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19

Lange saß Dick vor dem Buch und starrte, ohne zu sehen, auf die gedruckten Zeilen. Plötzlich wurde die Tür aufgerissen, und Tommy stürmte ins Zimmer.

»Hast du Mary gesehen?« Seine Stimme klang schrill vor unterdrückter Aufregung. »Verschwunden seit heute nachmittag, mein Junge. Die ganze Gesellschaft ist weg. Mary, Cornfort – der angeblich Sterbende –, Henry, alle sind weg. Nur der Rollstuhl ist noch da. Schrecklich, so ohne ein Wort zu verschwinden. Während ich vor ihrem Haus auf und ab spazierte, müssen sie abgebaut haben. Schrecklich, entsetzlich!« Ehe Dick etwas bemerken konnte, fuhr er fort: »Wenn nun der Bombenwerfer etwas damit zu tun hat, Dicky? Du mußt helfen, mein Junge. Du bist doch von der Polizei! Um zwölf sind alle zusammen in einem Auto auf und davon!«

»Halte doch endlich einmal deinen Mund, Tommy«, bat ihn der Freund, »damit ich auch einmal ein Wort sprechen kann. Ich habe Mary gesehen.«

»Wo ist sie? Hier? In London?« Tommys Augen traten beinahe aus den Höhlen.

»Ja, hier. Auch Henry ist da.«

»Darauf müssen wir eins trinken, Dick. Klingle Minns, er soll eine Flasche bringen. Wo wohnt denn die ganze Gesellschaft?«

Dick vermochte ihm darüber keine Auskunft zu geben, doch ließ er ihn nicht im unklaren darüber, daß er Mary in der Nacht erwarte.

»Wo ist sie denn jetzt? Wird sie dich anrufen?« wollte der Lord wissen.

»Du willst wohl weg? Wohin?« fragte Dick, als er sah, daß Tommy sich entfernen wollte.

»Nein, ich kam hierher, weil ich unruhig war. Jetzt aber fahre ich gemütlich nach Surrey.«

»Was willst du denn dort?« fragte der Freund ungeduldig.

»Die Flitterwochen vorbereiten. Wir wollen nächste Woche heiraten!«

Dick sprang entsetzt auf.

»Nächste Woche? Bist du verrückt geworden? Du sagtest mir doch, ihr wolltet erst im September heiraten!?«

»Nee, mein Sohn, nächste Woche geht's los!«

Staines war sprachlos, aber – was sollte er tun?

»Was hast du denn für eine Telefonnummer?« wollte er wissen.

Tommy nahm einen Bleistift heraus, schrieb aber die verlangte Nummer nicht nieder.

»Ach, wenn du wüßtest, was du mir für einen Stein vom Herzen gewälzt hast, als du mir sagtest, Mary sei wohlauf, Dick«, machte er seinem Herzen Luft. »Ich wollte Selbstmord begehen, nach Afrika auf die Löwenjagd fahren; kurz, alles, was ein Mensch tut, wenn ihm seine Braut verschwindet. Na ...« Er drehte sich kurzerhand um und verließ das Zimmer, ohne Dick die verlangte Auskunft zu geben.

Dick wartete die Dunkelheit ab. Er war schon auf dem Sprung, ins Nebenhaus hinüberzuklettern, als er sich besann, was er Mary versprochen hatte. Nichtsdestoweniger wurde das Verlangen, Derricks Haus aufzusuchen, beinahe übermächtig in ihm. Er beschränkte sich jedoch darauf, es von außen zu mustern, obwohl der Anblick nicht sehr erhebend war. Alles, was zu dem Nebenhaus gehörte, war im geschmacklosen Stil des Viktorianischen Zeitalters erbaut. London würde nichts verlieren, wenn Derrick seine Drohung ausführte und das Haus dem Erdboden gleichmachen ließ. Besonders die Fenster fielen Staines auf; sie waren lang und schmal, und ihre Größe stand in keinem Verhältnis zum Baustil. Ja, Derrick paßte gut zu seinem Besitztum; er war ein genauso merkwürdiges Gebilde wie dieses. Plötzlich richtete sich Dick hoch auf. Durch die Scheiben der Balkontür zum Büroraum des Nebenhauses hatte er einen kurz aufflammenden, ebenso rasch wieder verschwindenden Lichtschein bemerkt. Derrick konnte nicht der Urheber sein, denn er hatte versprochen, bei Dick nochmals vorzusprechen, sobald er mit dem Essen fertig war. Wieder war der Inspektor im Begriff, die kurze Entfernung zum Nebenhaus zu überschreiten; wieder erinnerte er sich seines Versprechens, auf Miss Dane zu warten. Wer mochte sich dort nebenan zu schaffen machen, und wie war der Betreffende ins Haus gelangt? Bestimmt nicht über die Geheimtreppen. Plötzlich sah Dick eine behandschuhte Rechte und kurz darauf einen Kopf im Fenster des Balkonzimmers erscheinen. Die Gesichtszüge waren für den Lauscher unsichtbar, doch genügte der schwache Lichtschein der Straßenlaterne, um Dick zu beweisen, daß der Unbekannte eine Maske trug, die den ganzen Kopf verhüllte.

