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13

In London war das Wetter trübe und regnerisch. Dick war von Margate in der Erwartung zurückgekommen, denselben Sonnenschein wie dort auch in der Hauptstadt anzutreffen, und war durch den Wechsel bitterlich enttäuscht. Auch seine Stimmung war nicht die beste; er ärgerte sich über alles. Minns war, als Dick Tommys Haus erreichte, soeben ausgegangen. Ein langes Schriftstück vom Yard lag auf dem Schreibtisch, das auf einen viele Jahre zurückliegenden Fall Bezug nahm, den Staines aufgeklärt und erledigt geglaubt hatte. Einsam nahm er sein Mahl ein und hatte kaum gegessen, als der zurückgekehrte Minns eiligst den Besuch Larkins meldete.

»Es sei nichts Wichtiges, Sir, sagte er. Er wartet draußen. Soll ich ihn noch so lange warten lassen, bis Sie Zeit haben, Sir?«

»Bringen Sie ihn nur gleich herein.«

Larkin wollte nur berichten, daß es nichts zu berichten gebe und daß er seine gewohnte Runde im Nebenhaus gemacht habe.

»Erinnern Sie sich des eisernen Schrankes, Sir, den Sie mir zeigten? Der oben im Büro steht? Ich versuchte ihn heute nachmittag zu öffnen – Sie schlossen ihn doch nicht zu, nicht wahr?«

»Nein. Ich glaube, die Tür war mit einem Schnappschloß versehen. Hörten Sie irgend etwas Verdächtiges im Schrank?« fragte Dick lächelnd.

»Nein, Sir. Bei Tag kann mich überhaupt nicht so leicht etwas erschrecken, um so mehr aber nachts, und ich gestehe Ihnen offen, keine zehn Pferde brächten mich dazu, nochmals eine Nacht drüben zu schlafen!«

»Erinnern Sie sich, ob am Abend, als ich Sie bewußtlos auf dem Fußboden in der Küche liegen fand, jemand Ihre Taschen untersuchte?«

»Erinnern kann ich mich zwar nicht, Sir, aber ich weiß, daß es so war.«

»Was mögen die Leute wohl bei Ihnen gesucht haben? Vermuten Sie es vielleicht? Hatten Sie Schlüssel bei sich? Ich habe mich leider niemals bemüht, diese Dinge richtig aufzuklären.«

»Ich kann mir wirklich nicht denken, Sir, was sie bei mir gesucht haben mögen. Das einzige, was ich bei mir trug, war ein Schlüsselbund mit den Schlüsseln für den Weinkeller.«

»Die man Ihnen weggenommen hat?« wollte Dick wissen.

»Nein«, erwiderte der Gefragte kopfschüttelnd. »Nicht beide, nur einen davon. Es waren nämlich zwei Schlüssel am Bund, den mir Mr. Derrick vor seiner Abreise einhändigte.«

»Haben Sie den anderen Schlüssel noch?«

»Ich weiß nicht recht, Sir, ob ich ihn Ihnen geben darf, aber ... na, es wird schon seine Richtigkeit damit haben.«

»Der Weinkeller interessiert mich, Larkin. Sie können mir den Schlüssel ruhig anvertrauen; ich bin ehrlich. Mr. Derrick wird nach meinem Besuch bestimmt keine Flasche vermissen.«

Larkin wandte sich zum Gehen.

»Eine Sache wollte ich Ihnen noch melden, Sir: Mr. Derrick gab mir vor seiner Abreise strengen Befehl, alle Fenster zu verriegeln und zu verschalen. Ich weiß nicht, ob er mit Ihnen von dieser Anordnung gesprochen hat, aber er meinte, er wolle nicht, daß noch jemand in seinem Hause das Leben einbüße.«

»Na, Ihnen kann das ja nicht passieren, Larkin«, lachte Dick, »denn Sie schlafen ja nicht mehr drüben. Ich habe jetzt einen Hausschlüssel und brauche nicht mehr durchs Fenster einzusteigen.«

Dick beendete noch seine für Scotland Yard bestimmten schriftlichen Arbeiten und machte sie postfertig. Die Nacht lag nun vor ihm. Er konnte also schalten und walten, wie er wollte. Nun war die Gelegenheit da, seine Theorien zu beweisen. Ihm selbst erschienen sie, bei Licht betrachtet, wie Traumgebilde; sie waren so unwahrscheinlich und so sehr von Marys Bild beeinflußt, daß er selbst sie kaum für möglich hielt.

Er blickte auf seine Uhr; es war nahe an zehn. Um diese Zeit erwartete er den Bericht des in Margate zurückgelassenen Rees, den er Mary Dane auf die Fersen gesetzt hatte. Um sich die Zeit zu verkürzen, trat er auf die Straße hinaus und betrachtete nachdenklich Derricks Haus. Nichts an der dunklen Hausfront deutete auf etwas Ungewöhnliches. Er kehrte ins Haus zurück und wartete auf den Bericht von Rees. Gegen elf Uhr kam der erwartete Anruf.

»Bitte, entschuldigen Sie, Mr. Staines, daß ich erst jetzt anrufe. Ich bin im Hotel. Die betreffende junge Dame habe ich zweimal gesehen.«

»Regnet es in Margate?«

»Nein. Das Wetter ist herrlich, und Miss D. spaziert draußen mit Lord Weald auf und ab. Es war leicht für mich, sie zu beobachten, da die Nacht ziemlich dunkel ist.«

Dick biß die Zähne zusammen; die Mitteilung, daß Mary und Tommy auf einer dunklen Straße miteinander spazierengingen, hatte nichts an sich, was ihn besonders erfreuen konnte. Der nichtsahnende Rees wühlte noch tiefer in der Wunde.

»Lord Weald hält die Dame an der Hand«, fuhr er in seinem Bericht fort. »Wissen Sie, wie die Kinder es tun, wenn sie mit schwingenden, ineinander verschlungenen Händen ›Himmel und Hölle‹ spielen.«

»Hoffentlich ist Ihnen von dem Anblick nicht schwindlig geworden«, meinte der Inspektor ironisch. »Teilen Sie mir das Notwendige mit und lassen Sie alle Nebensächlichkeiten beiseite. Wie spät war es, als Sie die Herrschaften zum letztenmal sahen?«

»Vor zwei Minuten, Sir.«

Nachdenklich hängte Dick ab. Mary war unstreitig ein Rätsel. Er bereitete sich zum Schlafengehen vor, als ihn eine der drei vor seinem Bett angebrachten Alarmklingeln aus seinem Sinnen schreckte. Ohne einen Augenblick zu verlieren, ließ er sich mit Scotland Yard verbinden.

»Sämtliche verfügbaren Mannschaften nach dem Lowndes Square«, rief er kurz in den Apparat. »Derricks Haus ist von allen Seiten zu umzingeln. Niemand darf das Gebäude verlassen.«

Er legte auf und zog seinen Mantel an, nachdem er sich der in seiner Tasche befindlichen Schußwaffe versichert hatte. Im Augenblick, als er das Zimmer verlassen wollte, kam Minns herein, um sich nach den weiteren Wünschen des Gastes zu erkundigen. Beim Anblick der schußbereiten Pistole wurde er bleich.

»Sind sie wieder da?« fragte er bebend.

»Ja. Lassen Sie die Dienerschaft nichts merken, Minns. Sie bleiben hier. Sie brauchen keine Angst zu haben; fünfzig Polizisten werden in wenigen Minuten das Nachbarhaus umzingelt haben.«

Er wollte eben Derricks Haustür aufschließen, als er hörte, daß von innen leise die Riegel vorgeschoben wurden. Er war um eine Sekunde zu spät gekommen. Ohne einen Augenblick zu zögern, stürmte er in seine Wohnung zurück, an dem verblüfften Diener vorbei auf den Balkon und über die Notbrücke auf den des Derrickschen Hauses. Dann zog er die Leiter vom Oberlichtfenster herab, was Minns bemerkte.

»Die Leiter führt aufs Dach, Sir«, erklärte er.

»Wirklich?« fragte Dick ironisch. In zwei Sekunden war er oben und blickte durch das Fenster nach unten. Eine Lampe brauchte er nicht, denn aus dem Derrickschen Haus drang ein schwacher Lichtschein. Mit großer Vorsicht fühlte er langsam seinen Weg nach unten, bis er endlich auf dem Korridor landete. Lauschend schlich er diesen entlang bis zur Biegung, die das Treppenhaus hier bildete. Ein Schauder lief ihm über den Rücken: Die Tür des Zimmers, in dem Larkin geschlafen hatte, öffnete sich langsam, und er sah den Eindringling. Ein Mädchen, von Kopf bis Fuß schwarz gekleidet, stand auf der Schwelle und beugte horchend den Kopf vor. Es war Mary Dane!

