Autorenseite

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

35

Gian Vital liebte den Sohn der Nerina und wurde von diesem abgöttisch wiedergeliebt. Es war aber auch ein prachtvoller Knabe, von feiner, fremdartiger Schönheit und seltenem Liebreiz. Die Malojaleute priesen des Kindes Anmut vor des Vaters toten Augen und flüsterten darüber hinter seinem Rücken. Von jedem, der zu ihm kam, ließ der Blinde des Knaben Schönheit sich schildern, begierig auf eines jeden Bemerkung lauschend, förmlich darauf lauernd, förmlich Jagd darauf machend.

Stundenlang konnte Gian Vital den kleinen Sivo auf dem Schoß haben und dem Kinde mit seinen toten Augen ins Gesicht starren, als müßte und müßte er die Züge sehen und erkennen: wem sie wohl ähnlich wären?

Als der Knabe fünf Jahre alt war, hörte Gian Vital eines Tages im Hause ein helles, feines Stimmchen singen »Vorrei morir ...«

Als sähe er ein Gespenst, als hörte er dieses sprechen – singen, so lauschte der Blinde auf den Kindergesang ... Er tastete sich zu dem kleinen Sänger, der bei seinem Anblick voll Schrecken verstummte, riß ihn zu sich auf, hielt des Knaben Gesicht an das seine, fragte mit heiserer Stimme: »Wer lehrte dich das Lied?«

»Mutter.«

Gian Vital ließ das Kind fallen, tastete sich aus dem Hause, blieb bis tief in die Nacht hinein fort, niemand wußte, wo.

Von diesem Tage an war der Mann wie verwandelt. Er berührte den Sohn der Nerina nicht mehr, sprach zu dem holden Knaben nicht mehr ein Wort, und man durfte des Kindes in seiner Gegenwart nicht mehr erwähnen.

Um die helle, unschuldige Kinderstimme nicht mehr hören zu müssen, blieb er während halber Tage vom Hause fort. Kaum, daß er zu den Mahlzeiten kam.

Wie jenes alte, blinde Mütterlein, dem er eines Abends auf dem Rückwege vom Mesnerhause begegnet war, konnte er sich jetzt ohne Führer die Wege und Pfade von Maloja hintasten, nur von seinem langen Stecken geleitet: vom Crap da Chüern bis zum Kirchhof und dem Grabe Mairas; vom Kirchhof bis zur Paßhöhe und längs der rauschenden Orlenga zum Cavalocciosee ...

Der Knabe, der seinen »Vater« abgöttisch liebte, bekam Scheu vor ihm; die Scheu wurde zur Furcht, die Furcht zur leidenschaftlichen Abneigung, zum Haß.

Es waren schlimme Zeiten in dem Hause am Crap da Chüern. Die Malojaleute bedauerten Mutter und Kind, sie sprachen: »Gian Vital ist tiefsinnig geworden!«

Denn Gian Vital sann und sann und sann ...

Da sagte ihm einmal irgendwer: »Erinnerst du dich noch des jungen Lehrers, dem die Weiber so nachliefen? ... Was ist dir?«

»Was sollt' mir sein? Ich erinnere mich des jungen Menschen sehr wohl. Was ist's mit ihm?«

»In den Zeitungen steht von ihm geschrieben.«

»Daß er tot ist?«

»Daß er ein berühmter Sänger ist.«

»Wo? Wo?«

»In Italien drüben.«

»Italien ist groß.«

»In der Stadt Mailand.«

»Dank für die Neuigkeit ... Sehr gut erinnere ich mich des Dionisio Fidora, dem die Weiber so nachliefen.«

»Glaub' dir's, daß du den hübschen Burschen nicht vergessen hast.«

»Wieso glaubst du das?«

»Nun eben ... Brauchst nicht gleich wild zu werden, als wärst du noch der alte Gian Vital.«

»Du hast recht: der bin ich nicht mehr.«

Den nächsten Tag war Gian Vital wie gewöhnlich von Hause fort. Aber auch zur Nacht kam er nicht wieder zurück. Die Nerina gebärdete sich wie sinnlos: »Ihr Mann habe sich ein Leids angetan. Sie sei schuld daran!« Die Malojaleute schickten sich bereits an, den Verschwundenen, den Verunglückten, den Selbstmörder zu suchen. Da brachte ein Knabe aus dem Bergell der Nerina die Nachricht: »Ein blinder Mann schickt mich zu dir und läßt dir sagen: du sollst dich nicht um ihn sorgen. Er würde schon einmal wiederkommen.«

Da lachte und weinte die Nerina wie sinnlos vor Freude, daß sie auf Gian Vitals Rückkehr warten durfte, der »einmal« wiederkommen wollte.

