Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

11

Am Abend kam Tommy. Zum erstenmal seit Tagen waren die beiden Freunde wieder unter sich. Der Lord war in größter Eile von Bognor nach London gefahren und hatte Staines sofort nach seinem Eintreffen aufgesucht.

»Rate, Freund meiner Seele, wen habe ich heute getroffen?« fragte er, noch atemlos vom raschen Lauf über die Treppen. »Sie! Den Engel! Ich traf sie, als sie ihrem alten Mummelgreis in den Wagen half, um mit ihm nach London zu fahren. Den Kinderwagen hatten sie oben aufs Verdeck geschnallt. Eine Schönheit, unstreitig!«

»Wer? Der Kinderwagen?« Dick stellte sich dumm.

Tommy warf ihm einen vernichtenden Blick zu.

»Ich meine doch Miss Dane, du Vandale! Ja, ich fürchte, der alte Papa wird bald in ein besseres Jenseits fahren. Es muß doch verdammt langweilig sein, dauernd mit so einem alten Mummelgreis behaftet zu sein. Das arme, alte Einbein!«

»Einbein? Was soll denn das schon wieder heißen?« verwunderte sich sein Freund.

»Nun, du weißt doch, daß man bei solchen Leuten zu sagen pflegt, sie stünden mit einem Bein im Grab. Das ist ja auch beim alten Cornfort der Fall. Was meinst du, alter Straßenräuber? Sie ließ halten und begrüßte mich herzlich. Ein Engel ist sie, nicht zu sagen. Nicht ein Wort hat sie von dir gesprochen, du alter Windhund! Wahrscheinlich hat sie deine Existenz schon wieder vergessen! Na, mach dir nichts daraus; die Mädchen sind eben alle so. Der alte Cornfort spielte die alte Walze vom Wetter, und ich zeigte mich als Autorität auf dem Gebiet der Verdauungsstörungen. Großpapa hat mich für den Abend zum Essen eingeladen. Freue dich mit mir, geliebter Freund!«

»Du hast also wirklich die fluchwürdige Absicht, das junge Mädchen mit deinen Anträgen zu verfolgen?« fragte ihn Dick mit strenger Stimme. »Mensch, hast du denn kein Erbarmen mit Miss Dane? Sie stirbt doch vor Langeweile, wenn sie dich länger als zehn Minuten genießen muß.«

Aber Tommy ließ sich nicht so leicht aus der Ruhe bringen.

»Zerbrich dir darüber nicht den Kopf, du Ungeheuer. Ich gehe ja hauptsächlich deshalb zu ihr, um deine Gesellschaft zu meiden.«

»Du hattest mir aber doch versprochen, mir zu helfen!« erinnerte ihn Dick.

Lord Weald rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her.

»Geht es denn wirklich nicht ohne mich?« erkundigte er sich kläglich. »Was ist denn wieder los?«

»Nichts Besonderes, nur ... ein kleiner Mord. Interessiert dich das?«

»W-a-s??!« Tommy war bleich geworden. »Ein Mord? Wer denn?«

»Meinst du, wer ermordet worden oder wer der Mörder ist? Das letzte weiß ich nicht, sonst säße ich nicht hier und hörte mir deinen Unsinn mit an.«

»Wo ist es denn passiert? Bei dir? Oder etwa gar bei Derrick? Heiliger Bimbam! In seinem Salon! Verdammt noch einmal, warum war ich denn nicht, wie ich die Absicht hatte, schon gestern hier?«

»Zum nächsten Mord sende ich dir eine Einladungskarte, Tommy«, versprach ihm der Inspektor lächelnd. »Weißt du übrigens, daß ich auf dich eifersüchtig bin?«

»Ja«, lächelte der Lord, »aber – in der Liebe und im Krieg ist alles erlaubt!«

»Ein Wort noch, und du bist selbst der Leidtragende im zweiten Mordfall!«

»Also, hör zu, du wirst ja doch erfahren, was ich dir jetzt erzählen werde: Am selben Abend, als du nach London zurückfuhrst, bin ich nochmals nach Bognor gefahren. Nein, nicht um dir dort ins Gehege zu kommen, sondern wahrhaftig nur, um ein wenig Luft zu schnappen. Wie gewöhnlich begleitete mich das Glück: Ich traf sie; sie saß am Fenster und kam, als sie mich sah, herunter. Ich bilde mir ja nichts auf mein Glück bei Frauen ein, aber diesmal freute ich mich doch, als ich sah, wie sehnsüchtig sie mich erwartet zu haben schien.«

»Deine Frechheit kenne ich; wahrscheinlich hast du sie gebeten, zu dir herunterzukommen, nicht wahr?«

»Ja, sie erklärte sich meine einladenden Handbewegungen ganz richtig«, erzählte der verliebte Lord seelenruhig weiter. »Ich zeigte auf das Musikhäuschen und winkte. Sie verstand mich sofort.«

»Hast du denn nicht soviel Anstand, um ihr das Gelächter von ganz Bognor zu ersparen?«

Tommy schien aber heute nicht in der Stimmung, etwas übelzunehmen.

»Leider konnte sie meiner Einladung in den Musikpavillon nicht Folge leisten«, fuhr er fort. »Ich blieb noch eine Zeitlang dort, um ihr das beruhigende Gefühl zu lassen, daß sich in ihrer Nähe ein Ritter befand.«

»Wie spät war es, als du deine Troubadourtätigkeit aufgabst und wieder wegfuhrst?« erkundigte sich Dick und erwartete die Antwort des Freundes mit klopfendem Herzen.

»Es muß gegen zwölf gewesen sein. Ich hoffte immer noch, sie werde kommen, da ich sie die Jalousien herunterlassen sah. Sie muß mich weggehen gesehen haben, denn sie winkte mir zum Abschied hinter den Jalousien hervor zu. Ich sah ihre süße kleine Hand. Nun?«

»Gott sei Dank!«

»Also du freust dich, Dick?« Tommy erfaßte dankbar die Hand des Freundes: »Bist nicht böse auf mich, daß ich dir ihre Liebe abspenstig machte? Du weißt, ich würde mich ärgern, wenn du sie wirklich geliebt hättest, aber in der Liebe und ...«

»Quatsch nicht von Liebe, oder ich lange dir eine runter«, unterbrach ihn Dick. »Komm, wir wollen lieber einen trinken.«

Um zwölf Uhr hatte sie Tommy zugewinkt? Nein, dann konnte sie vor zwei nicht in London gewesen sein. Der Arzt hatte als Stunde der Tat ein Uhr festgestellt.

»Hm! Hm!« brummte er erleichtert.

»Hm, hm«, äffte ihn der Lord nach. »Du hast recht, sie ist wirklich eine seltene Schönheit. Komm! Prost!«

Dick führte den Freund in Derricks Haus, der wieder nach Keyley zurückgekehrt war, ohne zu ahnen, daß Lord Weald schon in London weilte.

»Er wird sich ärgern, dich nicht mehr getroffen zu haben, Tommy«, meinte Dick. »Alle Tage bekommt er nicht so einen geistreichen Gast, wie du es bist.«

Der Lord überging die ironische Bemerkung mit Stillschweigen und zeigte auf einige Männer, die im Mordzimmer herumhantierten.

»Was machen denn die Leute mit dem Fotoapparat hier?« wollte er wissen.

»Fotografieren! Dort hat sich das Gespenst vom alten Derrick herumgetrieben!« Er wies auf die betreffende Stelle.

»Ein Gespenst?« Erschrocken blickte sich Tommy um.