Er hatte sie zwar niemals schwarz gekleidet gesehen, hätte aber seinen Kopf darauf wetten mögen, daß sie es war. Er konnte beinahe ihre Atemzüge hören, so nahe war er ihr. Langsam begann sie sich den Korridor entlangzuschleichen, die Tür des Zimmers, aus dem sie herausgekommen war, behutsam hinter sich zuziehend. Nun bewegte sich auch eine andere Tür. Der Rücken des Mädchens war Dick zugewandt, und er ahnte, daß nunmehr auch der Bundesgenosse der nächtlichen Besucherin auftauchen würde. Endlich sah er ihn: das Gesicht war im Schatten, und Dick konnte daher die Züge des andern nicht erkennen. Über den Kopf trug der Eindringling einen mit zwei Löchern für die Augen versehenen Strumpf, Das war das erstemal, daß Dick in seiner zehnjährigen Polizistenerfahrung einen maskierten Verbrecher sah. Warum hatte sich nicht auch das Mädchen maskiert? Plötzlich wollte dem Inspektor das Blut in den Adern stocken: Er sah, wie sich der Mann leise an die Wartende heranschlich und sie bei der Kehle faßte. Er sah ihren erschreckten Blick, hörte ihren entsetzten Ausruf. Dann begann sie um ihr Leben zu kämpfen.

»Endlich hab ich dich!«

Scharf, beinahe zischend drangen die Worte des Mannes an Dicks Ohr. Jetzt ließ der Widerstand des Mädchens nach; der Angreifer zerrte sie zu der Tür hin, aus der er eben herausgetreten war. In diesem Augenblick erscholl Dicks scharfer Befehl:

»Lassen Sie das Mädchen los, oder ich schieße!«

Staines sah zwei wütende Augen auf sich gerichtet; im nächsten Augenblick hatte der Maskierte sein Opfer losgelassen und raste die Treppen hinab. Dick wäre ihm gefolgt, aber das Mädchen, das er für Mary Dane hielt, war bewußtlos zusammengesunken. Er hob sie auf und trug die reglose Gestalt in das Büro. Als er Licht machen wollte, bemerkte er, daß jemand sämtliche Birnen losgeschraubt hatte. Beim Schein seiner Taschenlampe erkannte er das Gesicht der Ohnmächtigen.

»Mary!« flüsterte er zärtlich.

Sie öffnete die Augen und starrte ihn an. Dann griff sie tastend an ihre Kehle, die der Maskierte so brutal umklammert hatte.

»Was wolltest du hier?« fragte Dick.

Sie ließ die Frage unbeantwortet; ihre Augen waren ausdruckslos, blickten über den neben ihr Knienden hinweg.

»Bist du verletzt?«

Sie schüttelte den Kopf; immer noch ruhte ihre Hand an der mißhandelten Kehle. Dann flüsterte sie:

»Gib mir einen Schluck Wasser!«

Er erinnerte sich des Badezimmers im nächsten Stockwerk und eilte, ihren Wunsch zu erfüllen. Als er das Bürozimmer wieder betrat, war das Bett Larkins' leer. Das Mädchen war verschwunden. Die Doppelgängerin – oder war es Mary selbst – war entflohen.

Ein Klopfen an der Haustür rief Dick in die Wirklichkeit zurück. Er eilte hinunter, um zu öffnen. Die Straße war voll von uniformierten Polizisten des Oberfallkommandos.

»Haben Sie jemand bemerkt?« fragte er einen der Beamten.

»Nein, Sir, wir sind eben erst gekommen.«

Die Durchsuchung des Hauses blieb ergebnislos. Ein Taxichauffeur, der auf der andern Straßenseite gehalten hatte, sagte aus, daß er auf der Straße einen Mann habe laufen sehen. Kurz darauf seien die Polizisten gekommen. Während Dick sich mit dem Mann noch unterhielt, kam Minns.

»Sie werden von Margate verlangt, Sir«, meldete er.

Es war Rees.

»Lord Weald ist eben ins Hotel zurück, Sir«, berichtete er. »Die junge Dame ist nach Hause. Soll ich noch hierbleiben?«

»Ja«, erwiderte Dick. »Behalten Sie das Haus die ganze Nacht unter Beobachtung und melden Sie mir morgen früh, ob sich etwas ereignet hat. Ich will wissen, wer ein- und ausgeht.« Der arme Rees, der schon den ganzen Tag auf den Füßen gewesen war, seufzte schwer. Sein Quäler hörte es durch den Draht.

»Ich weiß, daß mein Verlangen grausam ist, Rees«, tröstete er ihn, »aber wenn Sie mir diesen Gefallen tun, sollen Sie zwei Tage Urlaub haben.«

»Besten Dank, Sir. Essen darf ich aber wohl erst, wie?«

Dick verstand den Sarkasmus und kicherte.

»Ja, das können Sie!« Dann hängte er ab.

»Ich brauche einige elektrische Birnen, Minns«, wandte er sich an den Diener.

Als er Derricks Büro wieder betrat, um die Birnen einzuschrauben, bemerkte er, daß die Schranktür, die vor dem Erscheinen des Mädchens offengestanden hatte, wieder verschlossen war.

»So, jetzt ist die Stunde da, wo ich mich auch einmal als Einbrecher betätigen werde«, murmelte Dick vor sich hin. »Nun erst einmal ein Stemmeisen her. Dann wird es gehen.«

Er zog an der Schranktür und erwartete, daß sie aufgehen würde. Aber sie war zweifach verriegelt, und es dauerte eine halbe Stunde, eher er sie mit dem Stemmeisen aufgebrochen hatte. Dann gab sie endlich seinem wütenden Ansturm nach, ja öffnete sich beinahe leicht.

»Irgendwo muß ein elektrischer Kontakt vorhanden sein, der die Tür auf- und zuschnappen läßt«, murmelte der Überraschte vor sich hin. »Wie dumm von mir, das nicht schon vorher ausfindig gemacht zu haben.«

Nun begann er, die Rückwand zu bearbeiten, gab aber den Versuch bald wieder auf, als er merkte, daß er auf diese Weise nie zum Ziel kommen würde. Auch die Seitenwand war aus gehärtetem Stahl. Plötzlich durchschoß ihn ein Gedanke. Er sandte einen seiner Leute nach unten, um sämtliche elektrische Anschlüsse auszuschalten. Aber auch jetzt ereignete sich noch nicht das Erwartete.

»Schalten Sie die Lichtleitung wieder ein«, befahl er dem Beamten. »Vielleicht arbeitet dieser Verschluß, von einem Heizkontakt aus. Es gibt ja hier vier Sicherungen.«

Es dauerte lange, ehe der Mann, den er nach unten geschickt hatte, den Kontakt wiederhergestellt hatte. Dick wurde ungeduldig. Plötzlich – er unterhielt sich gerade mit einem Inspektor des Überfallkommandos – fühlte er, wie die Wand, gegen die er sich gelehnt hatte, nachgab. Sie hatte sich wie eine Tür geöffnet. Gleich darauf kam auch der Beamte wieder von unten herauf.

»Sie haben es also gefunden«, begrüßte er ihn.

Dick nahm seine Taschenlampe und leuchtete die Höhlung ab, in der eine steile Wendeltreppe aus Stein nach unten führte. Sie war so schmal, daß ein etwas beleibter Mensch sie kaum hätte benutzen können. Auch Staines mußte seitwärts gehen und seinen Kopf gesenkt halten, um nicht an der Decke anzustoßen. Er war kaum vier Stufen nach unten gestiegen, als er eine Maueröffnung sah. Er blickte hindurch und bemerkte, daß die Öffnung den Abzug für einen Kamin des Salons bildete. Von hier also war das höhnische Lachen gekommen, das ihn vor einigen Tagen so erschreckt hatte!

»Haben Sie jemals so etwas gesehen?« rief er dem oben gebliebenen Inspektor zu.

»Nein, aber diese Treppe kenne ich.«

Erstaunt starrte Dick ihn an.

»Woher?« fragte er.

»Vor dreißig Jahren bildete sie die Treppe zum Hauseingang, so eine Art steinerne Feuerleiter. Die Mönche von St. Anna hatten sie bauen lassen, und ich wunderte mich schon, was der alte Derrick beim Hausumbau wohl damit angefangen haben mochte. Er hat sie also ganz einfach in eine Hauswand einbauen lassen.«

»Und wohin führten damals diese Stufen?«

»Auf den Hof, glaube ich.«

Warum sollte der alte Derrick, der doch sicherlich niemals gegen die Gesetze verstoßen hatte, diese Treppe einbauen, den Zutritt zu ihr mit elektrischen Sicherungen haben schützen lassen?