 

An seinem Stecken tastete sich der Blinde über den Paß ins Bergell hinab. Sooft ihn auf der Landstraße ein Fuhrwerk einholte, blieb er stehen und rief den Kutscher an: »Ich bin blind und will nach Chiavenna. Kannst du mich mitnehmen?«

Einige konnten das nicht. Dann fand er eine gute Seele, die ihn bis Soglio fuhr. So bat er sich weiter bis zur Station der Eisenbahn.

»Ich bin blind und will nach Mailand. Bitte, helft mir.«

Ein freundlicher Arbeiter führte ihn an den Billettschalter, löste für ihn die Fahrkarte, half ihm in den Zug.

Er kam in Mailand an ...

Seitdem Gian Vital wußte, wer des Knaben Vater war, hatte er eine eigentümliche, eine unheimliche Gewohnheit angenommen: mit seinen beiden mächtigen Händen machte er die Bewegung, als packte er jemand und würgte ihn. Stundenlang konnte er dasitzen und den grausigen Griff tun. Bei der Fahrt im Wagen und auf der Bahn bemühte er sich, seine Hände ruhig zu halten. Nur zuckten sie ihm beständig wie in einem Krampf. Mit seinen toten Augen schaute er unentwegt auf seine geballten, zuckenden Hände. Dabei hatte seine Miene einen Ausdruck, daß man ihn für einen Wahnsinnigen hielt. Aber er erreichte glücklich die alte Hauptstadt der von Reben durchrankten lombardischen Ebene.

Auf dem Perron des Bahnhofs stand er inmitten des Gewühls. Unbeweglich stand er und sagte: »Ich bin blind und will zu einem Mann, der Dionisio Fidora heißt. Er soll ein berühmter Sänger sein. Seid so gütig, mir zu sagen, wo ich den Mann finde.«

Jemand sagte es ihm: »Dionisio Fidora singt heute abend in der Scala.«

»Was ist das?«

»Das große Opernhaus.«

»Wo liegt das?«

»Wollt Ihr hin?«

»Ich will heute abend den berühmten Sänger singen hören.«

»Kennt Ihr ihn denn?«

»Sehr gut.«

»Ihr werdet keinen Platz mehr bekommen.«

»Seid so gütig und bringt mich hin.«

Der Gütige führte Gian Vital zu einem Wagen, ließ ihn einsteigen, setzte sich zu ihm, fuhr mit ihm zur Scala, hieß ihn im Wagen warten, drängte sich zur Kasse und sagte: »Da ist ein Blinder, der von weit herkommt, um Dionisio Fidora heute singen zu hören. Geben Sie mir für den sonderbaren Kauz einen Platz. Irgendeinen!«

Es geschah, und der Gütige leitete Gian Vital auf seinen Platz in dem Riesenhause.

Jedermann in des Blinden Nähe blickte auf ihn.

Gian Vital schaute mit seinen toten Augen unverwandt auf seine wie im Krampf zuckenden, wie zu einer furchtbaren Tat geballten mächtigen Hände.

 

Im Theater war ein Getöse wie fernes Meeresrauschen. Plötzlich trat tiefe Stille ein. Musik ertönte. Gesang. Plötzlich tosender Beifall. Wieder Gesang. Eine Männerstimme voll wundersamen Wohllauts sang ein unendlich trauriges, unendlich süßes Lied.

In Gian Vitals tote Augen traten Tränen.

Wiederum Applaus, begeisterte Rufe.

Gian Vital fragte seinen Nachbar: »Ich bin blind. Wer sang so wunderbar, und wem jubeln sie zu?«

»Das wissen Sie nicht?«

»Ich bin blind.«

»Dionisio Fidora sang.«

Dionisio Fidora sang, und Gian Vitals arme tote Augen mußten bitterlich weinen ...

Er wußte nicht viel von einem gottbegnadeten Künstlertum des Gesangs. Aber er konnte nicht einen Mann mit seinen Händen erwürgen, der mit dem Wohllaut seiner Stimme Tausende zu lautem Jubel hinriß, Tausende von Herzen bewegte und seine tränenlosen Augen das Weinen lehrte.

 

Dann bat sich der Blinde von Mailand in seine Heimat zurück. Während der ganzen Dauer der Fahrt hielt er seine Hände gefaltet, als betete er. Er hielt sie aber nur deshalb so feierlich ruhig, damit sie nicht zucken sollten.