»Fall nur nicht in Ohnmacht, Mensch! Es ist doch nicht dein Haus, wo es herumtobt!«

»Aber im Nebenhaus!« protestierte der Lord. »Gespenster lassen sich auch durch noch so starke Mauern nicht von ihren Spaziergängen abhalten. Ich glaube, es ist besser, wir gehen wieder. Hier wird mir's unheimlich! Draußen scheint die Sonne, dort ist es schöner. Ich muß sowieso in einer halben Stunde nach Clacton.«

»Du willst mich schon wieder verlassen?«

»Ich muß. Die Pflicht ruft; meine Tante erwartet mich.«

»Du lügst doch. Ich weiß bestimmt, daß du in Clacton keine Verwandten hast. Noch vorige Woche danktest du in meiner Gegenwart Gott, daß der Osten für dich ›verwandtenfrei‹ sei.«

»Doch, sie ist diese Woche erst hingezogen; Arabella heißt sie. Gott, wie nervös sie ist! Aber Geld hat sie – einen ganzen Haufen. Sie schielt zwar und ist auch ein wenig schwerhörig, aber eine Erbtante bleibt sie dabei doch.«

Er eilte, so schnell ihn seine Füße zu tragen vermochten, die Treppe hinab, und als Dick, der ihm langsam gefolgt war, die Straße betrat, war er schon im Begriff, nach dem Bahnhof zu fahren.

»Warum nimmst du nicht deinen Wagen? Warum auf einmal Bahnreisender?« erkundigte sich Staines.

Tommy wurde verlegen.

»Ich wollte meinen Wagen nachkommen lassen. Ich fahre ganz gern mal mit der Bahn; man lernt da so nette Leute kennen, denen man im Rolls-Royce niemals begegnen würde.«

Dick war fast überzeugt, daß Tommy auf irgendeine Weise erfahren haben mußte, daß Miss Dane mit der Bahn nach Clacton zurückfahren werde.

Am Abend traf er Bourke.

»Ich habe Ihnen nun auch die Aufklärung des letzten Mordfalles definitiv übertragen, Staines«, begrüßte ihn der Chef. »Vielleicht läßt Lord Weald Sie weiter in seinem Haus wohnen. Uns interessieren vor allen Dingen diese Gespenstergeschichten Larkins. Wann kommt er eigentlich von Liverpool zurück?«

»Heute um sieben Uhr, Sir. Ich habe ihm bestellen lassen, er möchte mich sofort nach seiner Ankunft aufsuchen. Sobald ich mit ihm fertig bin, schicke ich ihn zu Ihnen.«

»Warum mögen wohl die Kerle Ihren Klingelzug entzweigeschnitten haben?« wunderte sich Bourke.

»Wahrscheinlich befürchteten sie, daß mir Larkin vor seiner Abreise nach Liverpool von dem Anruf erzählen und ich mich dann sofort bei Derrick erkundigen würde. Er wird wohl auch tatsächlich versucht haben, mich aufzuwecken.«

»Wahrscheinlich kam der Anruf von der Hauszentrale«, meinte Bourke. »Wie mag Lordy Brown denn ins Haus gelangt sein? Er hat doch gar nichts bei sich gehabt, womit er eine Tür hätte aufbrechen können! Wäre ich ein Romandetektiv, dann würde ich des Rätsels Lösung in einem unterirdischen Gang suchen.«

»Sicherlich ist ein solcher vorhanden!« rief Dick aus. Bourke starrte ihn verwundert an. »Ich weiß es bestimmt, Chef. Der alte Derrick hat das Haus nach seinen allereigensten Plänen bauen lassen und die Abschlußarbeiten selbst geleitet. Die Wände sind stark genug, um zwanzig Gänge zu verbergen. Warum hatte er solche Angst vor einer Feuersbrunst?«

»Warum aber unterirdische Gänge, Staines?« meinte Bourke kopfschüttelnd. »Er war zwar ein Ekel, aber ich glaube nicht, daß er jemals etwas begangen hat, was gegen die Gesetze verstieß. Hehlerei? Nein, davon ist mir nicht das geringste bekannt. Warum also, wenn er von der Polizei nichts zu fürchten hatte, diese mittelalterlichen Methoden?«

»Er hatte Angst vor Bränden, und wegen seiner Abdrucksammlungen vielleicht auch Furcht vor der Rache der Betroffenen. Die Reichen haben ja die meiste Angst vor Einbrechern. Der Alte wird sich das Ganze wohl nur zu dem Zweck gebaut haben, um, wenn es ihm einmal ans Leder ginge, die Möglichkeit zur Flucht zu haben. Warum aber mag er mit einem Mordversuch gegen sich gerechnet haben?«

»Man soll einem Toten nur Gutes nachreden«, erwiderte Bourke. »Ich würde Ihnen sonst vielleicht einige Gründe nennen können. Sobald Sie den von Ihnen vermuteten unterirdischen Gang gefunden haben, werden Sie auch den Grund zum Bau kennen. Inspektor Endred kennt übrigens Derricks Haus ausnehmend gut.«

Als Dick in Tommys Wohnung zurückkehrte, berichtete ihm Minns, daß Larkin vorgesprochen habe.

»Wo ist er denn jetzt?« wollte Dick wissen.

»Ich glaube, Mr. Derrick hat ihn entlassen. Nebenan ist er jedenfalls nicht.«

»Ich finde das ungerecht von Mr. Derrick«, gab Staines zurück. »Schicken Sie Larkin, sobald er kommt, zu mir herauf.«

Wenige Minuten später erschien der Erwartete. Als Minns den Wächter meldete, versuchte er den Gast seines Herrn ein wenig auszuholen.

»Ist es nicht schrecklich, Sir«, meinte er, »was sich jetzt alles hier zuträgt? Ein Mord in unmittelbarer Nachbarschaft!«

Larkin war, entgegen der Annahme Minns', nicht entlassen worden.

»Ich soll allerdings nicht mehr dort schlafen, Sir«, berichtete er.

»Ich habe abends zu gehen und früh wiederzukommen. Mr. Derrick will verreisen. Er machte mir Vorwürfe, weil ich Ihnen vom Gespenst seines Vaters erzählt hatte. Ich hätte mir nur alles eingebildet, meinte er, aber ich weiß, daß es nicht an dem ist.«

Ein Handwerker hatte im Auftrage Dicks in kurzer Zeit einen Übergang auf den Balkon von Derricks Haus fertiggestellt. Eine kleine festgezimmerte Brücke ermöglichte es von nun an jederzeit, sich auf dem kürzesten Weg ins Nebenhaus zu begeben. Dick zeigte Bourke, der auf seine Einladung zum Abendessen erschien, den neuen Weg. Bourke sprach sich lobend über die Vorrichtung aus.

»Der Portwein ist übrigens ausgezeichnet, Staines. Ich mache Ihrem Freund Tommy mein Kompliment.«

»Leider weiß er seine eigenen herrlichen Weinsorten gar nicht zu schätzen«, gab Dick zurück, der sich im stillen den Kopf darüber zerbrach, wo wohl Mary Dane augenblicklich weilen mochte. »Wenn die mitternächtlichen Besucher heute kommen, werden sie eine kleine Überraschung erleben, auch wenn Larkin sie nicht bemerken würde. Ich beabsichtige, die Nacht auf dem Posten zu verbringen.«

Als Bourke gegangen war, brachte Dick die durchschnittene Klingelleitung wieder in Ordnung, nicht ohne sie vorher mit einem selbsterfundenen Mechanismus zu versehen, der ihn auch auf fremde Besucher aufmerksam machen würde, wenn Larkin sich wirklich wieder narren ließ. Mit den getroffenen Maßnahmen zufrieden, verlöschte er das Licht und setzte sich, in einen dicken Mantel gehüllt, an die offene Fenstertür, die Blicke auf den Balkon des Nebenhauses gerichtet. Von seinem Platz aus konnte er auch den tief unten liegenden Lowndes Square beobachten und jedes sich nähernde Fahrzeug bemerken. Wenn er sich über Tommys Balkon beugte, konnte er sogar Derricks Haustür sehen. Die Rückseite des Nebenhauses ließ er unbeobachtet, da er nicht glaubte, daß die Einbrecher ihr Eindringen von dort aus bewerkstelligen würden.

