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2

Gräfin Josette hatte die Kammerfrau fortgeschickt. Mit ihrer, als rotgoldene Tiara um das Haupt gewundenen, Haarpracht blieb sie vor dem Spiegel sitzen, sah im Glase ihr weißes Gesicht, schaute zu, wie die Flamme gierig die Kerzen verzehrte, und gedachte des Mannes mit dem fremdartig klingenden Namen.

Jener Irgendjemand, der in dem Salon der römischen Weltdame einer eleganten Gesellschaft die Geschichte des Engadiners zum besten gab, konnte nicht sagen, was an seiner Erzählung Wahrheit und was daran Dichtung sei. Denn gedichtet schien manches zu sein, wie die Schneegemälde und die romanhafte Gestalt der Mesnerstochter. Die elegante Gesellschaft hörte denn auch ziemlich gelangweilt zu; Graf Oberndorff mit jenem Lächeln, das seine schlaffen Züge für seine junge Frau so gespenstisch belebte. Er fuhr fort zu lächeln, als die Gräfin in ihrer gleichgültigen Art zu ihm sagte: »Der Mann interessiert mich. Laß uns morgen sein Atelier besuchen.«

»Wenn es dir Vergnügen macht ...«

Der Irgendjemand bemerkte: »Sivo Courtien empfängt keine Atelierbesuche.«

»Immerhin könnte man den Versuch wagen. Einen Käufer wird der Herr schwerlich die Treppe hinunterwerfen.«

Aufstehend erwiderte die Gräfin, ohne die Stimme zu dämpfen: »Seit wann verstehst du dich auf Künstlerseelen?«

 

Jedes Wort fiel ihr heute wieder ein auf dem Wege nach Sivo Courtiens Heimat. Lebhaft erinnerte sie sich des Frühlingstages, an dem sie mit ihrem Gatten das Atelier des Mannes besucht hatte, der keine Besuche empfing. Es lag, nahe bei ihrem fashionablen Hotel de Russie, in einer der Künstlerkasernen der Via Margutta. Aus dem dunkeln, schmutzigen Hausflur auf den Hof hinaustretend, über den es zu den Ateliers ging, erblickten die Fremden ein echt römisches Bild: sonnenbeschienen ein grüner, mit gelben Azaleen bewachsener Pincioabhang, von der Mandelblüte weiß umhüllt; darüber der dunkle Steineichenwald der französischen Akademie, feierlich wie ein antiker Hain; auf dem Hofe Zitronenbäume, Marmorblöcke und Fragmente von Antiken. Aus einem offenstehenden Bildhaueratelier drang zu dem pochenden Geräusch des Meißels ein schwermütiger Gesang, und die Frau des Kustoden wusch in einem altrömischen Sarkophag, der als Brunnentrog diente, ihren Salat ... Der Hirtensohn von Maloja mußte sich in dem Glanz eines römischen Frühlingstages wie verzaubert vorkommen.

Der »Pittore svizzero« wohnte im höchsten Stockwerk, war zu Hause, empfing jedoch keine Besuche. Letzteres wußte auch der Kustode.

Trotzdem stiegen die Herrschaften die fünf Stockwerke hinauf. Jeder der scheibenlosen Fensterbogen gewährte einen Überblick auf Roms Gartenhügel, einen Blick, der von Stockwerk zu Stockwerk freier und köstlicher wurde.

Die Gräfin freute sich, daß der Engadiner so wundervoll römisch hauste.

Höher hinauf ging es nicht. Sie befanden sich vor einer Tür, an der kein Name stand. Graf Oberndorff läutete. Es wurde jedoch nicht geöffnet. Er läutete ein zweites, ein drittes Mal. Endlich wurde die Tür – nicht geöffnet, sondern aufgerissen wie in Zorn über die Störung.

So sah der Mann aus, der ein Genie sein sollte ... Der Graf warf seiner Frau einen triumphierenden Blick zu: ihre Neugierde – denn etwas anderes war ihr »Interesse« nicht – würde gestillt sein.

Gräfin Josette beachtete nicht das Ungeschlachte und Verwilderte der mit größter Nachlässigkeit gekleideten Gestalt; die vornehme Dame beachtete nicht, daß das Gesicht unschöne, grobe Züge hatte – auf den ersten Blick erkannte sie die trotzige Kraft und den unbeugsamen Stolz, der aus den Augen des Mannes von Maloja leuchtete. Es waren die Augen eines Gottbegnadeten.