Einen Augenblick hielt sich Dick noch zurück. Dann trat er auf den Balkon hinüber und streckte seine Hand nach dem Maskierten aus: »Sie suche ich!« sagte er. Er sah, wie der Überraschte seine Hand hob und ließ sich im selben Augenblick auf den Boden des Balkons niederfallen. Er hörte einen Knall. Doch die aufleuchtende Stichflamme der Schußwaffe verriet ihm, daß er sein Leben nur seiner Geistesgegenwart zu verdanken hatte. Sofort nach dem Schuß drehte sich der Maskierte um und verschwand wieder durch das Fenster im Büroraum. Schon wollte Dick ihm folgen, aber dann besann er sich doch eines anderen. Er eilte in sein Zimmer zurück und über die Treppen von Tommys Haus nach unten. Auf dem Weg traf er Minns, den er wie einen Ball zur Seite schleuderte. Er riß die Haustür auf und fuhr zurück. Derrick stand vor ihm, die Hand auf dem Klingelknopf.

»Was ist denn nun schon wieder los?« fragte der Besitzer des Nebenhauses und starrte Staines entgeistert an. Ohne zu antworten, eilte dieser zum Nebenhaus hinüber und versuchte, die Haustür zu öffnen. Sie war verschlossen.

»Ist wieder jemand drin?« fragte der andere erregt.

»Kommen Sie her, Derrick«, rief ihm Dick zu. »Versuchen Sie mal die Tür zu öffnen.«

»Warum?« wollte jener wissen. »Wollen Sie hinein?«

»Nein«, erwiderte der Inspektor lakonisch.

Dick starrte auf die Steinstufen. Es hatte geregnet, und die Straße glänzte im Licht der Laternen. Die zum Hause Derricks führende Treppe war jedoch vollkommen trocken, da sie vom Regen nicht erreicht worden war.

»Merken Sie etwas?« wandte er sich an seinen Begleiter.

»Nein«, entgegnete er. »Was ist denn los? Verdammt noch einmal, diese verfluchte Heimlichtuerei hängt mir schon zum Hals heraus.«

»Da ist nichts Geheimnisvolles dabei«, erklärte der Inspektor. »Der maskierte Einbrecher hat versucht, mich zu erschießen.«

»Mein Heiland!«

Derrick wandte sich um. Er sah zwei Männer stehen, die ihn neugierig beobachteten.

»Wer sind denn jene Leute?« wollte er wissen.

»Die tun Ihnen nichts«, beruhigte ihn Dick. »Es sind zwei Leute vom Yard.« Er winkte einen der beiden heran: »Haben Sie hier jemand bemerkt?« fragte er ihn.

»Nein, wir sahen nur einen schnell wieder verlöschenden Lichtschein oben auf einem der Balkons.«

Derrick hatte seine Haustür geöffnet. Die Diele war stockfinster,

»Ich bin daran schuld«, meinte er. »Ich habe vergessen, Licht zu machen, ehe ich zum Essen ging. Ich glaubte nicht, daß es so schnell finster würde.«

»Die Leute werden Sie ins Haus begleiten«, unterrichtete ihn Staines, auf die beiden Kriminalbeamten zeigend.

Derrick lachte.

»Fürchten Sie sich?« neckte er ihn.

»Entsetzlich«, erklärte der Inspektor ironisch.

Er wartete vor der Tür, bis endlich einer der Leute, die Derrick ins Haus begleitet hatten, wieder erschien. Er reichte seinem Chef die Maske, die der Attentäter getragen hatte.

»Sie ist aus einem Damenstrumpf gemacht, Sir«, berichtete der Mann. »Sie lag auf der Treppe.«

»Haben Sie die Schußwaffe gefunden?«

»Nein, Sir. Nur der Schalldämpfer lag oben. Hier ist er.«

Dick steckte die Vorrichtung in die Tasche.

»Von dem Mann selbst haben Sie wohl nichts gesehen?«

»Nein, Herr Inspektor.«

Dick lächelte. Er wußte, was er wissen wollte. Die Außentreppe des Derrickschen Hauses hatte ihm alles Notwendige verraten.

»Nun, es war auch nicht gut zu erwarten«, meinte er, »daß der Herr Maskierte warten würde, bis wir kamen.«


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