Um halb elf Uhr brachte ihm Minns starken Kaffee und belegte Brote; für eine Weile, lang genug jedenfalls, um die Erfrischungen zu genießen, glaubte Dick seinen Posten verlassen zu dürfen. Er zog die Vorhänge vor der Fenstertür vor und knipste das Licht an.

»Unsere Leute freuen sich, Sir, weil sie Sie im Hause wissen«, meinte der Kammerdiener. »Ein Glück, daß dieses Haus ohne Keller ist, sonst wären uns sicherlich schon alle unsere Stubenmädchen durchgebrannt.«

»Hat denn dieses Haus keine Keller?« fragte der Inspektor verwundert.

»Nein. Das Erdgeschoß ist gleichzeitig das unterste. Ein Kellergeschoß haben wir nicht.«

»Sie haben gar keine Keller hier?« fragte Dick ungläubig.

»Nein. Den Wein bewahren wir neben der Küche auf. Ich habe mich selbst schon oft gewundert, warum der alte Mr. Derrick, dem ja früher auch dieses Haus gehörte, es so völlig ohne Keller bauen ließ.«

»Das ist mir neu«, gab Dick zu.

»Ja, es gehörte ihm. Er verkaufte es dann später an den Vater des gegenwärtigen Lords. Beide Häuser wurden zusammen repariert ...«

In diesem Augenblick schlug' die Alarmklingel an. Ohne sich auch nur einen Augenblick aufzuhalten, warf Staines Tasse und Teller hin und war mit einem einzigen langen Schritt auf dem Balkon und in kurzen Sprüngen über den Laufsteg im Nebenhaus. Vom Fenster von Derricks Büroraum, dem jetzigen Schlafzimmer Larkins, hob sich eine schattenhafte Gestalt ab, aber ehe Dick sie fassen konnte, hatte sie sich umgedreht. Das Zuschlagen der auf den Gang führenden Tür verriet Dick, daß der Eindringling entkommen war. Mit voller Wucht warf sich Staines gegen die Tür, aber sie hielt seinem Ansturm stand. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als über die Brücke hinweg wieder in sein eigenes Zimmer und von dort über die Treppen und durch die Haustür auf die Straße zu laufen. Er versuchte die Haustür zu öffnen, aber sie gab nicht nach. Auch die Hausschlüssel, die ihm Tommy anvertraut hatte, vermochten das Hindernis nicht zu beseitigen. Die Tür war von innen verriegelt. Offenbar hatten die Eindringlinge alle Vorsichtsmaßnahmen angewandt, um bei ihrer Tätigkeit ungestört zu bleiben.

In der Ferne sah Dick einen Schutzmann auftauchen und pfiff, um dessen Aufmerksamkeit zu erregen. Ohne sich allzusehr zu beeilen, schlenderte der Mann heran. Er schien es nicht gewohnt zu sein, von Zivilisten herbeigepfiffen zu werden. Ehe er sich jedoch gegen die Art, wie man ihn gerufen hatte, verwehren konnte, erkannte er den Vorgesetzten.

»Stellen Sie sich hier auf«, befahl ihm Dick. »Wenn jemand zu entkommen versuchen sollte, machen Sie von Ihrem Knüppel Gebrauch.«

»Ist jemand im Haus?« wollte der andere wissen.

»Das werde ich Ihnen gleich sagen können.«

Er rannte die Treppen zum Lieferanteneingang hinab, fand aber auch diesen verschlossen. Nun versuchte er es mit dem Fenster, mußte aber erst eine Scheibe einschlagen, ehe es ihm gelang, einzusteigen. Er befand sich im Speiseraum der Dienerschaft und tastete an der Wand entlang, bis er endlich den Lichtschalter erreichte. Die Leitung versagte, und er mußte wieder zu seiner elektrischen Taschenlampe Zuflucht nehmen. Von der Küchentür aus rief er den draußen wartenden Schutzmann herunter.

»Stellen Sie sich innerhalb des Hauseingangs auf«, befahl er ihm, »und schließen Sie die Haustür, wenn Sie drinnen sind. Passen Sie aber ja auf, daß Sie nicht gesehen werden.«

»Wie viele sind denn hier?« fragte der andere neugierig.

»Das hat Sie gar nichts zu kümmern«, gab Dick grob zurück, und der Mann gab zu, daß der Inspektor mit dieser Bemerkung recht hatte.

Auf Gummisohlen schlich sich Staines der Treppe zu und über diese, die aus festen Eichenplanken bestand und nicht im geringsten unter seinem Gewicht knarrte, ins erste Stockwerk hinauf. Nichts rührte sich. Leise drückte er die Klinke des Salons nieder und schlüpfte hinein. Der Raum war leer; das durchs Fenster hereindringende Licht genügte, um das festzustellen. Wahrscheinlich hatten »sie« gehört, wie er die Fensterscheibe des Erdgeschosses eingedrückt hatte, und hatten sich dünn gemacht. Er begann den Aufstieg ins zweite Stockwerk, um auch dort beim ersten Zimmer, auf das er traf, sein Glück zu versuchen. Die Tür war verschlossen, aber unstreitig war jemand im Innern des Raumes, denn er hörte ein Flüstern, und als er nun mit dem Knüppel heftig gegen die Türfüllung schlug, drang ein einziges Wort an sein Ohr: »Ohl« Eine Frau mußte es gewesen sein, denn Dick hatte in seiner langen Erfahrung noch nie einen männlichen Einbrecher, wenn er bei seiner Arbeit überrascht worden war, »Oh!« ausrufen hören. Mit einem Anlauf warf er sich gegen die Tür. Sie gab mit einem Krach nach. Nun stand er im Zimmer. Leer! Wieder versuchte er, Licht zu machen, aber auch hier vergeblich. Trotz der herrschenden Dunkelheit wurde er das Gefühl nicht los, daß er beobachtet wurde. Die Empfindung wurde immer stärker in ihm, und schließlich tat er etwas, was er in all den Jahren seines Dienstes bei der Polizei noch nie getan hatte: Er zog den Revolver aus seiner Tasche und machte ihn schußfertig. Er hörte die Stimme des unten zurückgelassenen Beamten: »Soll ich Ihnen helfen, Sir?«

Sein Vorgesetzter zögerte einen Augenblick, dann rief er:

»Ja, kommen Sie herauf, und machen Sie Ihren Knüppel zurecht. Es ist jemand im Hause.«

Ein leises Kichern drang aus der Dunkelheit des Zimmers ans Ohr des Inspektors. Blitzschnell drehte er sich der Richtung zu, aus der das verhaltene Lachen gekommen war. Nichts bewegte sich. Nun kam der heraufgerufene Schutzmann, und gemeinsam durchsuchten sie das Zimmer. Nichts deutete auf ein Versteck hin. Nur ein kleiner Verschlag, aber auch nicht tief genug, hätte ein Versteck für ein Kind abgeben können. Mehr um sich selbst zu beruhigen als um dort den Versteckten zu suchen, öffnete Dick die Tür des Schrankes. Er war leer, aber das langsame, zögernde Schwingen der Tür erregte Dicks Neugier. Er klopfte den Schrank mit seinem Knüppel ab; es klang hohl. Die Rückwand war mit vier eingeschraubten Kleiderhaken versehen. Sonst schien sie solid und massiv genug.