»Sie wünschen?«

»Man sagte uns, Sie empfingen keine Besuche. Entschuldigen Sie also ...«

Der Graf sprach mit jener nachlässigen Höflichkeit, die seine Frau stets als eine Beleidigung des Angeredeten empfand: als die Beleidigung eines Hochgestellten gegen den sogenannten Niedrigstehenden, des »Grandseigneurs« gegen den Plebejer. Ein wirklicher »Grandseigneur« beleidigt nicht den geringeren Mann.

Das war ja eben das Unglück dieses Frauenlebens: daß dieser Aristokrat mit sechzehn Ahnen eine Plebejerseele hatte.

»Weshalb kommen Sie, da man Ihnen sagte, ich empfinge keine Besuche?«

»Meine Frau wünschte es. Ich bitte nochmals um Entschuldigung.«

»Ist das Ihre Frau?«

»Die Gräfin Oberndorff.«

Courtien überhörte den Namen. Was kümmerten ihn Namen? Vollends ein adeliger, gräflicher.

Er hatte bis dahin nur den Herrn angesehen und sofort eine heftige Antipathie gegen den tadellosen Kavalier empfunden, eine fast feindselige Abneigung. Jetzt erst wandte er sich zu der Dame, mit seinem sprühenden, bohrenden Künstlerblick die ganze Erscheinung umfassend ... Dann sagte er nicht wieder, daß er keine Besuche empfinge. Er sagte nichts. Aber er trat in den Vorraum zurück, ließ die Tür offen, und die beiden folgten ihm.

Ein kahler Raum, nur mit dem Notwendigsten ausgestattet, ganz anders als sonst Künstlerwerkstätten, wie auch der Mann ein ganz anderer war. Auf der Staffelei ein angefangenes Gemälde, das der Maler bei Eintritt der Fremden sofort umkehrte; an den Wänden Farbenskizzen und Zeichnungen: ungewöhnlich bedeutend, außerordentlich in jeder Beziehung – das erkannte sogar Graf Oberndorff, der sich im allgemeinen schlecht auf Künstlerseelen verstand.

Auffällig war, daß unter sämtlichen Entwürfen nichts Römisches sich befand. Weder ein »Blick auf die Sankt Peterskuppel«, noch ein altrömischer »Aquädukt mit dem Sabinergebirge«, oder »Schafherde in der Campagna«. Auch kein Modell von der spanischen Treppe. Weder ein männliches noch ein weibliches.

In Rom lebend, malte der Engadiner Gletscher, Firnen, Felsenöden, Alpenwildnisse; er malte diese Landschaften bei grellem Sonnenschein und von jagenden schwarzen Wolkenmassen überschattet, bei stillem Mondesglanz und in stürmischer Nebelnacht.

Alle Entwürfe behandelten Motive aus Courtiens Heimat, in einer Wirklichkeit geschaut, mit einer Wahrhaftigkeit dargestellt, daß die Sonne auf dem Schnee blendend funkelte, die Nebel aus den Schluchten vor den Augen des Beschauers aufzusteigen schienen.

Die aufsteigenden, vom Sturm gepeitschten Nebel – in zwanzigfachen qualvollen Versuchen immer dasselbe unmöglich zu lösende malerische Problem ...

Der Künstler stand in der Mitte des öden Raumes, sprach kein Wort, ließ den Herrn und die Dame sich umsehen. Er machte ein Gesicht, als müßte er einen leidenschaftlichen Ausbruch niederkämpfen, weil er die Tür hatte offenstehen und die Fremden eintreten lassen.

Graf Oberndorff äußerte sich übertrieben höflich, übertrieben bewundernd. Die Gräfin blieb stumm.

Wie zufällig näherte sie sich der Staffelei, darauf das vorhin von dem Maler umgekehrte Gemälde stand. Sie blieb davor stehen und blickte zu Courtien hinüber: ihm gerade in die Augen schauend, unverwandt und ruhig. Da ging er und zeigte der schönen Frau das Bild, das die Fremden nicht sehen sollten. Sie dankte mit einem Lächeln. Dann betrachtete sie das nur ihr gezeigte Gemälde.