Er erreichte Maloja und das Haus am Crap da Chüern. Die Nerina stürzte ihm entgegen und sank vor ihm auf die Knie, um ihm für seine Rückkehr zu danken.

Aber der Knabe Sivo versteckte sich vor dem Heimgekehrten; und Gian Vital mußte um die verlorene Liebe des Kindes zu werben beginnen. Das tat er fortan sein Leben lang ...

Kein Mensch erfuhr jemals, wo er während seiner Abwesenheit geweilt und weshalb er fortgegangen. Es war, als hätte der ehemalige Kapuzinerjäger eine Wallfahrt getan: eine Pilgerfahrt zum heiligen Herzen der süßen Gottesmutter, die den Erlöser im Arm hält.

So hatte Gian Vital doch seinen Gipfeltag gehabt.

 

Einmal im Hochsommer mußte die Nerina den Blinden ins Murettotal und zu einer Stelle geleiten, wo Edelweiß wuchs. Auch der kleine Sivo durfte mit: es war des Knaben erster Berggang. Glücklich angelangt, mußte Gian Vitals Sohn Edelweiß pflücken: nur die allerschönsten, allerleuchtendsten! Aus den von unschuldigen Kinderhänden gepflückten edelsten Blüten der Alpen mußte die Nerina einen Kranz winden. Als der Kranz fertig war, nahm ihr Mann ihr das Gewinde ab. Sie fragte: »Willst du den Kranz der Madonna bringen, für deren Gewand du damals Buße tatest? Um meinetwillen, du armer, lieber Mann!«

Der Gefragte erwiderte: »Ich will den Edelweißkranz freilich einer Jungfrau bringen, einer reinen, heiligen.«

»Darf ich dich begleiten?«

»Diesen Gang muß ich allein gehen, liebe Frau.«

»Bete für mich! Danke für mich der guten Himmlischen, daß sie mir dein Herz wiedergeschenkt hat.«

»Das will ich.«

Allein ging Gian Vital zum Kirchhof und legte die leuchtende Blumenkrone auf das Grab der reinen Jungfrau, der kranzlos gestorbenen Braut, um die Sivo Courtien sein Leben lang trauerte und um deren Todesursache auf Erden nur ein einziger Mensch wußte, dessen tote Augen alles gesehen hatten.

An Mairas Grab stehend, faltete Gian Vital die Hände und betete: »Ich legte meine Rache in eines Höheren Hand. Du würdest mit mir zufrieden sein, die du die heilige Liebe gewesen.«

Sivo Courtiens Riesenwerk, das sein Lebenswerk sein sollte, war vollendet. Der Mann würde jedoch in seinem Leben noch andere Werke vollenden; denn er war voller Schaffensdrang und Schaffenskraft.

Eine ganze Reihe großer Werke würde den Weg seines Lebens bezeichnen: Station auf Station, bis der Mann selbst ein Vollendeter ward.

Landschaften seiner Heimat, Gestalten seiner Heimat: Malojavolk und Malojawelt würde er auf seine Leinwand bannen, in einer Gegenständlichkeit und Wirklichkeit, daß der Beschauer bei dem Anblick glaubte, von den Lüften Malojas sich umweht zu fühlen; glaubte, die Sonne Malojas scheinen zu sehen ...

Und von Maloja stieg Sivo Courtien in seine tiefere Heimat hinab, um deren Gipfeln und Gletschern, deren Menschen und Volk Gestalt und unvergängliches Leben zu geben.

Er, der große Sohn des Engadin, dichtete das Hohelied des Engadin. Und wenn für ihn die Zeit sich erfüllte, wenn von ihm der Erde gegeben ward, was der Erde war, so mischte sich sein Staub mit dem seiner Heimat!

 

Auf dem kleinen, verwilderten Totenacker, den die bröckelnde Mauer umfriedete, wurde dem unsterblichen Toten neben einer anderen Ruhestätte das Grab gegraben, das kein Kreuz und kein Denkmal bezeichnete; das Grab, darauf die Firner niederglänzten, darüber der Wacholder seine silbergrauen Zweige mit blauer Beerenfülle breitete, die Alpenrosen hinfluteten, die schmucklose Künstlergruft mit ihrem duftenden Purpur umhüllend, mit dem Königsmantel des Engadin!

Von der Majestät der Alpen bewacht, harrt Sivo Courtiens Sterbliches des Tages, wo die Grüfte bersten und die Posaunen zur Auferstehung erbrausen.

Dann stürmt auch das Totenvolk von Maloja mit Föhngewalt aus seiner Heimatserde empor gegen die geöffneten Himmel.


 << zurück