicheren zu vertauschen. Daß er der Polizei der Kapkolonie von seiner Absicht keine Mitteilung hatte machen wollen, war begreiflich und erklärte auch die Tatsache, daß er Dick Browns Namen nicht in den Passagierlisten finden konnte. Mittlerweile war telegrafisch auch Browns Strafregisterauszug aus Kapstadt angefordert worden und eingetroffen. Er wies nicht nur zwei, sondern mindestens ein Dutzend Vorstrafen auf. Sogar in der belgischen Kongokolonie hatte Lordy auf längere Zeit eine Zelle beziehen müssen.

 

Das Landhaus Derricks lag an der Grenze von Sussex und Surrey, ganz in der Nähe von Singleton. Es war klein, aber mit allem Komfort der Neuzeit versehen. Derrick, der Staines persönlich vom Bahnhof abholte, erkundigte sich interessiert nach dem Stand der Angelegenheiten in London und besonders nach seinem Haus am Lowndes Square. Hinsichtlich der letzten Frage konnte ihn Dick beruhigen. Er hatte sich nochmals zum Lowndes Square begeben und beide Wächter auf ihren Posten gefunden.

»Die ganze Sache«, gab Derrick zurück, »hängt mir schon zum Hals heraus. Wenn die Herren Einbrecher wirklich hinter dem verborgenen Vermögen meines Vaters her sind, so scheinen sie doch ebensowenig zu wissen, wo es steckt, wie ich. Ich will nächstens einen Baumeister beauftragen, sachgemäß zu suchen. Vielleicht lassen mich die Leute mit ihren unerwünschten Besuchen dann endlich in Frieden.«

Tommy erwartete die beiden Ankömmlinge und drückte seinem Freund die Hand.

»Endlich einmal Aussicht, diesen ledernen Landaufenthalt ein wenig abwechslungsreicher zu gestalten«, meinte er.

»Ihr Urteil ist für mich nicht sehr schmeichelhaft«, lachte der Gastgeber.

Aber Tommy fand es nicht einmal der Mühe wert, sich zu entschuldigen.

»Es ist schon so, Derrick«, gab er zurück. »Erst das Fegefeuer, sämtliche Verwandten aufsuchen zu müssen, und dann als Abschluß eine Einladung hierher, in Herrengesellschaft. Wie großartig könnte ich mich dagegen jetzt in Bognor amüsieren. Dick, das Mädchen ist wirklich entzückend.«

»Wer hat denn nun schon wieder Ihr Herz in Besitz genommen, Tommy?« fragte Derrick lachend.

Staines wußte auch ohne die Antwort Lord Wealds, wer die betreffende Dame war. Er hatte keine Lust, die Unterhaltung über dieses Thema fortzusetzen.

Der Abend wurde wirklich so langweilig, wie Tommy befürchtet hatte. Der Hausherr schien müde und mißgestimmt zu sein. Tommy gähnte sich von Gang zu Gang durch, wenn er nicht gerade damit beschäftigt war, von jener »himmlischen« Krankenpflegerin Cornforts zu schwärmen. Endlich wurde auch der Gastgeber aufmerksam.

»Wo kann man denn diesen Engel in Menschengestalt einmal besichtigen?« wollte er wissen. »Kennen Sie die Dame?« fragte er Dick.

Einsilbig gab es der Gefragte zu: »Auch Sie kennen sie, Mr. Derrick. Ihr Wagen hätte beinahe der jungen Dame den Lebensfaden abgeschnitten.«

»Ach so, die Dame von Brighton?« meinte Derrick, endlich verstehend.

»Der Teufel hätte Sie geholt, wenn Sie den ›Engel‹ überfahren hätten, Derrick«, gähnte Tommy. Gleich darauf verabschiedete er sich von den andern unter dem Vorgeben, er sei zu müde, noch länger hier zu sitzen. Als ihm Derrick anriet, sich schlafen zu legen, folgte er diesem Rat, ohne zu zögern. Dick und der Hausherr machten noch einen Spaziergang im Park, der im vollen Mondlicht dalag.

»Hier vergißt man sogar, daß es so etwas wie Scotland Yard gibt«, bemerkte Derrick. »Keine Verbrecher, keine Diebe, nichts!«

Über den Rasen huschte eine schattenhafte Gestalt. Lachend wies der Gast mit dem Finger auf sie.