»In allen Stockwerken gab es Türen«, berichtete der alte Inspektor weiter. »Der alte Derrick war, was Feuergefahr anbetraf, halb wahnsinnig. Er hat sich sogar auf dem Dach einen Patentaufzug anbringen lassen, damit er sich im Fall eines Brandes von oben ohne Gefahr auf die Straße hinunterlassen könne. Jedes Stockwerk hatte zu diesem Aufzug Zugang.«

Sie erreichten endlich das unterste Geschoß und fanden dort eine Tür, die ihrem vereinten Druck nachgab. Hier hatte wohl der alte Derrick ein anderes Sicherungssystem angeordnet als in den oberen Geschossen. Dick trat über die Schwelle. Die Dunkelheit hinderte ihn am Sehen. Er ließ daher wieder seine Taschenlampe aufblitzen und leuchtete umher. Stahlregale bedeckten die Wände, und jedes einzelne war mit liegenden Flaschen angefüllt. Hier also war der Weinkeller? Dick griff in die Tasche und zog den Schlüssel, den ihm Larkin gegeben hatte, heraus. Damit öffnete er die schwere Stahltür. Von dem verschwundenen Mädchen war keine Spur mehr zu entdecken.

Sorgsam prüfte er den Keller. Auf dem Boden stand eine schwere Stahlkiste, deren eine Hälfte mit Likörflaschen gefüllt war. Er versuchte, das Behältnis in die Höhe zu heben, aber es war zu schwer, deshalb rief er einen der Beamten herbei.

»Helfen Sie mir, diese Kiste auf die Seite zu rücken!«

Der Mann versuchte es. Im nächsten Augenblick lag er auf dem Rücken. Die Kiste hatte den vereinten Bemühungen der beiden Männer nachgegeben und war einfach auf Scharnieren nach der Seite gerückt. Dort, wo sie gestanden hatte, gähnte eine dunkle Öffnung, in die eine eiserne Leiter hinabführte. Ein Gegenstand, der auf einer der Sprossen hing, fesselte Dicks Aufmerksamkeit: Es war das Halstuch, das Mary Dane – oder ihre Doppelgängerin – vorhin getragen hatte. Er steckte es in seine Tasche und blickte sich um.

Vor ihm befand sich ein dunkler Korridor. Etwa zwanzig Meter weit verlief er eben, dann begann er zu steigen. In einem kleinen, ziegelumkleideten Keller endete der Gang. Zur Rechten öffnete sich hier noch eine Tür. Staines stieß sie auf und trat über die Schwelle. Um ihn her rauschten Bäume, und das eintönige Rieseln der Regentropfen von den Blättern flößte ihm eine gewisse Beruhigung ein. Vor ihm hob sich, dunkel und düster, der Schatten eines hohen Gebäudes ab. Dick warf auf das Haus, das er verlassen hatte, einen Blick zurück. Es war ein niedriges, scheunenartiges Ziegelgebäude, über dessen Tür, wie Dick erst jetzt bemerkte, der Wahrspruch eingemeißelt war:

»Auf daß wir aufsteigen können, laßt uns herabsteigen.«

»Ein Motto der alten Mönche«, erklärte der Inspektor. »Ich erinnere mich, davon gehört zu haben, daß zwischen den beiden Häusern hier irgendeine Verbindung bestanden hat. Die damalige Kapelle ist die jetzige Garage Lord Wealds. Das scheint der Weg dorthin zu sein.«

Der alte Inspektor – es war Endred, von dem Bourke seinerzeit gesprochen hatte – konnte Dick aber noch etwas Interessanteres mitteilen.

»Der alte Derrick hat das alte Haus, in dessen Garten wir uns jetzt befinden, sehr teuer bezahlen müssen, ehe er es bekam. Keiner wußte damals, warum der geriebene Alte in diese Spekulation – für eine solche hielten es alle – hineingestiegen war. Augenscheinlich wußte er, daß dieser Gang existierte.«

»Warum aber«, fragte Dick, »wollte er es zu diesen Zwecken haben? Er war doch kein Verbrecher. War dieses Haus denn, nachdem er es gekauft hatte, überhaupt jemals bewohnt?«

»Ja«, erwiderte der Inspektor, der ein zweibeiniges Lexikon über alle die Nachbarschaft betreffenden Angelegenheiten zu sein schien. »Eine Dame wohnte hier. Sie starb vor zwölf Jahren; an ihren Namen erinnere ich mich nicht mehr.«

»Jung?«

»In mittleren Jahren; jedenfalls war sie hübsch. Ja, doch. Miss Belfer hieß sie; jetzt erinnere ich mich. Derrick wird Ihnen von ihr alles erzählen können, denn ihretwegen mußte er aus dem Haus.«

Wieder in seine Wohnung zurückgekehrt, untersuchte Dick das Halstuch, das er auf der Leiter gefunden hatte. Es war dunkelblau. Vor allen Dingen mußte er sich mit Walter Derrick in Verbindung setzen. In Keyley wußte man nichts von ihm, kannte seine schottische Adresse nicht. Man gab Dick jedoch eine Reihe von Hotels an, wo Derrick auf seinen Reisen in Schottland meist zu übernachten pflegte. Ein Beamter des Yard brachte die halbe Nacht damit zu, Derrick in einem der genannten Hotels zu suchen. Erst am folgenden Morgen rief Derrick selbst von Stamford an, um sich nach Neuigkeiten zu erkundigen. Dick schilderte ihm ausführlich die Ereignisse der letzten Nacht.

»Haben Sie das Mädchen erwischt?« unterbrach Derrick die Schilderung Staines'. »Und den Maskierten? So ein brutaler Mensch! Ich möchte nur wissen, was da eigentlich gespielt wird. Ahnen Sie es?«

»Nein, nicht mehr als Sie. Kennen Sie eine gewisse Miss Belfer?«

»Nein, wer soll sie denn sein?«

Dick war für einen Augenblick sprachlos. Dann rief er verblüfft: »Wissen Sie denn nicht, daß Miss Belfer eine Freundin Ihres verstorbenen Vaters gewesen ist?«

Es dauerte lange, ehe die Antwort Derricks kam.

»Unter diesem Namen ist sie mir jedenfalls unbekannt.«

»Sie wohnte in Ihrem alten Haus«, wollte ihm Dick auf die Sprünge helfen.

»Ach ja, jetzt erinnere ich mich an sie.«

Er schien nicht gewillt zu sein, das Thema weiter auszuspinnen. Entweder wollte oder konnte er darüber nichts aussagen, denn er ging auf etwas anderes über.

»Geheimgänge, wie? Siehe da? Das ist doch etwas für Sie, Mr. Staines.«

»Ganz und gar nicht«, widersprach Dick. »Das Vorhandensein der Gänge ist jedoch gar nicht so verwunderlich, wenn man berücksichtigt, daß der Orden, der früher die Grundstücke bewohnte, im Jahre 1845 von der Baupolizei die Genehmigung erhalten hatte, die Gänge anzulegen. Die Sache war bekannt genug, scheint aber vergessen worden zu sein. Auch die Geheimtreppe ist nichts Besonderes; sie ist in den alten Plänen genau eingezeichnet. Ihr Vater änderte sie um, damit er einen Notausgang bei Feuersgefahr hätte.«

Dick hatte einige seiner Leute beauftragt, in Somerset House die Zivilregister nachzuschlagen, um etwas über jene Miss Belfer ausfindig zu machen. Die damit beauftragten Beamten erwarteten ihn im Yard mit wichtigen Mitteilungen: Sie hatten die Heiratseintragung einer Miss Martha Ann Belfer mit dem alten Derrick gefunden. Alle Romantik des Viktorianischen Zeitalters schien bei dieser heimlichen Eheschließung Zeuge gewesen zu sein. Der neuvermählte Gatte hatte offenbar darauf bestanden, der Welt nichts von seiner Verehelichung mitzuteilen, und mit der Dame eine Ehe geführt, die alles andere als intim gewesen sein mußte. Die Ehegatten hatten jeder für sich in einem besonderen Haus gewohnt und dieses getrennte Wohnverhältnis dreizehn lange Jahre aufrechterhalten. Dick, durch die Entwicklung der Dinge aufs höchste überrascht, versuchte nochmals, Derrick zu erreichen, aber jener hatte das Hotel, aus dem er vorher angerufen hatte, bereits verlassen. Zwei Stunden später hielt der gelbe Wagen vor Staines' Haustür.

»Die Bande scheint mein Haus ganz nach Belieben benutzen zu wollen«, beklagte er sich. »Ich hätte beinahe Lust, nebenan wieder meinen Wohnsitz aufzuschlagen, damit ich den Spaß auch ein wenig genießen kann. Ich muß ja doch für die Spesen der Unterhaltung aufkommen.« Er kicherte. »Was sind denn die letzten Nachrichten vom ›Kriegsschauplatz‹? Hat sich das Gespenst wieder sehen lassen? Und die schöne Unbekannte? Der Maskierte? Verdammt noch einmal, wenn die ganze Sache nicht interessanter zu werden verspricht als ein Schauerroman!«

»Jene Miss Belfer habe ich ausfindig gemacht«, warf Dick ein.

