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14

Dick vermochte vor Erregung die ganze Nacht kein Auge zu schließen, aber er war am Morgen so guter Laune, daß der neben ihm wohnende Gast sich wegen seines lauten Singens beschwerte.

Mary konnte er nur einen Augenblick lang sprechen, denn Bourke hatte ihn telefonisch gebeten, so schnell wie möglich nach London zurückzukommen. Tommy begleitete ihn zum Bahnhof.,

»Endlich alles in Butter, Dicky«, jubelte der Lord. »Wir sind uns einig.«

»Wir? Einig? Wer denn?« wunderte sich Dick. »Hattet ihr euch denn gezankt?«

»Ach so, ich vergaß, daß du nicht dabei warst. Ich wollte, ehe sie mit ihrem alten Invaliden heimfuhr, einen ... Kuß von ihr haben, was ja schließlich mein gutes Recht als Bräutigam war. Sie sah mich so verwundert an, daß ich sprachlos war. Ohne ein Wort zu sagen, ging sie davon. Ich war unglücklich wie eine Wurst ohne Schale. Endlich kam sie wieder in den Garten. Ach, Dick, sie war herzig!«

»Was verstehst du unter ›herzig‹«, wollte sein Freund, starr vor Staunen, wissen. »Du hast sie geküßt?«

»Natürlich.«

»Na, meinetwegen.«

Auf dem ganzen Weg nach London versuchte Dick, sich die merkwürdigen Handlungen der beiden angeblichen Misses Dane zu erklären. Er erinnerte sich, daß Tommy gesagt hatte, Mary habe, der Ring, den er ihr gekauft hatte, nicht gepaßt. Plötzlich durchschoß ihn ein Gedanke! Der Ring? Hatte sie nicht ihre Hand zurückgezogen, als Tommy diese erfassen wollte? Hatte sie nicht ihm, Dick, gebeichtet, daß sie ihn belogen habe? Atemlos sank Staines in das Polster zurück. Jetzt wußte er, was sie gemeint hatte! Alles, was ihm an ihr unverständlich erschienen war, lag nun klar wie Sonnenlicht vor Ihm.

Bourke erwartete ihn im Amt und hatte ganze Aktenbündel vor sich.

»Wie sind Sie eigentlich auf Lavinsky gekommen, Staines?« begrüßte er seinen Inspektor.

»So, haben Sie es schon erfahren?« fragte Dick lachend. »Ich hatte von ihm keine Ahnung, aber eine bekannte Dame bezeichnete ihn als den vermutlichen Mörder von Slough.«

»Woher wußte sie es denn? Na, lassen Sie nur, es ist ja auch gleichgültig. Die Hauptsache ist ...«

Er blätterte in den Akten und wies auf eine Fingerabdruckkarte mit deutschem Text:

»Verurteilt in München 1924, Lavinsky, alias Stain, alias Griedlovitz, alias Paul Stammen. Spricht gebrochen deutsch und russisch. Wahrscheinlich englischer Abstammung.«

»Sehen Sie sich den Daumenabdruck näher an«, bat Bourke.

»Ja, er ist es«, gab Dick zu. »Woher haben Sie denn die Karte?«

Die deutsche Botschaft hatte sie geliefert. Sie hatte dort gelegen, weil der Täter wahrscheinlich englischer Abstammung war.

»Auch die anderen Botschaften und Konsulate haben eine Kopie von dieser Karte bekommen, und ich hatte schon daran gedacht, hinzuschreiben, um mir alle notwendigen Daten über den Mann zusammenzuholen. Vielleicht könnte ich sogar ein Bild von ihm ergattern. In Deutschland war er für die gleiche Straftat, wie er sie hier in England verübt hat, verurteilt worden. Er hatte einen Kassierer niedergeknallt und die Lohngelder geraubt. Ich glaube nicht, daß er in England ist ...«

»Doch, ich ahne, daß er hier in London wohnt.«

»Wir werden durch die Presse versuchen, ihm auf die Spur zu kommen«, erwiderte der Chef. »Ich habe seine Beschreibung veröffentlichen lassen.« Er schob dem Inspektor die Abschrift der Fahndung zu. »Morgen werden wir wohl die Reporter hier haben, aber keiner darf etwas davon erfahren, daß wir Lavinsky wegen des Mordes von Slough suchen.«

*

Derrick trat gerade mit zwei Maurern, die die beschädigte Wand repariert hatten, aus dem Haus, als Dick dort vorfuhr.