»Und der Iltis, der dort eben vorbeiraste?« fragte er. »Auch hier der Kampf ums Dasein, Mr. Derrick! Selbst im Paradies fehlte die Schlange nicht.«

»Ja«, erwiderte der andere, »das Vieh treibt sich auf seiner Suche nach meinen Hühnern schon seit ein paar Tagen hier herum. Wer ist denn dieser merkwürdige Freund von mir, den Sie gestern getroffen haben wollen?«

»Ach, mich interessiert die Sache«, erwiderte Dick und lachte leise vor sich hin. »Kennen Sie einen gewissen Lordy Brown?«

»Brown?! Ja, der Name klingt mir allerdings bekannt. Wer ist denn der Mann? Ein Artist?« –

»Ja, wenigstens wo es sich darum handelt, die Taschen seiner Mitmenschen zu erleichtern. Können Sie sich der Zeit erinnern, als Sie in Afrika von einem Löwen angefallen wurden, Mr. Derrick? Aus jenen Tagen stammt die Bekanntschaft mit Lordy Brown.«

»Ach, der Mann, der mich fand? Ein Mensch mit außerordentlich hagerem Gesicht und kleinen, kugelrunden Augen? Spricht immer von sich und seiner Ehrlichkeit? Ja, den kenne ich, hielt ihn aber für tot. Wo sind Sie ihm denn begegnet?«

»Ich traf ihn zufällig, hätte aber von seinem Hiersein wahrscheinlich doch auf dienstlichem Wege erfahren. Meiner Abteilung untersteht ja die Überwachung unerwünschter Fremder, und Browns Sündenregister ist derartig, daß man ihn wohl als solchen bezeichnen darf.«

»Und er gab sich Ihnen gegenüber für einen meiner Freunde aus?« Derrick lachte. »Mir gefällt seine Frechheit. Er hat mich zwar gefunden, aber auch die Gelegenheit benutzt, aus meinem Zelt ein Pfund Gold mitzunehmen, das mein Kamerad und ich mühselig ausgewaschen hatten.«

»Nein, davon sprach er nicht«, gab Dick lachend zu. »Ich kann es aber gut und gern glauben, was Sie mir da von ihm erzählen.«

Derrick erinnerte sich nach und nach aller Begleitumstände seiner »Freundschaft« mit Lordy.

»Er besitzt wirklich eine mehr als gewöhnliche Frechheit«, sagte er. »Ich sein Freund? Daß ich nicht lache! Hat er Ihnen gesagt, daß ich ihn beinahe hätte verhaften lassen? Er kam als steckbrieflich Verfolgter zu uns, und ich sandte einen Boten nach der fünfzig Meilen entfernten Polizeistation, um ihn festnehmen zu lassen. Er hatte wohl Lunte gerochen und verschwand rechtzeitig unter Mitnahme des erwähnten Goldes. Nein, Mr. Staines, der Mann ist eher mein Feind. Hätte er sich zur Zeit der Einbrüche schon in England befunden, würde ich ihn ohne weiteres für verdächtig erklärt haben. Ihm traue ich diese Einbrüche eher zu als jedem andern, denn ...« Er unterbrach sich, und ließ die Gründe, die ihn zu seiner Annahme bewegten, unausgesprochen.

»Aufsuchen wird er Sie wohl auf jeden Fall«, meinte Dick. »Er wohnt im Howfolk Hotel in der Nähe des ›Strand‹. Ich glaube, er ist im ›Druck‹.«

»Von mir wird er nichts erben«, erklärte Derrick. »In Afrika hat er, wie ich mich jetzt zu erinnern glaube, ein paarmal wegen Erpressung gesessen. Wenn er es wagen sollte, mein Haus zu betreten, werde ich ihn festnehmen lassen. Mit meinem südafrikanischen Partner Cleave hat er sich allerdings besser vertragen als mit mir. Der arme Cleave! Er verschwand eines Tages spurlos in der Wüste, wahrscheinlich hat ihn ein Löwe gefressen. Ja, ich erinnere mich an Brown. Er versuchte, auch in Kapstadt Erpressungen zu verüben, aber er war an die falsche Adresse gekommen und mußte brummen. Sein Vorleben würde Stoff zu einem Roman abgeben. Er will mich besuchen? Nun, dann wird er mir wohl schon geschrieben haben, und der Brief wird in der Stadt liegen. Ich werde ihn aber doch empfangen, und zwar nächsten Donnerstag auf dem Lowndes Square.«

Erst am Sonntagnachmittag kam er wieder auf das Thema zurück.

»Bitte, machen Sie doch ausfindig«, bat er Dick, »ob Brown schon wegen Einbruchs vorbestraft ist. Vielleicht wäre es gut, wenn wir uns versicherten, ob er an den Einbrüchen in meinem Stadthaus unbeteiligt war.«

Den Sonntagnachmittag pflegte Derrick zu verschlafen. Für Tommy Weald war die Aussicht, den schönen Nachmittag hier zu verbringen, unfaßbar. Er winkte Dick verstohlen zu.

»Draußen steht mein Wagen, Freund meines Herzens. Komm, wir fahren nach Bognor.«

»Hast du auch dort Verwandte?«

Tommy kicherte verschmitzt vor sich hin.