Die Eindringlinge hatten seine Klingelleitung entdeckt und den Kontakt, der unter dem Teppich gelegen hatte, hervorgezerrt und zerschnitten.

»Wonach riecht es denn hier?« meinte der Schutzmann plötzlich und zog prüfend die Luft ein.

Ja, ein leiser Duft schwängerte die Luft; nicht der Geruch verbrannten Schießpulvers, nein, das zarte Aroma eines Parfüms. Dick kannte diesen Geruch, wußte aber im Augenblick nicht, woher.

»Parfüm, Sir«, sagte der Schutzmann. »Kennen Sie den Duft?«

»Ich habe in diesen Dingen wenig Erfahrung«, erklärte der Inspektor. »Ein Parfüm stinkt für mich so wie das andere.«

»Ich glaube, man nennt das Zeug ›Sans Atout‹«, belehrte ihn der Untergebene, stolz auf seine Kenntnisse.

»Woher wollen Sie denn das wissen?« fragte sein Vorgesetzter erstaunt.

Der Schutzmann hatte eine Freundin, die als Verkäuferin in einem Parfümeriegeschäft angestellt war; sie hatte ihm einmal eine Flasche von ›Sans Atout‹ mitgebracht. Daher die Wissenschaft.

»Meine Braut erzählte mir, daß dreißig Gramm von der Flüssigkeit vier Pfund Sterling kosten, Herr Inspektor«, erklärte der Schutzmann. »Es riecht furchtbar stark und ist eine Mischung von Zedernholz und Rosenessenzen.«

»Sie haben eine so verflucht gute Nase«, erwiderte Dick, »daß Sie sicher auch den Mörder riechen werden, der hier war.«

Er hatte die Worte kaum gesprochen, als ein leises, nichtsdestoweniger aber herzliches Lachen an sein Ohr drang.

»Haben Sie eben gelacht?« fragte er den Schutzmann.

»Ich? Nein, Sir. Sie können mir sonst was bieten, Sir, ehe ich ein solches Lachen herausbrächte. Ich glaube, es kam von draußen vom Korridor.«

Dick glaubte zwar nicht an diese Erklärung, rannte aber doch hinaus. Es war, wie er geahnt hatte, vergeblich. Er kehrte ins Zimmer zurück und hatte nun zum erstenmal das bestimmte Gefühl, daß er sich jetzt mit dem Schutzmann allein im Zimmer befände. Der versteckte Beobachter, dessen Gegenwart er in allen Fasern seines Körpers gefühlt hatte, mußte weg sein.

»Was soll ich nun machen?« fragte ihn der Beamte. »Ich werde das, was hier passiert ist, natürlich melden.«

»Natürlich. Schreiben Sie, ich hätte Sie hergerufen und ...«

In diesem Augenblick wurde es im Zimmer hell; die Stromzufuhr hatte wieder eingesetzt. Prüfend blickte sich Dick im hellerleuchteten Zimmer um, ohne etwas Nennenswertes zu sehen. Nur der leise Parfümduft schwebte noch in der Luft.

»Wie nannten Sie doch das Stinkzeug?« wandte er sich an den Sachverständigen für Parfüme.

»Sans Atout!« lautete die präzise Antwort.

Am stärksten war der Geruch in der Nähe des Schrankes, der Dicks Aufmerksamkeit so sehr erregt hatte.

Es war gegen ein Uhr, als er sich endlich zur Ruhe begeben konnte. Erst das Klopfen Minns' an der Tür weckte ihn auf. Der helle Tag schien ins Zimmer.

»Brauchen Sie diese Flasche, Sir?« fragte ihn Minns, auf eine mit einem Glaspfropfen versehene Flasche zeigend, die er neben den Tee auf das Frühstückstablett gestellt hatte.

»Was für eine Flasche?« gab Dick verwundert zurück. Nun erst nahm er sie näher in Augenschein. Es war eines der üblichen Parfümfläschchen. Das Etikett trug nur die Aufschrift: »Sans Atout.« Die Flasche war nur halb gefüllt.

»Wer hat denn die Flasche aufs Tablett gestellt?« fragte der Inspektor heiser vor unterdrückter Erregung.

Minns wußte es nicht, und Dick hieß ihn gehen.

Er ließ seinem Frühstück alle Ehre angedeihen, als unvermutet, wie man es bei Tommy nun schon gewohnt sein mußte, der Hausherr ins Zimmer trat.

»Nanu?« begrüßte ihn der Gast. »Was machst denn du hier? Ich dachte, du seiest in Clacton?«

»Schluß damit, alter Freund.« Die Miene Tommys ähnelte der eines Leichenbitters. »Ich habe mich skandalös aufgeführt, ganz unter aller Kritik. Und nun – bin ich abgemeldet.«

»Das ist wirklich eine recht willkommene Nachricht für mich, Tommy«, gab Dick ungeniert zu. »Setz dich und mach es dir bequem. Oder willst du etwa mit deiner Erklärung sagen, daß ich von jetzt ab unter deiner ständigen Gegenwart zu leiden haben werde?«

»Nein, beruhige dich«, gab Tommy brüsk zurück. »Ich meinte, zwischen Mary und mir ist's aus, ganz aus. Furchtbar ist's.«

»Für dich wahrscheinlich ja, für sie aber wird es unstreitig eine Befreiung bedeuten. Meinst du vielleicht Miss Mary Dane?« setzte er streng hinzu.

»Natürlich, wen denn sonst? Also, ich spaziere mit ihr gestern abend über die Promenade. Wir hörten der Musik zu. Ich kann dir sagen, ich war froh wie ein Habicht im Hühnerhof. Der alte Cornfort ist so ziemlich fertig. Er ging schon gegen neun Uhr ins Bett. Ich lud sie ein, mit mir ein wenig spazierenzugehen, und sie folgte. Während wir auf einer Bank saßen, steckte ich ihr, ohne daß sie es merkte, ein kleines Geschenk in ihr Handtäschchen. Ich hatte es für einen Haufen Geld in London gekauft. Ja, wenn ich nicht den Stöpsel vorher herausgezogen hätte, wäre alles gut gegangen. Wer sollte aber auch wissen, daß das verfluchte Zeug auslaufen würde?«

Dick war aufgesprungen.

»Was wolltest du ihr schenken?« fragte er erregt.

»Eine Flasche Parfüm; die letzte Modeerrungenschaft: ›Sans Atout‹. Ich dachte immer, der Name bedeute ein Kartenspiel, aber man lernt ja nie aus. Was meinst du, wie wütend sie war, als sie das Geschenk entdeckte. Nicht so sanft, wie sie sonst ist, im Gegenteil, sie legte los wie eine Furie! Schrie mich an, sie hasse mich und das ganze Parfümzeugs, aber – behalten hat sie die Flasche doch.«

Dick sah aus wie der leibhaftige Tod.

»Bist du krank?« erkundigte sich Tommy besorgt.

»Nein. Erzähl nur weiter. Sie hat dich wohl stehenlassen?«

»O nee! Ich ließ sie stehen! Es war, was man einen Streit zwischen Liebespaaren nennt.«

»Was man was nennt?« fragte Dick zurechtweisend.

»Nun, ich meine so eine kleine Auseinandersetzung. Ich war richtig wütend, stand auf und lief davon. Als ich zurückkam, ging sie gerade ins Haus.« – »Wie spät war das?«

»Gegen zehn, vielleicht etwas früher. Ich weiß niemals, wie spät es ist, das kennst du doch an mir, nicht wahr?«

»Hast du sie nochmals wiedergesehen?«

»Natürlich. Du traust mir doch nicht etwa zu, daß ich weggegangen bin, ohne mich für meine Ungezogenheit entschuldigt zu haben! Ich rief sie vom Hotel aus an.«

»Das bedeutet aber doch noch nicht, daß du sie gesehen hast?« warf Dick ein.