»Wer ist sie denn eigentlich? Sie haben mir ja schon vorhin von ihr erzählt?«

»Sie war die Dame, wegen der Sie sich mit Ihrem Vater überwarfen, Mr. Derrick, seine zweite Frau.«

»Er hat sie geheiratet? Hatte das Paar auch Kinder?« Die Augen des aus allen Himmeln gefallenen Erben traten beinahe aus ihren Höhlen hervor. – »Nein, keine.«

»Miss Belfer? Warten Sie einmal. So nannte sie sich? Ich kannte sie nur unter dem Namen Miss ... Constable. Merkwürdig! Er soll sie geheiratet haben? Haben Sie dafür ... Beweise?«

Dick hatte sie und zeigte dem Verwunderten die Abschriften der im Somerset House niedergelegten Urkunden. Derrick las alles aufmerksam durch.

»So, so?! Der alte Genießer! Hat sie also doch geheiratet?« Er wiederholte die Worte mehrere Male, als wolle er sich von der Wahrheit des Gelesenen selbst überzeugen. »Und keine Kinder?« Er atmete erleichtert auf. »Komisch! Gewiß, ich kannte das Verhältnis, glaubte aber immer, daß es eine reine Freundschaft zwischen den beiden sei. Ja, ich verkrachte mich deshalb mit meinem alten Herrn – deshalb und wegen Geldfragen. Wissen Sie bestimmt, daß keine Kinder vorhanden sind?«

Dick mußte über das Furchtgefühl seines Gastes lachen.

»Soweit ich unterrichtet bin, sind keine Kinder da«, beruhigte er ihn. »Jedenfalls ist nichts dergleichen im Register eingetragen. Wir haben einen alten Polizeiinspektor, der Ihren Vater sehr gut kannte und ...«

»Wie heißt er?« unterbrach ihn Derrick. Staines nannte ihm den Namen. »Ja«, bestätigte sein Besucher, »ich kann mich seines Namens erinnern. Er behauptet auch, daß keine Kinder da sind? Ja? Nun, nun, ein Geheimnis nach dem andern.« Nachdenklich starrte er auf seinen Gastgeber. »Was war denn heute nacht eigentlich los? Wer war denn die Einbrecherin? Sie ist Ihnen entkommen, nicht wahr? Na, ich dachte, es würde Ihnen doch vielleicht gelingen, dieses Durcheinander ein für allemal zu beenden.«

»Sie entwischte mir dadurch, daß sie die Geheimtreppe durch den Weinkeller benutzte«, erklärte Dick achselzuckend.

»Ich bin extra hierhergekommen, um mir dieses Labyrinth von Gängen und Treppen einmal anzusehen. Natürlich werde ich das Haus nun nicht mehr als Wohnung benutzen. Wo hält sich denn Ihr idiotischer Kollege auf?«

»Ich habe nur eine sehr beschränkte Anzahl von Freunden, die man als Idioten bezeichnen könnte, Mr. Derrick«, gab Dick zurück, durch die anzügliche Frage des andern ein wenig verletzt. »Um so mehr wundere ich mich, daß ich nicht zu erraten vermag, wen Sie meinen.«

»Tommy Weald, der, wie man mir erzählt, wie wahnsinnig hinter jener Krankenschwester her ist. So ein Esel! Heute heiraten, morgen scheiden.« Plötzlich fuhr er im selben Ton fort, ohne die geringste Veränderung in seiner Stimme: »Ja, ich nannte sie Miss Constable – ja, Constable, das war der Name, unter dem ich sie kannte.« Er sah Dick an: »Ich verreise nunmehr wirklich, und der Teufel soll das Gold holen, das vielleicht nebenan noch vergraben liegt. Ich werde eine Bekanntmachung erlassen, daß jeder drüben nach Gold graben kann, solange er mir nur zehn Prozent seiner Funde abgibt. Gold da drüben? Daß ich nicht lache! Das einzige Gold, das vielleicht vorhanden ist, klebt als Anstrich an den Bilderrahmen.«

»Sie waren doch längere Zeit in Südafrika, nicht wahr, Mr. Derrick? Kannten Sie dort drüben eine Miss de Villiers?«

Nachdenklich runzelte der Gefragte die Stirn.

»Nicht, daß ich wüßte. Es gibt dort eine Menge Leute dieses Namens. Ich war ja auch nicht lange in der Kapkolonie; meist hielt ich mich in Tanganjika auf ... Haben Sie noch mehr Daumenabdrücke gefunden?«

»Nein. Ich glaube auch nicht, daß wir noch welche finden werden. Jedenfalls kümmern wir uns nicht mehr darum. Bourke und ich stimmen überein, daß sie künstlich – mit Hilfe eines Gummistempels – hervorgebracht wurden.«

»Eines Gummistempels??!« Derrick atmete tief und heftig. »Verdammt noch einmal, wie schlau! Ob der Stempel aus meines Vaters Sammlung stammt? Eben ist dieser Gedanke bei mir aufgetaucht. Möglicherweise glauben die Einbrecher, daß doch noch einige Abdrücke, darunter jener geheimnisvolle des Mörders von Slough, irgendwo im Haus verborgen sind? Vielleicht suchen sie danach und nicht nach dem Gold?«

Dick schüttelte abwehrend den Kopf.

»Dann würden sie bestimmt nicht überall, wo sie hintappen, den Abdruck zurücklassen«, gab er zu bedenken. »Hat man auch in Keyley versucht, bei Ihnen einzubrechen?«

»Nein, nie. Sobald ich das verdammte Haus hier nebenan verlasse, belästigt mich niemand mehr.«

Die beiden Herren besichtigten nun die Geheimtreppe. Der Hausherr schien enttäuscht zu sein.

»Ich dachte, wer weiß was hier zu finden«, sagte er. »Sie werden doch den Garten bewachen und den Tunnel zumauern lassen, nicht wahr?«

»Gewiß. Aber es wird unnötig sein, denn die Besucherin wird den Weg sicherlich nicht mehr benutzen wollen. Hallo? Wo kommst denn du her, Tommy?« wandte er sich an den Freund, der plötzlich neben ihm aufgetaucht war.

»Ich hab' gar keine Zeit«, meinte, eilig wie gewöhnlich, der Lord, »'n Tag, Derrick. Haben wieder Besuch gehabt, was?«

»Wie geht es denn der Braut?« fragte der Gehänselte anzüglich.

Tommy errötete.

»Danke, gut. Miss Dane – hm – ist wohlauf. Danke für die gütige Nachfrage.« Er hüstelte verlegen und warf Dick einen Blick zu. »Woher wissen Sie denn von meiner Verlobung?« wollte er von Derrick wissen.

»Ich habe es in der Zeitung gelesen.«

Dick warf dem Lord einen wütenden Blick zu.

»Du hast es wohl einrücken lassen?« fragte er ihn.

»Natürlich«, gab Tommy trotzig zurück. »Warum sollte ich es auch nicht tun? Mary war damit einverstanden; mir lag viel daran, und meine Tanten freuen sich darüber wie die Kinder.«

»Ihr seid euch also ganz einig geworden?« erkundigte sich sein Freund mit heiserer Stimme.

»Ja, wir heiraten am vierten September. Unsere Flitterwochen werden wir in Bellagio verleben. Die Hochzeit findet im engsten Kreis statt.«

»Du wirst dann also nicht schwatzen können, wie es deine Gewohnheit ist«, bemerkte der Inspektor anzüglich.

Stand denn die Welt auf dem Kopf? Sein bester Freund heiratete ihm das Mädchen weg, das ihm, Dick, eine Liebeserklärung gemacht und sie bei hellichtem Tag bestätigt hatte? War er wahnsinnig geworden, oder waren andere von Sinnen?

»Der Teufel soll alles holen«, gab er seinen Gedanken laut Ausdruck.

»Wen und was denn?« erkundigte sich liebenswürdig das unschuldige Opfer des frommen Wunsches. »Du sollst Brautführer werden, Dick!«

»Von mir bekommen Sie ein wunderschönes Hochzeitsgeschenk«, versprach Derrick und klopfte dem Lord beglückwünschend auf den Rücken.

Endlich war Dick mit sich und seinen Gedanken allein. Mary Dane liebte ihn wirklich. Daran zweifelte er nicht einen Augenblick. Und doch ... hier war die unwiderlegbare Tatsache, daß sie sich mit einem ihr beinahe wildfremden Menschen verlobt und ihm versprochen hatte, ihn im September zu heiraten. Sollte man wirklich an Beweggründe materieller Natur glauben? Tommys Stellung, sein ungeheures Vermögen? War es dies, was das Mädchen in Versuchung geführt hatte? Er wollte und konnte es nicht glauben. Hier mußte etwas mitspielen, was ihm bis jetzt verborgen geblieben war.

Es schien, als wolle ihn das Schicksal selbst verhöhnen, denn mitten in seinem Nachdenken stürzte Tommy mit gewohnter Eile und Hast ins Zimmer.