Ein abgrundtiefer Gletscherspalt, in den der Mond herabscheint, die Kluft mit unirdischem Licht füllend. In dem grünlichen, magischen Glanze taucht aus der Tiefe ein junges Weib empor, gehüllt in die Pracht ihres Haares, umflossen von einer Flut goldigrötlichen Schimmers, der – zugleich mit dem Mondlicht – den wie aus Silber und Elfenbein modellierten blumenschlanken Leib umsprüht.

Die Gletscherfrau drückt ihre Glieder eng gegen die funkelnde Wand und erhebt ihr Gesicht, das einen Ausdruck hat wie ein auf Beute lauerndes Raubtier. In ihren weißen Augen glüht unersättliche Gier. Sie streckt beide Arme steif über sich aus, um das Opfer zu empfangen, das sie mit ihrem Nixenlachen angelockt hat. Es kann auch ein leises jammerndes Weinen gewesen sein.

»Wer ist dieses unheimliche Wesen?«

»Wer? ... Ein Weib ... Das Weib!«

Sie fragte ihn, und er antwortete ihr mit unterdrückter Stimme, als ob der Dritte sie nicht hören sollte. Plötzlich bemerkten beide, daß sie leise, fast flüsternd sprachen. Courtien erblaßte, sagte laut und mit einer Stimme, darin es wie mühsam unterdrückter Zorn klang: »Sie wollen wissen, wer das ist? Das Gletscherweib. Wir Engadiner haben unsere besonderen Geister. Unsere Natur steckt voll von ihnen. Sie sind furchtbar und dem Menschen feind – wie unsere Natur es ist. Das heißt – nur dem Schwachen sind unsere Geister verderblich. Dieses hier ist das Gletscherweib vom Monte della Disgrazia in meiner Heimat Maloja. Sie müssen nämlich wissen, daß ich von Maloja bin. Also ein Gletschermensch, ein Alpenbauer.«

Graf Oberndorff versicherte: Sivo Courtien sei ein bekannter Name, und die Welt wisse von ihm. Ohne den höflichen Herrn zu beachten, beständig die Gräfin anblickend, nur zu ihr redend, sprach Courtien weiter: »Das Gletscherweib vom Monte della Disgrazia ist von allen unseren Geistern der schlimmste; denn es ist – eben das Weib. Eine Teufelin ist es. Der Mann, der es einmal sieht, findet nicht eher Ruhe, als bis er in seinen Armen den Tod fand. Es stürmt empor aus dem Gletscherspalt, wirft ihm ihr leuchtendes Haar als Schlinge um den Hals, trinkt sein Blut, saugt ihm die Seele aus, jauchzt auf, daß der Gletscher birst und bricht, der Firn zerreißt, der Gipfel bebt. Eine Teufelin, sage ich Ihnen.«

»Wie Sie vorhin wundervoll richtig bemerkten, eben das Weib. Übrigens sahen Sie das Gletscherweib bis jetzt noch nicht – da wir das Vergnügen haben, uns in Ihrer Gegenwart zu befinden.«

Auch jetzt beachtete Courtien den vornehmen Herrn nicht im geringsten und fuhr fort, nur zu der Gräfin zu sprechen, als ob nur sie anwesend sei und gefragt habe.

»Ich sah das Gletscherweib bis jetzt noch nicht. Und wenn auch. Ich besitze einen Talisman wider böse Geister.«

»Sie meinen die Kunst?«

» Meine Kunst!«

Als der Mann, der ein Gletschermensch und Alpenbauer war, das sagte, sah er prachtvoll aus: Zoll für Zoll ein Künstler! Ihm fest in die Augen blickend, erwiderte die Gräfin: »Nein, Sie bekommt das Gletscherweib vom Monte della Disgrazia nicht.«

Lächelnd hörte Graf Oberndorff den beiden zu, die sich in weiter Ferne auf einer öden Insel zu befinden schienen. Plötzlich erkundigte er sich auf das höflichste bei dem Künstler: ob dieser »geneigt« wäre, das Porträt der Gräfin zu malen?