»Meiner Ansicht nach ist es ganz gleich, ob ich sie sehe oder höre. Ich bat sie, nochmals auf die Promenade zu kommen und mir Gelegenheit zu geben, mich bei ihr zu entschuldigen.«

Dick wagte es nicht, die schicksalsschwere Frage zu stellen, aber Tommy beantwortete sie auch ohnedies.

»Sie kam, und wir bummelten noch eine ganze Weile auf der Promenade umher. Sie erzählte mir, sie sorge sich über etwas. In England gäbe es eine Doppelgängerin von ihr. Sie hatte sie am gleichen Tag in Clacton von weitem gesehen.«

»Kannst du es beschwören, Tommy, daß du mit Mary Dane zusammen warst?« fragte der Inspektor, zitternd vor Erregung.

Tommy starrte ihn besorgt an.

»Fehlt dir etwas, mein Junge?« fragte er.

»Nein!« wehrte Dick ungeduldig ab. »Ich will nur wissen, ob du ganz sicher bist, daß du mit Mary Dane zusammen warst.«

»Natürlich war ich mit ihr bis nahe an zwölf zusammen«, gab Tommy zurück. »Wer sollte es denn sonst gewesen sein?«

Dick beugte geschlagen das Haupt.

»Das Mädchen macht mir mehr Sorgen und Kopfzerbrechen als Tausende vor ihr. Was willst du denn eigentlich in London?« fragte er unvermittelt.

»Ich will dir helfen, das Geheimnis der Doppelgängerin zu lösen«, machte sich der Lord wichtig. »Weißt du denn schon, daß es so etwas ...«

»Halt den Mund, Tommy, sonst mach ich dich kalt. Nun fängst auch du noch mit der Doppelgängerin an.«

»Miss Dane sagte mir«, setzte Tommy, ohne den Ausbruch Dicks zu beachten, seinen Bericht fort, »daß sogar der Mann, der nebenan ermordet wurde, sie für ihre Doppelgängerin gehalten habe. Und da ich, trotz deiner vielen Fehler immer noch einiges Vertrauen in deine Tüchtigkeit setze, wollte ich dir die Chance geben, Lorbeeren zu pflücken. Deshalb bin ich hier.«

»Willst du im Ernst behaupten, daß du den weiten Weg von Clacton nach London nur deshalb gemacht hast, um mir die Aufklärung dieses Doppelgängerfalls zu übertragen? Du Idiot! Weißt du denn nicht, daß uns im Yard diese Sache schon mehr Kopfzerbrechen gemacht hat als tausend andere?«

Dick glaubte nicht an den Vorwand Tommys für die Reise nach London. Gegen Nachmittag erhielt er von Derick eine Einladung, ihn am nächsten Tag im Klub zu treffen. Er wolle, so schrieb Derrick, nach Schottland weiterfahren und Dick vorher gern sprechen. Er fragte auch an, ob er bei der Leichenschau des ermordeten Lordy Brown dabeisein müsse. Dick hatte sich deshalb schon bei den zuständigen Stellen erkundigt und den Bescheid erhalten, daß man auf die Aussagen Derricks verzichten könne. Man ahnte zwar nicht, was Brown in Derricks Haus gewollt habe, wußte aber, daß er bereits wegen Einbruchdiebstahls vorbestraft war. Man vermutete daher, er habe bei seinem alten Bekannten Derrick seine Künste probieren wollen. Außerdem hatte ja Derrick auch zugegeben, daß er Lordy nur einige Male gesehen habe und ihn wohl nach so langer Zeit nicht werde identifizieren können.

Dick konnte Walter Derrick leider nicht im Klub aufsuchen, weshalb er dort hinterließ, Derrick möchte ihn besuchen, und am nächsten Tag erschien der Erwartete.

»Ich werde von dieser Sache noch verrückt«, klagte er, »ich muß mal andere Luft atmen. Ich glaube, Schottland wird mir guttun. Wenn es mir zu langweilig wird, kann ich ja immer wieder nach London zurückfahren. Sobald ich zurückkomme, rufe ich Sie an.«

Die Frühzeitungen brachten schon die Mitteilung von Mr. Derricks Reise nach Schottland, während unter »Polizeinachrichten« die Ereignisse auf dem Lowndes Square kurz erwähnt wurden. Dick war nun wirklich fest entschlossen, nicht länger mit sich spielen zu lassen. Einen ganzen Vormittag brachte er mit der Konstruktion verschiedener Kleinigkeiten zu, von denen er hoffte, daß sie ihm bei der endlichen Aufklärung des Geheimnisses der Einbrüche in Derricks Haus helfen würden. Vor allen Dingen besorgte er sich einen Bauplan der Gegend. Zwischen beiden Gebäuden war früher eine kleine Gasse verlaufen, auf deren einer Seite man für Lord Wealds Haus Garagen eingebaut hatte. Diesen gegenüber lagen nur eine Stallung und eine andere, einem entfernt wohnenden Besitzer gehörige Autogarage. Zwischen diesem Stall und der Garage hob sich eine Mauer, die in regelmäßigen Abständen von Gartentüren unterbrochen wurde. Weiter rückwärts hatte man einen Ausblick auf die Rückfront der Coyling Street. Jedes einzelne der auf dieser Straße stehenden Häuser hatte einen eigenen Garten, zwischen denen eng an der Mauer ein Pfad hinlief. Die meisten Bewohner der Nachbarschaft widmeten sich mit großer Liebe der Blumenzucht.

Den Nachmittag verbrachte der Inspektor mit der Besichtigung dieser Straße, deren sämtliche Häuser bewohnt waren, mit alleiniger Ausnahme der Nr. 7. Dieses Haus sah vernachlässigt aus; die von den letzten Bewohnern zurückgelassenen Vorhänge waren verstaubt und vom Zahn der Zeit zerfressen.

Dick erkundigte sich nach den gegenwärtigen Besitzern des leerstehenden Hauses und erfuhr, daß es weder zu vermieten noch zu verkaufen sei. Er folgte der Spur, die sich ihm da geboten hatte, und machte endlich ausfindig, daß der wirkliche Besitzer des Hauses Mr. Walter Derrick war. Das Stadtbauamt hatte angeordnet, daß das Haus nicht eher vermietet werden dürfe, bis einige Umbauten vorgenommen würden. Offenbar war Mr. Derrick darüber so erzürnt gewesen, daß er das Haus überhaupt nicht mehr vermietete. Es war zwar auf dem Grundstücksmarkt zum Verkauf angeboten worden, aber die Vernachlässigung der Baulichkeiten war so groß, daß niemand sich dafür ernstlich interessierte.

Die letzte Mieterin war eine Dame, Miss Belfer, gewesen, die dort auch gestorben war, und zwar noch zu Lebzeiten des alten Mr. Derrick. Seit ihrem Tod stand das Haus leer. Auf dieses Haus hatte sich Walter Derrick wohl bezogen, als er Dick eines Tages mitteilte, daß ihm der Vater einige wertlose Grundstücke hinterlassen habe. In den fünfziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts hatte es einem religiösen Orden gehört, der noch eine ganze Anzahl anderer benachbarter Gebäude aufgekauft hatte. Nach seiner Auflösung ging das Grundstück in die Hände des alten Derrick über. Das Haus hieß noch heute »St. Anna«« und hatte sogar eine eigene Kapelle, die aber inzwischen als Garage umgebaut worden war. Die gotischen Spitzbogen waren noch jetzt zu sehen.