»Komm, mein Junge«, lud er den Freund ein, »wir fahren nach Eastbourne – ja, die ganze Krankenkolonne ist jetzt dort.« Tommy hatte sich den Verhältnissen, unter denen seine Braut vorläufig noch leben mußte, angepaßt wie ein Fisch dem Wasser. »Ich lerne nun nach und nach alle englischen Seebäder kennen, und mich – mich kennen alle Pensionsinhaberinnen Englands vom Sehen.«

»Wie lange brauchen wir nach Eastbourne?«

»Wenn der Chauffeur steuert, ein paar Stunden. Mit mir am Steuer eine und eine halbe.« Als er sah, daß Dick zögerte, fügte er wie zum Anreiz hinzu: »Sie erkundigte sich gestern abend nach dir, lobte dich und sagte, sie habe dich sehr gern.«

»Danke«, quittierte der Gelobte.

»Du brauchst gar nicht so ironisch zu danken«, verwahrte sich Tommy. »Ich teile dir nur Bemerkungen mit, die wirklich gefallen sind. Dick, du mußt entschuldigen, daß ich dich bei ihr ausstach, aber ...«

»Davon ist gar nicht die Rede«, wehrte Staines ein wenig heftig ab. »Der Teufel soll dich holen, Tommy. Bitte, laß uns dieses Thema und auch deine Braut aus unseren Gesprächen ausschalten.«

»Sei doch nicht so lächerlich«, rügte der Lord, und Dick mußte diesen Tadel als gerechtfertigt anerkennen. Er wurde in seiner Eifersucht nachgerade wirklich kindisch. Er rief Bourke an, um ihm mitzuteilen, daß er beabsichtige, die kommende Nacht in Eastbourne zu bleiben.

»Daran tun Sie recht, Staines«, stimmte der Chef zu. »Was zieht Sie denn hin?«

»Weald«, gab Dick lakonisch Auskunft, worauf Bourke lachte.

Der Chauffeur steuerte, was den Inspektor einesteils wegen seiner persönlichen Sicherheit beruhigte, andernteils ihn aber wehrlos dem Wortschwall des Lords auslieferte. Endlich wurde ihm die Familiensimpelei des Freundes zu bunt.

»Komm, wir wollen uns über Windhundrennen unterhalten.«

»Davon verstehst du mehr als ich«, gab Tommy beleidigt zurück.

Sie hielten in Lewes, um den Tee einzunehmen. Als sie vor dem alten Hotel der Stadt vorfuhren, sahen sie den auffälligen gelben Wagen Derricks vor dem Portal stehen.

»Ach, Derrick ist hier«, wies Tommy auf das Auto. »Ein komischer Kauz, Dick. Weißt du, was er mich fragte, als wir aus meinem Haus zusammen weggingen? Ob ich ihm nicht meine Bilder verkaufen würde. Was sagst du zu so einem Einfall?«

»Was für Bilder?«

»Na, die im Speisezimmer auf dem Lowndes Square. Hast du denn kein Kunstverständnis mehr?«

Der Gerügte erinnerte sich, daß er dort vier große Bilder hatte hängen gesehen; es waren aber Landschaften, und für diese hatte er kein großes Interesse.

»Vier der besten ›Constables‹«, meinte Tommy.

»Wie? Constables? Das wußte ich nicht. Stehen Namen auf dem Rahmen?«

»Natürlich. Du müßtest doch wissen, daß auf dem Rahmen derartiger Bilder immer ein kleines Metallplättchen Namen des Künstlers und Bezeichnung der Landschaft anführt. Bei den meinen steht groß und breit ›Constable‹ drauf.«

»So, so!« Dick war sehr nachdenklich geworden. »Das Wort Constable, wie?«

War es wirklich nur ein Zufall gewesen, daß sich Derrick wieder auf den angeblichen Namen der Frau seines Vaters besonnen hatte? Miss Constable? Er erinnerte sich, daß der Millionär, ehe er sich des Namens erinnert hatte, im Zimmer Umschau gehalten hatte.

»Merkwürdig!«

»Was?« erkundigte sich der neugierige Lord sofort. »Die Bilder?«

Dick antwortete nicht, sondern schob den Freund auf seinem Weg zum Lokal weiter. Der Raum war voll von Gästen, von Derrick aber war keine Spur zu entdecken. Um sich zu vergewissern, ob er wirklich schon weg war, kehrte Dick um und blickte sich auf der Straße nach dem gelben Auto um. Es war verschwunden.

Der Wagenmeister gab die erbetene Auskunft:

»Der Herr ist nach Brighton weitergefahren.«

»Ich bin auf Derrick böse«, meinte Tommy.

»Warum denn nur?« wollte der erstaunte Dick wissen.

»Weil er beinahe die künftige Lady Weald überfahren hätte. Du weißt doch noch, an jenem Mittag in Brighton. Schon der Gedanke daran ist mir schrecklich.«

»Wann, sagtest du, wollt ihr heiraten?« fragte Dick, um das Gespräch aufrechtzuerhalten.

»Du bist aber vergeßlich. Am vierten, v-i-e-r-t-e-n September«, buchstabierte entrüstet der Lord.

»Weiß deine Braut, daß ich komme? Nein, ich meine nicht zur Hochzeit, du Idiot, sondern heute.«

»Nein. Ich habe sie heute noch nicht gesprochen. Der alte Cornfort ist seit vier Uhr heute morgen munter, und da muß sie bei ihm bleiben. Was wird der arme Kerl nur anfangen, wenn Mary nicht mehr bei ihm sein kann?«

»Quatsch! Sie ist doch nicht die einzige Krankenpflegerin in England«, gab Dick brutal zurück. »Na, los, auf in den Zoo!«

»Zoo! Du wirst doch meine Braut nicht als Insassin des Zoo bezeichnen wollen? Das wäre sehr geschmacklos.«

»Entschuldige.«

Mary und ihr Pflegebefohlener waren nicht im Hotel, als die beiden Freunde dort eintrafen. Sie begaben sich sofort auf die Suche und fanden sie am Strand. Die Begrüßung war kühl. Die Blicke Dicks richteten sich vor allen Dingen auf Miss Danes Kehle, um dort die verräterischen Male vom Abenteuer der vergangenen Nacht zu finden. Er suchte vergeblich. Obwohl sie eine ausgeschnittene Bluse trug und der ganze Hals zu sehen war, präsentierte sich doch dessen Haut in schneeiger Weiße. Also war sie es nicht gewesen, die von dem Maskierten angegriffen worden war? Er fand, daß das Mädchen müde und krank aussah. Er machte sich Sorgen, obwohl er genau wußte, daß er dazu kein Recht mehr hatte.

»Sind Sie auf Urlaub oder dienstlich hier?« erkundigte sie sich.

»Auf Urlaub, das heißt, auf beinahe dienstlichem Urlaub.«

»Mr. Cornfort wird bald nach Hause zurückgebracht werden«, sagte dessen Pflegerin. »Dann könnten Sie mich irgendwohin zum Tee führen.«

Dick warf Tommy einen Blick zu.

»Nein, er braucht nicht mitzukommen«, wehrte das Mädchen, die stumme Frage ab.

»Nanu?« Der Lord war unangenehm überrascht.

Es schien Dick, als mangle es dem Protest an Überzeugung. Als er später mit Tommy einen Augenblick allein blieb, gab ihm dieser den Grund für seinen schwachen Widerstand an.

»Sie ist wirklich zu lieb, aber bei Tag ist sie nicht zu genießen. Knutschen ...«

»Was ist denn das wieder für ein Ausdruck?« verwunderte sich der Inspektor.

»Na, du weißt schon, was die Liebenden machen, wenn sie allein sind: umarmen. Also, bei Tag kann sie das gar nicht vertragen.«

»Eine merkwürdige Braut!«

»Das brauchst du gar nicht so sarkastisch zu sagen«, verwahrte sich der glückliche Bräutigam. »Es gibt genug stille Plätze, wo man sich mit seiner Braut unterhalten kann. Ich versuchte heute morgen, ihre Hand zu ergreifen, und sie fragte mich, ob ich etwa bei ihr Schutz suchen wolle. Natürlich ...«

Für Dick war die Liebesaffäre Tommys kein sehr interessanter Gesprächsstoff, und er beeilte sich, Weald loszuwerden. Gegen fünf Uhr traf er sich mit Mary, nachdem diese den Kranken nach Hause gebracht hatte.

»Herzlich willkommen in Eastbourne«, begrüßte sie den Inspektor voller Spott. »Zeigen Sie nun endlich mal, daß auch ein höherer Polizeibeamter sich zu benehmen versteht, wenn er nicht im Dienst ist. Wollen Sie sich bei mir nicht nach meinen Vorstrafen erkundigen? Haben Sie meine Doppelgängerin gesehen?«

»Gehört das Ihnen?« Er reichte ihr den Schal, den die nächtliche Einbrecherin in Derricks Haus verloren hatte. Sie nahm die Seide achtlos in die Hand.