»Das Porträt Ihrer Frau?«

»Ich wünsche es in Lebensgröße. Über die Auffassung können wir reden.«

»Ich pflege meine eigene Auffassung zu haben.«

»Meine Hochachtung! ... Wie viele Sitzungen würden Sie benötigen?«

»Ich male keine Porträte.«

»Auch nicht das meiner Frau?«

»Auch das nicht.«

»Du wurdest von Herrn Sivo Courtien abgelehnt, meine Liebe.«

Jedes Wortes, das damals in dem hohen Atelier in der Via Margutta gesprochen wurde, erinnerte sich die schöne Frau heute. Und sie erinnerte sich ihrer Empfindung bei jenem Besuche: etwas wie leises Staunen, wie leise Freude – Freude auch darüber, daß Herr Sivo Courtien sie »abgelehnt« hatte. Er hielt es nicht einmal für nötig, sich zu entschuldigen. Denn es war keine Entschuldigung, als er erklärte: »Ich kann nur Bauern und Bäuerinnen malen: Volk von Maloja.«

Graf Oberndorff ergänzte mit seinem matten Lächeln, dem Lächeln des kosmopolitischen Lebemanns: »Und schönhaarige Teufelinnen, die uns armen Männern das Herzblut aussaugen ... Immerhin ist Maira à Mara keine Bäuerin.« »Was wissen Sie von Maira à Mara?«

»Ich sagte Ihnen ja, daß die Welt Sivo Courtien kennt. Also kennt sie auch die junge Dame, die zu Ihrer Geschichte gehört.«

Die Gräfin sah den Künstler an. Sie sah, wie es in seinen Augen aufleuchtete, wie in seiner Seele bei Nennung des wohllautenden Frauennamens – aus diesem Munde – etwas aufgewühlt wurde wie von einem Sturm.

»Maira à Mara gehört zu meiner Geschichte? Und das wissen die Leute? Darüber reden sie? ... Die Leute wissen nicht, wie wenig ich mich um sie kümmere. Aber wer den Namen meiner Freundin anders ausspricht als mit –«

Er brach ab, als hielte er es für unwürdig, weiter zu sprechen: mit diesem vornehmen Herrn, mit dem er nichts gemein hatte! Und nichts gemein haben wollte er mit der vornehmen Frau, die das Haar und die Augen seines Gletscherweibes vom Monte della Disgrazia hatte und deren Porträt er malen sollte. Weshalb hatte er sie auch in sein Atelier eingelassen? Und daß er unter dem Banne ihres Blickes hingegangen war und ihr sein Gemälde gezeigt hatte! Wenn auch nur ihr ... Jetzt hörte er sie sagen: »Wir vernahmen von dem jungen Mädchen nur Gutes. Sie muß ein merkwürdig groß angelegtes Geschöpf sein. Hat sie ihr Ziel erreicht?«

»Was verstehen Sie unter ihrem ›Ziel‹?«

»Für die Malojakinder eine Schule zu gründen.«

»Sie ist Lehrerin auf Maloja. Sie vollbringt alles, was sie will. Sie könnte Berge versetzen – da sie den Glauben dazu hat.«

›Da sie zu dir die Liebe hat‹ – dachte die Gräfin, plötzlich in sich eine heftige Abneigung gegen jenes »groß angelegte« fremde Mädchen entdeckend.

Mit außerordentlicher Höflichkeit verabschiedete sich Graf Oberndorff von dem Engadiner, ohne ihm jedoch die Hand zu geben. Das tat seine Frau. Für einen Augenblick ruhte ihre schmale, silbergrau behandschuhte Aristokratenhand in der Hand Sivo Courtiens, die wie ein Wahrzeichen des Stammes und der Art des Mannes war: uralter Bündner Stamm, grobe Bergbauernart. Trotzdem die Hand eines Künstlers, eines Schöpfers.

Als ihre Rechte die seine leise berührte, fühlte sie das Erzittern der bäurischen Hand, die Meisterwerke schuf ...

Die Gräfin Oberndorff war seit jenem römischen Frühlingstage, an dem sie das hohe Atelier in der Via Margutta besuchte, viel bewundert, viel geliebt worden. Aber daß Sivo Courtiens Hand in der ihren gezittert hatte, blieb für sie nicht nur ihr höchster, sondern auch ihr schönster Triumph.

Daran dachte die einsame Frau vor ihrem Spiegelbild bei dem flackernden Schein der Kerzen, die die Flamme verzehrte.