Es war die dritte ruhig verlaufene Nacht, und Dick wunderte sich auf dem Nachhauseweg, daß von Tommy noch keine Nachrichten eingetroffen waren. Seit er wieder abgefahren war, hatte er von ihm nichts gehört. Er war spurlos in den Straßen Clactons untergetaucht. Am gleichen Morgen hatte die Leichenschau von Lordy Brown stattgefunden, war jedoch auf Wunsch der Polizei ohne Verdikt um einen Monat vertagt worden. Die Geschworenen waren zu der Meinung gelangt, daß Brown mit einem Komplicen in Derricks Haus eingebrochen und dort mit ihm in Streit geraten sei, in dessen Verlauf ihn der andere erschossen habe. Augenscheinlich war eine mit Schalldämpfer versehene Schußwaffe verwendet worden, denn weder Dick noch einer von Tommys Dienern hatten auch nur das geringste Geräusch gehört.

Es dunkelte schon, als Dick endlich Tommys Haus betrat. Minns empfing ihn an der Haustür. »Eine Dame wünscht Sie zu sprechen, Mr. Staines«, berichtete er. »Ich habe sie in den Salon geführt.«

»Wie sieht sie denn aus?« erkundigte sich Dick, dessen Herz höher schlug.

»Sie nannte ihren Namen, Sir: Miss Dane.«

Dick schob den Diener zur Seite, als sei er ein Stück Holz, und eilte in das Zimmer, wo ihn Mary Dane lächelnd erwartete.

»Habe ich Ihnen wirklich soviel Scherereien gemacht?« begrüßte sie ihn mit einem Blick, der in das Gesicht Staines' glühende Röte jagte.

»Scherereien? Ach, Sie sprechen von Tommy? Er hat wohl geschwätzt?«

»Ja, das hat er. Sie wissen doch, daß er seine meiste Zeit damit vergeudet. Können Sie ihn denn nicht in London festhalten?«

»Wo treibt er sich denn gegenwärtig herum?«

»Gestern war er in Margate. Er hatte nämlich gehört, daß Mr. Cornfort dort hinwollte. Ich werde die Krankenpflegerin bald an den Nagel hängen.«

Er wußte nicht, warum er sich über diese Mitteilung freute; aber es war tatsächlich der Fall.

»Endlich!« rief er aus.

»Warum?« fragte sie ihn erstaunt.

»Ich glaube nicht ... nun, ich halte es nicht ... Ich denke, die Arbeit ist zu schwer für Sie«, stotterte er verlegen.

»Sie bekommt mir aber. Sie haben ja auch gerade kein Zuckerlecken, Mr. Staines, nicht wahr? Ihr Beruf muß doch fürchterlich anstrengend sein?!«

»Er bekommt mir«, äffte er ihr lachend nach. »Leider beginne ich, dabei meinen guten Ruf zu verlieren«, setzte er ironisch hinzu.

Sie blickte ihn überrascht an.

»Meinen Sie ...?« Sie wies mit dem Kopf nach der Richtung, wo Derricks Haus lag.

»Ja, Browns wegen«, gab Staines zu. »Haben Sie die Berichte gelesen?«

»Gelesen und auch davon sprechen hören«, erklärte sie. »Tommy hat dafür gesorgt, daß ich auf dem laufenden blieb.«

»Ich möchte nur wissen, warum er sich dauernd bei Ihnen herumtreibt?« meinte Dick und hätte sich für diese idiotische Frage im nächsten Augenblick selbst ohrfeigen mögen.

Miss Dane lachte.

»Sie werden es sich schon denken können. Verliebt ist er in mich. Ist das nicht Grund genug?«

Dick lächelte nichtssagend.

»Tommy wird sich in alles und jedes verlieben, was ihm nur in den Weg kommt«, meinte er, ohne sich bewußt zu sein, daß dies kein sehr schmeichelhaftes Kompliment für die junge Dame war.

»Trotzdem ist er ein guter Mensch und Sie ein Grobian«, quittierte sie. »Ich habe den armen Kerl zu schlecht behandelt.«

Dick lachte sorglos; seit Mary Dane hier im Zimmer weilte, fühlte er sich merkwürdig wohl. »Sie haben sich ihm gegenüber wohl als Circe hingestellt?« fragte er scherzend.

»Ja.« Die Antwort überraschte ihn. Miss Dane fuhr fort:

»Wenn Sie wissen wollen, ob ich ihn zu seinem Flirt ermutigt habe, so muß ich das zugeben. Es war zwar nicht sehr nett von mir, und ich möchte mir selbst die größten Vorwürfe machen, aber ... die Tatsache, daß es so ist, bleibt nichtsdestoweniger bestehen.«

Er hatte bisher Tommys Schwärmerei für Miss Dane nicht besonders tragisch genommen. Hatte sein Freund wirklich ernste Absichten?

»Das klingt doch beinahe, als hätte sich zwischen Ihnen und Lord Weald etwas Ernstliches angesponnen«, erwiderte er.

Sie errötete, lachte aber dazu.

»Unsinn!« Dann blickte sie sich im Salon um. »Werden Sie noch lange hier wohnen bleiben?« fragte sie.

»Warum fragen Sie?«

Sie starrte ihn an.

»Sind Ihre Worte ein Beweis für die Bildung der Scotland-Yard-Beamten?«

»Warum wollen Sie das wissen?« bestand er auf seiner Frage.

»Warum, Herr Sergeant, Inspektor oder Polizeidirektor, oder was Sie sonst sein mögen? Weil ich es wissen will. Ist es Ihnen noch nicht bewußt geworden, daß Sie hier nur wohnen, weil Tommy verreist ist? Also, ich will durch meine Frage auf Umwegen erfahren, wie lange Tommy noch Gelegenheit haben wird, um mich herumzuschwänzeln.« Ohne auf seine Antwort zu warten, fuhr sie fort: »Langweilen Sie sich denn hier nicht? Nebenan ein leeres Haus! Das muß doch deprimierend aufs Gemüt wirken. Na, es gibt ja noch einen Junggesellen hier in der Nachbarschaft.«

»Meinen Sie Derrick?« – Sie nickte.

»Man erzählte mir, er sei nach Schottland gefahren. Ist das nicht die Höhe der Unmenschlichkeit, Sie hier zurückzulassen, um sein Haus zu bewachen? Noch dazu, wo es von Geistern heimgesucht wird.«

»Wer hat Ihnen denn das erzählt?« wollte er wissen.

»Die ganze Nachbarschaft regt sich darüber auf«, erklärte sie, und ihre Lippen zuckten vor verhaltenem Lachen. »Sie wundern sich, was ich hier bei Ihnen will? Nun, ich weiß es selbst nicht. Es war doch eine zu gute Gelegenheit, bei einem Junggesellen einen Besuch zu machen, als daß ich sie mir hätte entgehen lassen sollen. Nicht einmal zu einer Tasse Tee haben Sie mich eingeladen! Nein, lassen Sie nur, ich gehe gleich wieder. Wer ist denn meine Doppelgängerin eigentlich, Mr. Staines? Kennen Sie sie? Oder hat Tommy wieder einmal geschwindelt? Wer ist sie also?«

»Ich würde mein ganzes Vermögen hergeben, wenn ich Ihnen diese Frage beantworten könnte«, erwiderte Staines.

»Also habe ich tatsächlich hier eine Doppelgängerin?« Als Dick nickte, fragte sie weiter: »Wie sieht sie denn aus?« Nun bemerkte sogar er, daß sie ihn auslachte; er glaubte, sie zweifle an seinen Worten.