»Ja, ich habe einen ähnlichen«, gab sie zu. »Ich kaufte mir einen, als ich zuletzt in London war.«

»Gehört er Ihnen?« bestand er energisch auf seiner Frage.

Ohne ein Zeichen der Verwirrung öffnete sie in aller Gemütsruhe ihr Handtäschchen und entnahm ihm eine genaue Wiedergabe des Schals.

»War meine Doppelgängerin wieder am Werk?« Sie lachte herzlich. »Nicht nur ich, sondern auch mein Schal haben einen Doppelgänger!«

Dick schob das Tuch in seine Tasche zurück, doch Mary fiel ihm in den Arm.

»Bitte geben Sie mir das Tuch, Mr. Staines. Oder bedeutet es für Sie ein wichtiges ›Corpus delicti‹?«

»Fügen Sie es ruhig Ihrer Sammlung bei«, erwiderte er und gab ihr das Verlangte.

»Sie armes Kerlchen!« Zart streichelte sie seine Hand: »Tommy hat mir schon erzählt, was Sie in London mit der Sache in Derricks Haus durchzumachen haben. Er sagte mir, daß man beinahe das ganze Haus niedergerissen habe. Stimmt das?«

»Tommy redet überhaupt zuviel«, war Dicks mißmutige Antwort.

»Im Gegenteil, er sollte mir viel mehr erzählen!«

»Erinnern Sie sich Lordy Browns?« wechselte er plötzlich das Thema.

Sie nickte ernst.

»Sie meinen den Mann, der in Derricks Haus erschossen wurde? War er nicht derjenige, der mich an jenem Abend auf dem Bloomsbury Square ansprach, weil er mich mit irgendeiner andern Dame verwechselte? Der arme Mensch!«

»Er tut Ihnen leid?« Es war eine nichtige Frage.

»Natürlich; Ihnen nicht? Seine arme Frau.«

Erstaunt starrte er sie an.

»Was wissen Sie denn von seiner Frau?« rief er aus.

»Ich wüßte im Augenblick wirklich keine Ausrede, Mr. Staines«, gab sie lächelnd zurück. »Also muß ich Sie bitten, mich von der Beantwortung Ihrer Frage zu entbinden. Ich weiß, daß er verheiratet war und daß seine Frau nicht den Himmel auf Erden gehabt hatte. Ich glaube, Brown hatte zwei oder drei Kinder.«

»Sie kannten ihn also doch?«

»Ja; das heißt, ich habe mich mit ihm ein wenig unterhalten.«

»Und wann war das?«

»Nun gleiten Sie wieder ins Berufliche zurück, Mr. Staines«, meinte sie lachend. »Wahrscheinlich fällt es Ihnen doch sehr schwer, mit anderen zu verkehren, ohne daß sich Ihr kriminalistischer Instinkt regt. Um auf Ihre Frage zurückzukommen: Ich sprach mit ihm, nachdem ich ihn an jenem Abend auf dem Bloomsbury Square getroffen hatte. Sind Sie nun zufrieden?«

»Warum sagten Sie mir das nicht schon früher?« wollte er wissen.

»Weil Sie mich nicht danach fragten«, lautete die kurze Entgegnung. »Woher sollte ich denn ahnen, daß Sie sich für Lordy Brown so sehr interessierten? Nein, ich will nicht noch mehr schwindeln: Ich wußte, daß Sie ihn für einen wichtigen Zeugen hielten. Warum ich es Ihnen nicht sagte? Nun, Ihre Fragen hätten mich in Verlegenheit gebracht.«

»Was sind Sie doch für ein merkwürdiges Menschenkind«, urteilte er.

»Ja, das ist auch meine Meinung.« Sie seufzte. »Außerdem halte ich mich für eine große – Pleite.«

»Für eine Pleite? Was soll denn nun das wieder heißen?«

»Alles schlägt mir fehl. Ich war eben zu selbstbewußt.«

»Wenn Sie das wissen, dann wundere ich mich, daß Sie sich Tommy als Bräutigam ausgesucht haben«, erwiderte er bitter. »Er ist jedenfalls der ungeeignetste Mann, um Sie davon zu heilen.«

Sie blickte ihn vorwurfsvoll an.

»Für das, was Sie eben sagten, verdienen Sie eine Strafe«, rügte sie. »Der arme Tommy!«

»Ich weiß mir wirklich keine Erklärung dafür, Mary, warum du ausgerechnet Weald heiraten willst.« Unbewußt war er wieder zum intimeren »Du« übergegangen.

»Nennen Sie ihn ruhig Tommy«, erwiderte sie. »Der Name paßt besser zu ihm. Früher bildete ich mir immer ein, daß Lords ein rotes Gesicht und Fäuste wie Hammelkeulen haben. Warum ich ihn heirate? Wer hat Ihnen denn überhaupt gesagt, daß ich ihn heiraten will?«

»Mein Gott!« klagte er. »Bin ich denn ganz verrückt geworden? Es war doch in allen Zeitungen veröffentlicht. Warum weichen Sie mir aus?«

»Sollen wir uns schon wieder zanken? Bleiben Sie ruhig bei Ihrer Meinung, daß ich eine ganz herzlose Kokotte sei, die weiter nichts im Sinn hat, als Ihnen wertvolle Geheimnisse zu entlocken! Haben Sie schon etwas Sensationelles herausbekommen? Tommy erzählte mir nämlich, Sie hätten irgend etwas in einer alten Kiste gefunden.«

»Ich war ein Esel, Tommy überhaupt etwas zu erzählen«, rief er zornig aus. »Nein, es war nichts Wichtiges: Weiter nichts als eine Art Vakuumpumpe. Wir nannten das Instrument als Kinder ›Sauger‹. Man kann damit Gegenstände aufheben, die eine glatte Oberfläche haben.«

Sie starrte ihn an, als habe er ihr einen Schlag versetzt.

»Sind Sie krank, Miss Dane?« erkundigte er sich erschrocken.

Sie hatte für einen Augenblick ihre Selbstbeherrschung verloren, riß sich nun aber mit Gewalt zusammen.

»Krank? Nein! Mir ist nur eingefallen, daß ich vergaß, Mr. Cornfort seine Medizin zu geben.«

»Nein, es war etwas anderes«, bestand er auf seiner Frage. »Was war es? Mr. Cornfort nimmt gar keine Medizinen ein; Sie selbst haben mir das mitgeteilt.«

»Wie sah die Pumpe aus? Sagen Sie mir das, bitte! Ja, die Sache interessiert mich. Warum sollte ich das nicht zugeben?«

Er beschrieb ihr das Instrument in kurzen Worten, nicht ohne dabei allerlei unschmeichelhafte Randbemerkungen über den schwatzhaften Tommy einzuflechten. Sie hörte ihm schweigend zu und schien angestrengt über etwas nachzudenken.

»Was wissen Sie noch von jenem Instrument?« fragte sie plötzlich.

Trotz seines stillen Ärgers mußte er lachen.

»Ich kann es Ihnen so genau beschreiben, daß Sie selbst eine derartige Pumpe anfertigen könnten«, gab er zu. »Nein, sie ähnelt anderen gleicher Art nicht, denn in ihrer Mitte ist eine Stahlnadelähnliche Vorrichtung angebracht, die wir erst entdeckten, als wir sie uns vor einigen Tagen noch einmal genauer betrachteten. Im Handgriff ist eine kleine Schraube angebracht. Die Nadel reicht noch über den Sauger hinaus. Mein Chef ist der Meinung, daß das Instrument dazu diene, einen kreisrunden Gegenstand anzusaugen und daß die Nadel nur vorhanden sei, um den Mittelpunkt dieses Gegenstandes genau zu bestimmen. Weiter weiß ich Ihnen nichts zu sagen, und ich bin sogar der Meinung, ich hätte Ihnen schon zuviel verraten.«

Sie blickte ihn fragend an.

»Könnten Sie bis morgen abend hier bleiben?«

Nein, er müsse spätestens morgen früh weg; sogar noch vorher, falls in Derricks Haus wieder der Teufel los wäre. Er habe, so teilte er ihr mit, zwei Wächter zurückgelassen, ohne dem Besitzer des Hauses auch nur etwas davon zu erzählen.

»Ich glaube nicht«, erwiderte sie, »daß bei Derrick wieder etwas los sein wird.«

»Würden Sie für das, was Sie eben behaupteten, die Garantie übernehmen?« fragte er gespannt.

»Wie kann ich für meine Doppelgängerin die Verantwortung übernehmen? Tommy erzählte mir, Sie hätten in Derricks Haus den Daumenabdruck des Mörders von Slough gefunden. Stimmt das?«

»Was wissen Sie von jener Mordtat?«

»Wenig«, gab sie zu. »Ich weiß nur, daß der Mörder ein naturalisierter Russe namens Hermann Lavinsky war ... Dort ist Tommy! Er sieht aus wie ein Frühlingsmorgen. Ich hatte ihn nämlich gebeten, mich abzuholen.«

»Nicht so schnell, Miss Dane! Wie hieß der Mörder?!«

»Hermann Lavinsky!«

»Woher wissen Sie denn das?«

Sie blickte ihn lächelnd an: »Von meiner Doppelgängerin!«

In wenigen Minuten war Dick mit dem Kriminalregister Scotland Yards verbunden und hatte angeordnet, daß die Kartei auf den Namen Hermann Lavinsky hin durchsucht würde.