»Nein, ich will in der Hoffnung hin, Mary Dane zu treffen. Sie fährt ja dauernd mit dem alten Idioten am Strand auf und ab. Sie wird sich freuen, uns zu sehen. Jedesmal, wenn ich ihr begegne, fängt sie von dir zu sprechen an, ergeht sich in Lobeshymnen über deine Klugheit und wundert sich, daß Leute wie du sich bei der Polizei wohl fühlen können.«

Es bedurfte keines großen Zuredens mehr, um Dick zu dem Ausflug zu verleiten. Es schien, als bliebe die Fahrt vergeblich, denn die beiden Freunde spazierten über zwei Stunden am Strand von Bognor auf und ab, ohne daß sich das Mädchen auch nur von fern blicken ließ. Erst als Tommy verdrießlich an die Heimkehr mahnte, und sie sich eben auf den Rückweg begeben wollten, tauchte die Erwartete auf, wie immer den Krankenstuhl begleitend. Sie schien sich über die Anwesenheit der Freunde gar nicht zu wundern.

»Ich habe Sie schon seit langem beobachtet«, teilte sie den Überraschten mit. Tommy schien für sie nicht vorhanden zu sein, denn sie richtete ihre Worte ausschließlich an Dick: »Sind Sie wieder hinter der Dame mit dem imitierten Goldbleistift her?« Sie warf Tommy einen anzüglichen Blick zu, den dieser verlegen quittierte. Als keine Antwort erfolgte, fuhr sie fort: »Was haben Sie denn aus jenem schrecklichen Menschen herausgepreßt, Mr. Staines? Haben Sie ihn denn an jenem Abend wirklich getroffen?«

Tommy lief hinter den sich eifrig Unterhaltenden her, als gehöre er nicht dazu. Für ihn wurde die Fahrt nach Bognor zur Enttäuschung.

»Der Arzt hat Mr. Cornfort eine Kur in Clacton empfohlen«, teilte Mary Dane Dick im Laufe des Gesprächs mit. »Wir fahren erst nach Margate und von dort weiter nach Clacton on Sea.«

»Was fehlt Mr. Cornfort eigentlich?« wollte Staines wissen.

Er hatte zwar für den alten Herrn nur wenig Interesse, wollte aber Mary seine Gleichgültigkeit nicht merken lassen. Gleichwohl musterte sie ihn streng, als sie ihm antwortete.

»Es gehört sich nicht, Mr. Staines, sich bei einer Krankenpflegerin nach der Krankheit ihrer Pflegebefohlenen zu erkundigen.«

Auf der Rückfahrt nach Keyley machte Tommy aus seiner Enttäuschung kein Hehl. Er schimpfte wie ein Rohrspatz, bis ihn Dick endlich unterbrach.

»Wann fährst du nach London zurück, Tommy?«

»Nächsten Monat. Ich muß noch einige Erbtanten besuchen. Warum fragst du?«

»Ich wollte dich bitten, mich unterdessen als Untermieter in dein Haus aufzunehmen, denn ich habe mich in das Schlafzimmer so verliebt, daß ich mich nur ungern davon trennen würde. Paß auf, wo du hinfährst, Tommy, und stier mich nicht so an.«

»Was willst du denn in meinem Haus?« verwunderte sich Tommy. »Sherlock Holmes spielen, wie? Wenn ja, dann soll meine Erbtante der Teufel holen; ich fahre mit dir nach London.«

Dick zögerte, Tommy reinen Wein einzuschenken; es war möglich, daß er jemand brauchen würde, der ihm beistand, wenn sich sein Verdacht als gerechtfertigt herausstellte. Aber – war Tommy der richtige Mann dazu? Dick wollte Scotland Yard in diesem Stadium der Erörterung nicht mit Bitten um Hilfe belästigen, und es war doch möglich, daß in den nächsten Tagen ein neuer Einbruch bei Walter Derrick versucht werden würde. Endlich hatte er sich entschlossen, Tommy die Wahrheit zu sagen.

»Nun fahre einmal etwas langsamer, mein Junge«, mahnte er den Freund, der seinen Wagen noch immer mit mindestens achtzig Meilen dahinbrausen ließ. »Ich kann dir zwar keine besonderen Abenteuer versprechen, aber wenn du willst, kannst du mir helfen. Du mußt dich aber genau nach meinen Befehlen richten und keine Sondereskapaden machen. Vielleicht gelingt mir dann meine Absicht, dich trotz deiner Beschränktheit zu einem passablen Kriminalbeamten zu erziehen. Wann kannst du nach London kommen?«

»Mittwoch! Würde das genügen?«

»Ja. Ich bleibe heute nacht in deinem Haus. Gib mir ein paar Zeilen an deinen Diener mit, daß ich mich bei dir wie zu Hause bewegen kann. Hast du Schußwaffen im Haus?«

»Zwei Revolver.«

»Hoffentlich hast du den erforderlichen Waffenschein, Lord Tommy«, scherzte sein Freund. »Sonst würde ich dich, wenn mir eine andere Verhaftung nicht gelingt, wegen unbefugten Waffenbesitzes anzeigen. Wo bewahrst du denn die Revolver auf?«

Tommy nannte ihm an Hand einer schnell angefertigten Skizze den Aufbewahrungsort der Waffen. Nach langem Hin und Her stellte sich endlich heraus, daß sie im vierten unteren Fach seines Schreibtisches lagen.


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