»Ich lasse sämtliche Gänge zumauern«, teilte er Staines mit. »Wenn das nichts hilft, verkaufe ich den alten Kasten.«

»Und verlieren dort das vergrabene Vermögen«, warnte ihn Dick.

Der andere lachte.

»Ich habe Ihnen doch schon einmal gesagt«, erwiderte er, »daß das einzige Gold dort auf den Bilderrahmen klebt. Waren Sie verreist?«

»Ja. Ich dachte, Sie waren in Brighton, während ich doch Ihren Wagen in Lewes stehen sah? Der Garagenmeister hatte es mir erzählt.«

»Ja, ich war auch in Brighton, aber das Hotel war so voll ...« Er unterbrach sich: »Wo essen Sie denn heute abend?«

»Zu Hause; hier nebenan.«

»Ja, Sie haben recht, es ist beinahe Ihr ›Zuhause‹. Darf ich Sie einladen, bei mir zu essen, oder soll ich mich zu Ihnen einladen?«

Das letztere war Staines lieber, denn er sah, daß auch Derrick, so sehr er sich zu beherrschen suchte, von den Ereignissen nicht unberührt geblieben war. Hinter seinem Humor lauerte etwas wie Nervosität und Furcht. Beim Essen berichtete er dem erstaunten Dick, daß er am meisten durch das »Gespenst« beunruhigt worden sei.

»Diesen Spuk kann ich gar nicht verstehen«, meinte er. »Haben Sie vor Gespenstern Angst?«

Dick lachte. Nein, er fürchte sich nicht vor ihnen.

»So? Nun, ich gebe zu, daß ich Angst habe. Ich bin soweit, daß ich nicht einmal wage, nebenan zu übernachten, um den Spuk selbst zu sehen. Larkin sagt nämlich, mein Vater erscheine alle Tage.«

»Warum überlassen Sie nicht mir die Verfolgung des Gespenstes?« fragte ihn Dick.

»Werde ich denn überhaupt noch gefragt? Als ich heute morgen hier eintraf, waren zwei Beamte drüben. Wenn Sie etwas merken sollten, dann gehen Sie ruhig hinüber. Ich werde Larkin Bescheid geben, daß er die Fenster offen und die Beleuchtung auf der Treppe brennen lassen soll. Wer ist denn jener Lavinsky?« Er zog eine Zeitung aus der Tasche. »Warum wird er denn gesucht?«

»Verschiedenes wird ihm zur Last gelegt. Mord ist auch dabei.«

Aufmerksam las Derrick die Fahndung durch.

»Von Mord wird hier aber nichts erwähnt«, sagte er dann. »Na, wahrscheinlich einer von euren Tricks, wie? Larkin meint übrigens, daß das Gespenst jede Nacht zwischen halb zwölf und zwölf erscheint. Also, nun wissen Sie Bescheid.«

Er wollte in Weybridge schlafen, wo ein herrlicher Golfplatz wäre. Ehe er abfuhr, benachrichtigte er Larkin von seinem Übereinkommen mit Dick und entfernte sich dann mit einigen Scherzworten. Dick war müde. Er nahm sich ein Buch und versuchte zu lesen, aber die Gedanken ließen sich nicht zwingen. Immer und immer wieder beschäftigten sie sich mit Mary und den Ereignissen der letzten Tage. Er blickte auf die Uhr; es wurde Zeit, denn gegen zwölf pflegte ja der Geist Josua Derricks zu erscheinen. Im Augenblick, als sich Dick erhob, läutete das Telefon.

»Sie werden von Margate verlangt«, meldete die Beamtin.