»Nein«, gab der Chef der Abteilung zurück. »Wir haben ihn in der Kartei nicht; nur die Liste für außerbritische Verbrecher führt ihn auf. Wir wurden seinerzeit von Rußland gewarnt, daß er hier auftauchen werde.«

»Lesen Sie mir seine Beschreibung vor«, befahl Staines. »Habt ihr Abdrücke von ihm?«

»Nein, Sir. Wir wissen natürlich nicht, ob solche vielleicht woanders vorhanden sind. Ich werde nach Paris kabeln und mich dort erkundigen.«

Aus der Beschreibung des Registerchefs hatte Dick eine Tatsache unzweifelhaft festgestellt: Mary Dane hatte ihn nicht hinters Licht geführt: Das Äußere des Mörders von Slough, seit zehn Jahren aktenmäßig niedergelegt, stimmte mit der Beschreibung, die man von Lavinsky hatte, überein.

Mit einem an Eifersucht grenzenden Gefühl sah er das Mädchen in Tommys Gesellschaft den schlummernden Mr. Cornfort betreuen. Der Fahrer saß auf einer Bank und rauchte eine vor Schmutz starrende Stummelpfeife.

»Wie heißt denn Ihr Lastesel?« wandte sich Dick an Miss Dane.

»Meinen Sie meinen Krankenstuhlfahrer? Pfui, wie respektlos. Er heißt Henry.«

»Hat er denn überhaupt eine Zunge?«

»Ja, denn er hat bisher immer pünktlich sein Essen verlangt.« Sie wurde plötzlich ernst. »Mr. Staines, wollen Sie sich, bitte, Tommy endlich einmal vornehmen? Er wird – ausfällig.«

Tommy war unstreitig schlechter Laune. Er saß wie ein ungezogener Junge mit gekreuzten Beinen und warf kleine Kiesel in die Brandung.

»Ich glaube nicht, Mary, daß wir uns über die Sache noch zu unterhalten brauchen«, sagte er, beleidigt vor sich hinstarrend. »Wir haben sie doch schon genügend breitgetreten und auch das große Publikum ist von allem unterrichtet. Du hattest mich doch selbst um die Veröffentlichung gebeten.« Er erhob sich. »Ich fahre nach London zurück!«

Mary zog den Smaragdring vom Finger und warf ihn dem unglücklichen Bräutigam zu.

»Nehmen Sie das Ding hier mit nach London!« erklärte sie stirnrunzelnd.

Er schreckte vor der Andeutung zurück.

»Sei doch nicht so empfindlich«, lenkte er ein. »Hier steck ihn wieder an!« bat er. Plötzlich beugte er sich über ihre Hand: »Habe ich es dir nicht gleich gesagt, daß dir der Ring nicht paßt. Er ist viel zu groß; morgen werde ich ihn enger machen lassen.«

Tommy war wieder selbstbewußter geworden.

»Ich sause jetzt in mein Hotel. Kommst du mit zum Essen?« fragte er seine Braut.

»Nein. Ich esse mit Mr. Staines.«

»Hm.« Er räusperte sich. »Na, meinetwegen!« gab er gleich darauf nach.

Allein geblieben, unterhielten sich Mary Dane und der Inspektor über Derrick.

»Können Sie den Mann gut leiden?« erkundigte sich das Mädchen.

»Eigentlich ja. Sie nicht?«

»Ich habe ein gewisses Vorurteil zu überwinden, denn ich habe immer noch nicht vergessen, daß er mich beinahe überfahren hätte.«

»Mir machten Sie jedenfalls den Eindruck, als hätte die Gefahr Sie durchaus nicht beunruhigt«, meinte er.

»Weiter nichts als Bluff von meiner Seite«, unterrichtete sie ihn. »Doch, ich hatte Angst, viel mehr als an jenem Abend, da Lordy Brown mich für seine Erbfeindin de Villiers hielt. Haben Sie sich über Lavinsky erkundigt?«

Er nickte.

»Nun? Gibt es ein Individuum dieses Namens?«

Wieder bejahte er.

»Sie wundern sich wohl?« fragte sie.

»Ja, denn Sie hatten mir doch von seiner Existenz berichtet«, erwiderte er anzüglich.

Lachend quittierte sie das zweifelhafte Kompliment.

»Sagen Sie einmal, Mr. Staines, wie gefällt Ihnen denn der Gedanke, daß ich Tommy heiraten will?«

»Entsetzlich!! Tommy ist zwar ein netter Mensch, aber..

»Warum entsetzlich?« drang sie in ihn.

»Weil ... ich Sie selbst von Herzen liebe!« entrang es sich seinen Lippen. Er konnte seine Blicke nicht von ihren leuchtenden Augen reißen.

»Wurden Sie sich Ihres Gefühles erst bewußt, als ... wir uns in Victoria trennten?« Leise fragte sie es und setzte dann, wie in Gedanken, hinzu: »Hat mein damaliges Geständnis bei Ihnen erst die Liebe erweckt?«

Er schüttelte energisch den Kopf:

»Ich glaube, meine Liebe erwachte schon, als ich Sie in Brighton zum erstenmal sah. Bewußt wurde ich mir ihrer aber erst in jener Nacht im Haus auf dem Lowndes Square. Eigentlich«, meinte er dann, »weiß ich wirklich nicht, warum ich Sie überhaupt liebgewonnen habe.«

Sie lächelte leise.

»Wer weiß denn überhaupt, warum er liebt?« meinte sie philosophisch.

»Nein, ich weiß es bestimmt nicht. Eigentlich müßte ich doch voller Mißtrauen gegen Sie sein. Keine in der ganzen Welt gleicht Ihnen; ich kenne Ihre Augen, Hände, jede Bewegung an Ihnen; und ich weiß bestimmt, daß Sie es waren, die ich den Händen des Maskierten entriß. Schon die ganze Zeit, seit ich hier mit Ihnen weile, versuche ich, an Ihrem Hals die Spuren des brutalen Griffes zu entdecken.«

»Nun, und haben Sie sie gefunden?« Plötzlich tat sie etwas, was ihn überraschte. Sie feuchtete ihren Zeigefinger an und rieb damit über ihre Kehle, bis ein eiförmiges, blau und grün gefärbtes Mal zum Vorschein kam.

»Hatten Sie so etwas an meiner Kehle gesucht?« erkundigte sie sich, auf das Mal zeigend. Sekundenlang war er sprachlos.

»Sie waren es also doch?« Leise drang seine Frage an ihr Ohr.

»Ja, ich war es.«

»Aber ... mein Gott! Bin ich denn ganz und gar verrückt? Tommy war doch gestern den ganzen Abend bei Ihnen?«

»Du bist wirklich ein Held, Dick Staines«, sagte sie plötzlich«. »Jetzt, nachdem ich dir bewiesen habe, daß ich es war, die gestern abend erdrosselt werden sollte, willst du für mich noch ein Alibi fabrizieren!«

Er ergriff ihre Hand.

»Ich möchte dich gern heiraten, Mary«, flüsterte er.

»Wer weiß!« Sie erhob sich: »Kommen Sie, Mr. Staines; ich muß mich zum Abendessen umziehen.«

Nach einer halben Stunde suchte er sie auf und fand sie im Foyer bei der Lektüre der Abendzeitung.

»Seit wann lesen Sie denn die Börsenberichte?« fragte er, erstaunt das Blatt betrachtend, das sie in der Hand hielt.

»Ich interessierte mich schon in Afrika dafür; ich habe einige Aktien von dort unten, und sie springen immer rauf und runter. Gegenwärtig das letztere.«

»Ich wußte gar nicht, daß Sie Vermögen haben.«

»Nun, zehn- bis zwanzigtausend Pfund habe ich immerhin.«

Er trat einen Schritt zurück. Sie hatte es bemerkt und lachte.

»Entschuldigen Sie vielmals«, bat sie, »wenn ich Ihr Zartgefühl verletzt haben sollte.«

»Warum dann, zum Teufel noch einmal, spielen Sie hier Krankenpflegerin?« wollte er wissen.

»Weil ich den Beruf liebe«, erwiderte sie feierlich. »Ich arbeitete schon als junges Mädchen in einem Krankenhaus, aber Vater holte mich bald wieder ab.«

»Vater? Haben Sie denn einen?« Er entschuldigte sich gleich darauf, als er sich der Anzüglichkeit seiner Frage bewußt wurde.