»Hübsch ist sie«, sagte er kurz, wurde aber gleich wieder freundlich. »Bildhübsche graue Augen und einen Mund ... Nun, am besten kann man ihn damit beschreiben, wenn man auf die Magazinschönheiten hinweist, die von berühmten Künstlern gemalt sind.«

Nun wurde sie doch verlegen und senkte ihre Augen.

»Sie scheint ja bei Ihnen einen gehörigen Eindruck hinterlassen zu haben, Mr. Staines«, sagte sie. »Sie haben wohl erwartet, daß ich schüchtern auf ihre Ähnlichkeit mit mir hinweise? Nein, ich werde es nicht tun. Ich habe Sie genug geärgert, aber Sie waren auch wirklich grob zu mir, Mr. Staines. Ich wollte ihr Äußeres gar nicht so genau beschrieben haben, sondern nur wissen, ob sie mir wirklich ähnlich sieht.«

Er nickte lebhaft.

»So?« fragte sie. Dann, nach einer kleinen Pause, fuhr sie fort:

»Ich möchte mal Ihre Gedanken lesen.«

»Und ich die Ihren!«

»Vielleicht verrate ich sie Ihnen eines Tages.« Sie nahm Handtasche und Schirm auf und machte sich zum Gehen fertig. »Werden Sie sich endlich einmal auf Ihre Kavalierspflichten besinnen und mich zum Bahnhof begleiten?«

Er zögerte; um diese Stunde suchte er meist Derricks Haus auf, wo er seit drei Tagen nicht gewesen war. Doch ... schließlich brauchte er nicht den ganzen Tag »im Dienst« zu sein.

»Ja, ich fahre oder gehe mit Ihnen«, erklärte er entschlossen.

Sie ging langsam genug; Eile schien sie jedenfalls nicht zu haben.

»Ich bin eine richtige Kokotte«, klagte sie. »Sie werden eine schöne Meinung von mir haben.«

»Warum auf einmal diese Selbstbeschuldigung?«

»Das darf ich Ihnen nicht sagen. Mir war eben etwas eingefallen. Ja, es betrifft Tommy, den armen Kerl. In diesem Augenblick sitzt er gewiß auf der Schwelle meines Hauses in Cliftonville, um mich, wenn ich herauskomme, zu erwarten. Wahrscheinlich wird es regnen und er durchnäßt sein. Wie schön muß es doch sein, so romantisch zu fühlen wie Tommy.«

»Vielleicht legen wir das Thema ›Tommy‹ mal auf kurze Zeit beiseite«, meinte er ironisch, – »Ist er denn nicht Ihr Freund?« fragte sie, sich überrascht stellend.

»Ja, sogar ein sehr guter. Ich habe ihn gern; das ist ja überhaupt mein Fehler, daß ich andere Leute so schnell liebgewinne.«

»Ich würde Ihnen raten, sich das abzugewöhnen«, sagte sie schnell. »Übrigens haben Sie mich noch nicht einmal gefragt, warum ich meinen Beruf an den Nagel hängen will, und was ich anzufangen gedenke, um mir meinen Lebensunterhalt zu verdienen. Sie haben recht wenig Interesse für mich; Sie scheinen mehr meiner Doppelgängerin nachzutrauern. Diese Glückliche! Träumen Sie recht häufig von ihr?«

»Reden Sie keinen Unsinn, Mary. Ich will Sie sowieso etwas fragen ...« Er hörte sie kichern.

»Sie wollten wohl wissen, wie ich gewohnt bin, von relativ Fremden angesprochen zu werden?« meinte sie spöttisch. »Nun, dann würde meine Antwort lauten ›Miss Dane‹.«

»Ich bin aber doch kein ›relativ‹ Fremder?« protestierte er.

Sie betraten den Park, und Dick nahm ihren Arm. Eine Weile ließ sie es geschehen, dann machte sie sich los.

»Nein! Nein!« hörte er sie flüstern. »Bitte, ich möchte mir meine Selbstachtung bewahren.«

Ihre Worte kränkten ihn, was sie sogleich bemerkte.

»Bitte, seien Sie nicht böse«, bat sie. »Ich habe vorhin Tommy einen Lügner gescholten, nicht wahr? Nun, ich bin bestimmt die letzte, die über ihn den Stab brechen darf. Ich habe Sie nämlich richtig und kräftig angelogen.«

»Womit?«

»Wenn ich Ihre Frage beantwortete, dann wäre die Lüge umsonst gewesen«, gab sie orakelhaft zurück. »Nein, ich muß jetzt schon dabei bleiben; ich möchte Ihnen aber sagen, daß es mir weh tut, Sie angelogen zu haben.« Sie ging schneller. »Ist Ihnen jemals eine Sache zum Ekel geworden? Daß Sie alles, was Sie taten, haßten? Ich meine Beruf, Gesellschaft und alles, was mit dem täglichen Leben zusammenhängt? Ich bin heute in dieser Stimmung!«

»Ihnen paßt Ihr Beruf nicht?«

»Nein!«

Der Zug, den sie benutzen wollte, fuhr erst nach neun Uhr; und sie bat Dick, da sie sich hungrig fühlte, mit ihr in ein Restaurant zum Essen zu gehen. Sie betraten den Wartesaal; sie aß aber nur wenig.

»Wissen Sie, warum ich heute nach London gekommen bin?« fragte sie.

Als er verneinte, sagte sie: »Wenn ich einsteige, sage ich es Ihnen.« Als er einen Platz im Damenabteil gefunden hatte, beugte sie sich an sein Ohr: »Um mich selbst zu demütigen, Asche über mein Haupt zu streuen und mich barfuß im Schnee zu kasteien.«

Er konnte sie nur sprachlos anstarren und lief neben dem sich langsam in Bewegung setzenden Zug her. »Ich will Ihnen noch eine Mitteilung machen, über die Sie entsetzt sein werden. Niemals aber, hören Sie, dürfen Sie mich nach diesem Abend an meinen Wahnsinn erinnern!«

»Was wollen Sie mir noch sagen?« fragte er, und paßte seinen Schritt der schnelleren Fahrt des Zuges an. Sie beugte sich aus dem Fenster, bis ihre Lippen beinahe seine Wangen berührten.

»Ich liebe dich und weiß nicht, warum!«

Kaum ein Flüstern war es zu nennen, dann war sie vom Fenster zurückgetreten. Dick stand wie versteinert da. Lange, als die Schlußlichter des Zuges schon verschwunden waren, stand er noch immer regungslos da und starrte in die Ferne.

Bei seinem Rückweg zum Lowndes Square schien er auf Rosen zu wandeln, wurde aber durch den erregten Minns, der ihn am Haustor erwartete, schneller als er geglaubt hätte, wieder in die Wirklichkeit zurückgerufen.

»Ich habe Sie überall gesucht, Sir«, sagte der Diener atemlos. »Ich wollte schon die Polizei holen.« Er schlug die Tür hinter dem Gast zu. »Seit anderthalb Stunden geht die Klingel in Ihrem Zimmer, Sir. Ich dachte, Sie seien zu Hause.«

Ohne sich lange mit Erkundigungen aufzuhalten, raste Dick wieder auf die Straße zurück und zerrte im Laufen die Schlüssel zu Derricks Haustür aus der Tasche. Er erwartete, die Tür geschlossen und verriegelt zu finden. Sie gab aber dem Schlüssel nach. Auch die Lampen funktionierten, als er sie anknipste. Nirgends war die Spur eines Eindringlings zu bemerken. Erst als er die Schwelle des Salons überschreiten wollte, blieb er wie vom Schlag gerührt stehen. Die ganze Zimmereinrichtung war verstellt worden; in der Wand befanden sich mehrere Löcher, augenscheinlich mit einem elektrischen Bohrer hervorgerufen. Auf dem Fußboden lag das Instrument mit abgebrochener Spitze, daneben Kalkreste, die aus den in die Wände gebohrten Löchern stammten. Mit kriminalistischem Interesse prüfte Dick das Instrument. Er kannte es aus seiner Praxis, hatte aber nie davon gehört, daß man es bei Einbrüchen benutzt hätte. Augenscheinlich waren die Einbrecher bei ihrer Arbeit gestört worden, hatten aber die Suche nach den von ihnen gewünschten Gegenständen oder Verstecken nicht eher aufgegeben, bis sie tief in die Wand vorgedrungen waren. Plötzlich drehte sich Dick um; er hatte ein Geräusch gehört. Hinter ihm stand Walter Derrick und starrte mit unbeschreiblichem Gesichtsausdruck auf die Verwüstung.