»Bist du es, Dick?« erklang die Stimme Marys. – »Ja Geliebte.«

»Du warst doch nicht etwa in Derricks Haus, wie? Versprich mir, daß du auch nicht hingehen wirst, Dick!« Jemand war in der Leitung, und das Stimmengeräusch machte alle weiteren Worte des Mädchens unverständlich. Endlich konnte der ungeduldige Inspektor wieder die Stimme des Mädchens hören. »Dick, hörst du mich noch? Liebling, bitte, geh nicht ...« Wieder war die Verbindung unterbrochen. Zornig rief er die Zentrale an.

»Mein Gespräch mit Margate ist unterbrochen worden«, stürmte er. »Stellen Sie die Verbindung sofort wieder her!«

»Mit welcher Nummer sprachen Sie, Sir? Sie wissen es nicht? Bitte, hängen Sie ab. Wir rufen wieder.«

Er wartete vergeblich, der Anruf kam nicht mehr. Warum wollte Mary nicht, daß er zu Derrick ginge? Er wartete noch einige Minuten und eilte dann über den Balkon ins Nebenhaus. Er trat auf die dunkle Treppe hinaus. Warum brannten die Lichter nicht, wie Derrick angeordnet haben wollte? Plötzlich befiel ihn ein Gefühl des Entsetzens. Was war die Ursache? Meldeten sich in ihm die Instinkte der Urväter, das Gefühl sich nahender Lebensgefahr? Langsam schritt er vorwärts, als seine unbeschuhten Füße gegen ein Hindernis stießen. Es war ein Zwirnsfaden, den man quer über den Korridor gespannt hatte. Plötzlich hörte er jemand rufen. Es war Minns.

»Bitte, Mr. Staines, gehen Sie nicht hinüber; die junge Dame sagte mir, daß irgendwo auf der Treppe Selbstschüsse gelegt sind.«

»Bringen Sie mir meine Lampe heraus«, befahl ihm Dick vom Balkon aus, wohin er sich begeben hatte, als seine Füße gegen den Faden gestoßen waren. »Neben meinem Bett steht sie.«

»Bitte, nehmen Sie sich um Gottes willen in acht, Sir.«

Warum war der Diener so entsetzt? Hatte er wirklich soviel Sympathie für den Gast seines Herrn?

Dick nahm die Lampe aus der Hand Minns' und leuchtete auf den Gang hinaus. Ja, dort lag das Selbstschußgewehr, und zwar so schlau versteckt, daß niemand, auch bei Licht nicht, es hätte rechtzeitig bemerken können. Er stieg über den ausgespannten Faden, der am Abzug befestigt war, hinweg, vorsichtig der Mündung der mörderischen Waffe aus dem Wege gehend. Langsam ließ er den Abzug zurücksinken, bis jede Gefahr beseitigt war. Die Falle war altmodisch, erfüllte aber bestimmt ihren Zweck.

»Miss Dane verlangt Sie am Apparat«, rief ihm Minns zu.

Dick ging in sein Zimmer zurück und nahm den Hörer auf. »Bist du es, Dick? Oh, Liebling, warst du drüben? Gott sei Dank, daß dir nichts passiert ist! Hast du es gesehen?«

»Du meinst die Flinte? Ja.«

»Liebling, ich kam bald um vor Angst hier. Warum bist du denn hinüber? Ich bat dich doch, es nicht zu tun?«

»Woher weißt du denn, daß die Falle vorhanden war?«

»Ich dachte es mir. Nein, ich wußte es nicht. Jemand hatte mir etwas erzählt, und so kam ich auf den Gedanken.« Sie schwieg während er ihr die Falle beschrieb. »Versprich«, sagte sie endlich, »daß du nicht wieder hinübergehen wirst.«

»Ja, wenn auch du nicht hinübergehst!«

Ein langes Schweigen.

»Drei Minuten sind um, Sir«, brach die Stimme der Telefonbeamtin das drückende Schweigen.

»Ja, ich verspreche dir's«, sagte Mary schnell. »Ich werde nur mit dir hinübergehen.«


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