»Natürlich habe ich einen, und zwar einen sehr klugen.« Dann wandte sie sich einem andern Thema zu: »Ich möchte für mein Leben gern wissen, was Sie eigentlich von der ganzen Sache halten. Tommy sagt, Sie seien sehr klug, und ein höheres Lob gibt es bei ihm ja gar nicht.«

Es paßte ihm nicht, daß sie das Gespräch immer wieder auf den unglückseligen Lord brachte. Ohne ihre Frage zu beantworten, versuchte er, die Konversation auf ihre bevorstehende Hochzeit hinzulenken. Als er sich immer und immer wieder erkundigte, was sie sich von ihm als Hochzeitsgeschenk wünsche, schnitt sie ihm endlich das Wort ab.

»Hören Sie schon mit meiner Hochzeit auf«, bat sie ihn. »Ich habe Ihnen doch schon einmal gesagt, daß ich Tommy nicht heiraten werde. Ich kann es doch gar nicht.«

»Aber ...?« Die Treue dem abwesenden Freund gegenüber ließ ihn die Frage weiter ausspinnen. »Ist es meinem Freund gegenüber fair gehandelt ...«

»Lassen Sie ihn ruhen«, unterbrach sie ihn. »›Laissez‹, wie man im Französischen zu sagen pflegt. Die Natur und die Vorsehung werden die Sache schon machen. Die Zeiten der Wunder sind noch nicht vorüber.«

»Aber Tommy müßte doch erfahren, was los ist!«

»Beruhigen Sie sich; niemand hat eine solche Absicht. Sie sind sehr unhöflich, mir so etwas zuzutrauen. Ich werde schon alles zur rechten Zeit aufklären. Tommy wird sogar noch glücklicher werden, wenn er alles erfährt.«

Nach dem Abendessen verließ sie ihn und gab gleichzeitig ein Rendezvous an. Der alte Cornfort, berichtete sie ihm, liebe nicht den abendlichen Lärm am Strand, die Musik und die vielen Menschen.

Dick vertrieb sich die Zeit bis zum Wiedersehen, indem er sich in der Nähe des Musikpavillons auf eine Bank setzte und die Passanten an sich vorüberziehen ließ. Dort traf ihn Tommy.

»Ist sie nicht ein komisches Mädchen, Dicky«, sagte er enthusiastisch. »Geht ganz einfach mit meinem Freund los und versetzt mich, ihren Bräutigam. So etwas hat die Welt noch nicht gesehen. Mir imponiert es, wenn ein Mädchen Charakter und Energie hat, aber manchmal zeigt Mary für meinen Geschmack ein bißchen zuviel davon. Nun, einer muß ja nachgeben, und diesmal bin ich eben derjenige.«

»Warum hast du ihr denn von der Vakuumpumpe erzählt?« fragte ihn Dick.

»Ich? Ach so! Warum sollte ich es denn nicht tun?«

»Von wem hast du es denn erfahren?«

»Minns hat es mir erzählt. Er wird es wohl von Larkin haben. Und woher weiß der es? Von dir!« Er hob den Finger beschuldigend gegen Dick, der ob dieser Frechheit, ihm mit eigener Münze heimzuzahlen, lachen mußte. »Ja, Mary ist ein Genie! Sie strickte mir einen Schlips mit meinen Verbindungsfarben.«

Tommy war in Eton gewesen; diese Tatsache und die Schulfarben waren ein Thema, das ihn immer von neuem begeistern konnte.

Dick wurde es langweilig, und er beeilte sich, zu dem Treffpunkt zu kommen, wo Mary schon mit ihrem Pflegebefohlenen und dem Rollstuhlführer wartete. Es wurde für den verliebten Staines ein schöner Abend, allerdings mußte er sich begnügen, an Mary Danes Seite dahinzuschreiten.

»Kommen Sie, Henry, wir wollen nach Hause«, wandte sich das Mädchen an den alten Rollstuhlführer.

Dieser machte sich an die Ausführung des Befehls, blieb aber nach dem Wenden auf der falschen Straßenseite. Den Heimkehrenden entgegen raste ein kleines, schwarzes Auto, das merkwürdigerweise ohne jede Beleuchtung fuhr. Der Fahrer des Wagens war bis zur Unkenntlichkeit hinter seiner Schutzbrille und einer Ledermütze verborgen. Als er sich Dick näherte, verlangsamte er plötzlich die Fahrt, und Staines sah, wie sich eine Hand herausstreckte. Im selben Augenblick sauste etwas durch die Luft, und Dick erkannte sofort die nahende Gefahr. Noch ehe er die andern warnen konnte, hatte der unbestimmte Gegenstand das Wasser erreicht. Es folgte eine furchtbare Explosion. Etwas pfiff an Dick vorüber, und gleich darauf erklang ein Lärm wie von splitterndem Glas. Plötzlich richtete sich der alte Rollstuhlführer auf; Dick sah, wie sich dessen Hand erhob, und gleich darauf setzte ein Schnellfeuer ein. Beim Aufblitzen der Schüsse sah Dick, wie der flüchtende Wagen ziellos hin- und hergeschleudert wurde.

»Ich glaube, ich hab' ihn«, meinte Henry seelenruhig.

Ein berittener Polizist stürmte heran, Menschen blieben stehen, ein Schutzmann eilte herbei.

»Was ist hier los? Woher die Explosion?« fragte der Hüter der Ordnung in erregtem Ton.

»Jemand hat auf uns eine Bombe geworfen«, berichtete Staines.

»Ich habe doch auch jemand schießen gehört«, meinte der Berittene. »Wo ist denn der Attentäter hin?«

Dick zeigte in die Richtung, wo der Wagen verschwunden war. Der Berittene galoppierte davon.

Dem Schutzmann enthüllte Dick seine Identität.

»So etwas ist noch nicht dagewesen«, rief jener verwundert. »Wissen Sie bestimmt, Sir, daß es nicht etwa nur Raketen waren?«

»Bestimmt. Ich hörte, daß hier in irgendeinem der Häuser ein Fenster kaputtgegangen ist. Fragen Sie nach, ob jemand verwundet wurde. Nein, mein Junge, das war eine Eierhandgranate, nichts anderes.«

Mary hatte bisher noch kein Wort gesprochen, aber Dick bemerkte, daß ihr Gesicht totenblaß war.

»Ich danke Ihnen, Mr. Staines, daß Sie nichts von Henrys Schießwütigkeit erwähnt haben.«

Dick war über den alten Mann aufs höchste erstaunt; hier hatte es sich nicht um einen hysterischen Ausbruch der Angst gehandelt, sondern ein Mann hatte geschossen, der mit dem Revolver umzugehen wußte und ihn zu gebrauchen verstand. Der Alte war ihm ein Rätsel.

»Ja«, gab Mary zu, »Henry ist so. Ich glaube, er war früher mal Soldat.«

»Seit wann schießen denn Soldaten auf Autofahrer?« erkundigte sich Dick.

»Nur, wenn sie sie nicht leiden können«, gab sie zurück.

Henry lief nebenher, als beträfe ihn das alles nicht im geringsten. Am meisten erregt war Tommy. Seine »Mein-Gott!«-Rufe wollten gar kein Ende nehmen.

»Hatten Sie Angst, Mary?« erkundigte sich der Inspektor.

»Nachdem alles vorüber war – ja. Im Augenblick des Attentats – nein! Ich glaube, der Attentäter wird erfahren haben, daß ich Ihnen seinen Namen nannte.«

Dick blieb überrascht stehen.

»Wessen Namen?« fragte er.

»Hermann Lavinskys.«

»Wollen Sie damit sagen ...«

»Bitte, bleiben Sie nicht stehen, sonst kommt Tommy zurück«, bat sie ihn. »Ich weiß, daß es Lavinsky war. Sein erstes Verbrechen ähnelte dem heutigen: Er warf damals eine Bombe in das Schaufenster eines Juweliers. Als alles ausriß, plünderte er den Laden aus.«

»Sie sind ja recht gut über ihn unterrichtet«, meinte er.

»Seit ich Sie kenne, habe ich mich natürlich viel für Verbrechen und Verbrecher interessiert«, gab sie trocken zurück.

»Wenn Sie mich auslachen ...«, drohte er.

»Nicht hier, bitte«, erwiderte sie flehend. »Tommy wird Ihnen bestätigen können, daß ich eine fanatische Kriminalstudentin bin. Der arme Henry!«

»Warum denn ›arm‹?«

»Weil er heute nacht wieder nicht schlafen können wird, sondern sich auf die Türschwelle niederlassen wird, um der Dinge zu harren, die er erwartet. Henry ist nämlich ein ganz großer Optimist.«

»Ihr seid alle zusammen eine merkwürdige Gesellschaft, brummte Staines kopfschüttelnd.

»Gehen Sie jetzt, Dick. Ich muß heim.« Und als er ihr zum Abschied die Hand reichen wollte, zog sie ihn zu sich heran und küßte ihn auf die Lippen.

»Das ist die Belohnung, Dick, weil du Henry nicht verraten hast.«


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