»Mein Gott!« sagte er. »Wann ist denn das hier verübt worden? Wer, sagen Sie mir, wer kann das getan haben?«

»Ja, wenn ich das wüßte«, gab Staines zurück. »Scotland Yard hat nach dem Mann große Sehnsucht. Wir suchen ihn seit zehn Jahren.«

Derrick blickte überrascht auf. »Sie wissen, wer er ist?«

»Seine Persönlichkeit kenne ich nicht; sie ist uns seit dem Tag ein Geheimnis geblieben, seit er den Mord beging.«

»Mord? Er hat einen Mord begangen?«

»Vor zehn Jahren, Mr. Derrick, wurde in Slough auf offener Straße ein Geldbote niedergeschossen und beraubt.« Er schwieg. Derrick starrte ihn noch immer verwundert an.

»Ja, aber was hat denn dieser Einbruch mit jenem Mord zu tun?« fragte er.

»Damals hinterließ der Mörder von Slough auf seiner Mordwaffe einen Daumenabdruck. Als vor einigen Tagen zuerst von mir eine Einbrecherin in Ihrem Hause festgestellt und das von Larkin an jenem Abend benutzte Bierglas untersucht wurde, fanden wir den Abdruck des Mörders von Slough auf dem betreffenden Glas wieder.«

»Auf ... Larkins ... Glas?« stotterte der andere.

»Nicht nur einmal«, gab Dick zurück. »Auch auf dem Tisch des Zimmers, in dem Lordy Brown ermordet worden war, fand man den gleichen Daumenabdruck.«

»Mein Gott! Ein Mörder! Der Daumenabdruck auf meinem Tisch? Und auf dem Bierglas? Sagten Sie nicht so? Sie haben den Abdruck doch sicherlich fotografiert, nicht wahr? Täuschen Sie sich nicht etwa in Ihrer Annahme?«

»Bestimmt nicht. Das einzige, was uns wundert, ist, daß wir zwar einen Daumenabdruck, aber keinen einzigen Abdruck der Finger fanden. Das ist um so verwunderlicher, als doch niemand ein Glas nur mit dem Daumen aufheben kann. Ich erzähle Ihnen hier mehr, als ich meinem Vorgesetzten gegenüber verantworten kann. Ich habe zwar eine Theorie aufgebaut, möchte aber ...«

Er starrte verwundert auf die Wand. Dann ging er hin und zeigte auf eines der Bohrlöcher.

»Hier haben Sie den Abdruck wieder!« sagte er. Ein Irrtum war ausgeschlossen, das sah auch Derrick. Die Blicke der beiden Männer begegneten sich, und im selben Augenblick wußte Dick, daß seine Vermutung auf Tatsachen beruhte. Er wußte, wie der Daumenabdruck auf jene Stelle gekommen war. Unter dem Abdruck zeigte sich ein kleiner, noch feuchter Fleck.

Bourke wollte eben das Büro verlassen, als ihn der Anruf erreichte. Derrick hatte sein Haus bereits verlassen und sich in ein Hotel begeben, als der Chef mit Dick zusammentraf.

»Haben Sie die Kerle bei dieser Bohrarbeit gehört?« fragte er, sobald er den Salon in Derricks Haus betreten hatte.

»Nein, ich war ausgegangen.« Er erzählte dem Chef nicht, warum er ausgegangen und auf wessen Veranlassung es geschehen war. Bourke schien sich auch nur wenig dafür zu interessieren.

»Eine Frechheit müssen die Kerle besitzen«, sagte er. »Hier ist ja der Daumenabdruck wieder. Ja, ich kenne ihn jetzt wie mich selbst. Ohne Vergrößerungsglas. Mit dieser Stempelfarbe also?« Er berührte den noch immer feuchten Fleck. »So, also künstlich angebracht?«

»Ja, mit einem Gummistempel«, bestätigte Staines. »Ebenso wie der Abdruck auf Glas und Tischplatte. Nur, daß sie dort keine Stempelfarbe benutzten, sondern ein wenig Wasser dieselben Dienste leistete. Den Abdruck des Slaugher Mörders nachzuahmen, war ja keine Kunst, denn es gibt mindestens drei Fachwerke, die ihn reproduzierten.«

»Wir sollten wohl damit aufs Glatteis geführt werden«, meinte Bourke. »Hm. Merkwürdig. Ich hätte das nie gedacht. Hatten Sie Ihre Alarmvorrichtung angebracht? Na, da Sie ausgegangen waren, hatte sie ja nicht viel Zweck.« Dick erklärte dem Chef, daß Minns den Alarm gehört, aber nicht gewußt habe, was tun.

»Er hätte die Wache benachrichtigen sollen«, meinte Bourke. »Die Leute sind doch zu dumm! Man hat Sie wohl aus dem Haus gelockt, wie?«

Dick schwieg.

»Sie müssen es verdammt schlau angefangen haben«, fuhr Bourke fort. »Sie sind doch keiner von denen, die jedem hübschen Unterrock nachlaufen.«

Er war mit der genauen Betrachtung der Bohrlöcher beschäftigt, konnte also das Erröten seines Untergebenen nicht bemerken. Aber Dick erinnerte sich der Umstände seines Spazierganges um so lebhafter; er dachte an die Selbstbeschuldigung Marys und an die Worte, die sie ihm noch vom Zug aus zugeflüstert hatte. Der Verdacht, den Bourke ausgesprochen, war gerechtfertigt. Verdacht? Nein, es war für Dick eine Gewißheit.

Er sah aus wie der leibhaftige Tod, so daß Bourke es bemerkte.

»Krank, Staines?« erkundigte er sich besorgt.

»Zum Kotzen!«

»Soll ich Ihnen noch einen Mann herschicken«, fragte der Chef.

»Nein, ich hatte es Derrick schon vorgeschlagen, aber er wollte es nicht. Er will das Haus ganz aufgeben, meinte sogar, ich brauche nicht mehr länger Tommys Gastfreundschaft in Anspruch zu nehmen. Derrick ist nach London zurückgekehrt, weil er zu einer Sitzung mußte.«

»Was er in seinem Haus anordnet, ist seine Sache«, erwiderte Bourke. »Ich möchte jedenfalls, daß Sie noch länger bei Lord Weald bleiben. Ja, der Daumenabdruck ist künstlich angebracht worden, aber warum? Da steckt etwas dahinter, was wir noch nicht ahnen. Jedenfalls sollen wir auf die Person des Slougher Mörders aufmerksam gemacht werden. Und dann noch etwas: Lordy Brown wurde vom Mörder von Slough getötet, das steht für mich fest. Derselbe Schuß, Richtung von unten nach oben. Bleiben Sie bei Weald; ich glaube, er wird das Mittel sein, den größten Fall, den wir jemals hatten, erfolgreich zu beenden.«


 << zurück weiter >>