 

Und sie dachte daran, wie ihr Mann in den römischen Salons in ihrer Gegenwart den Künstler karikierte und lächerlich machte, der eleganten Gesellschaft voller Behagen erzählend: Herr Sivo Courtien habe die Gräfin Oberndorff abgelehnt. Es wurde allgemein sehr spaßhaft gefunden.

Gemalt wurde die Gräfin Oberndorff in Rom aber doch: lebensgroß, in einer Toilette aus silbergrauem Samt, mit der vielreihigen Perlenkette, dem berühmten Oberndorffschen Familienschmuck. John Lavary übernahm den Auftrag gegen ein kleines Vermögen als Honorar. Der Meister eleganter Frauenschönheit befand sich zufällig für den Winter in Rom, hatte sein Atelier in der Via Margutta, in dem nämlichen Hause wie der Engadiner, und war von der eigentümlichen geheimnisvollen Schönheit der Gräfin fasziniert. Er soll von ihr gesagt haben: »Sie ist eine Frau, die nie glücklich sein wird, die nicht glücklich sein kann – da sie nicht zu beglücken vermag. Aber sie kann unglücklich machen. Ich will versuchen, diese Eigentümlichkeit in meinem Porträt auszudrücken.«

Jeden Vormittag fuhr die Gräfin in großer Toilette in die Via Margutta Nummer 59. Die Kammerfrau mit dem Schmuckkasten begleitete sie. In den ersten Tagen mußte sie sich von der Jungfer jedesmal daran erinnern lassen, daß Lavarys Atelier im zweiten Stockwerk lag: sie wollte jedesmal höher steigen. Schlag zwölf holte der Graf sie ab. Er war von dem Bilde begeistert – besonders von der unvergleichlichen Eleganz. Wunderbar und wundervoll, wie die Spitzen, wie die Perlen gemalt waren! Nur John Lavary konnte Spitzen und Perlen so malen. John Lavary hatte für das Lob des Kavaliers ein stilles Lächeln, das der auf Künstlerseelen sich schlecht verstehende Graf für den Ausdruck geschmeichelter Künstlereitelkeit hielt. Dieser feine Irländer war doch ein ganz anderer Mensch als jener Malojabauer. Ein Gentleman, mit dem ein Gentleman reden konnte, war John Lavary!

Die Gräfin stand auf dem Bilde, in der Haltung der großen Dame, vor einem silberdurchwirkten Vorhang, und schaute mit einem Ausdruck, als suchte sie einem anderen Blick zu begegnen, geradeaus über den Beschauer hinweg, gleichsam in unendliche Fernen. Zu ihren Füßen lag ein weißer Blütenzweig, der ihrer niederhängenden Hand entfallen war. Sie trug ihr prachtvolles Haar als dreifache Krone, die das feine Frauenhaupt – wie alle Kronen zu tun pflegen – schmerzlich zu drücken schien. Wenigstens lag auf dem schönen Gesicht ein Zug tiefer Müdigkeit.

Graf Oberndorff bestellte bei John Lavary ein zweites Porträt: seine Frau in ihr aufgelöstes Haar gehüllt, mit ihrem reizenden Lächeln, das bisweilen dem Lächeln eines Kindes glich. Das Bild wäre des berühmten Künstlers Meisterstück geworden. Aber die Gräfin wollte sich nicht zu einer zweiten Sitzung verstehen, was ihren Gemahl, den Grandseigneur, so wütend machte, daß er ausrief: »Von dem Engadiner Gletschermenschen hättest du dich sicher auch ein drittes Mal malen lassen!«

Die gelassene Antwort lautete: »Vielleicht.«

 

Eines Frühlingsabends sah sie ihn auf der Landstraße vor Porta Furba wieder. Sie war allein. Der Graf mußte in Rom »Jours« besuchen, wozu sie keine Lust verspürte. So war sie denn in die Campagna hinausgefahren, die – wie Graf Oberndorff lächelnd bemerkte – ja wohl etwas sehr Merkwürdiges und Erhabenes sein sollte.

Auf der Landstraße nun kam ihrem Wagen Sivo Courtien entgegen. Er schien einen weiten Weg gemacht zu haben und war staubbedeckt. Seine nachlässige Kleidung, sein ungepflegtes Haar, sein Bartgestrüpp – in einem Salon wäre der Mann entschieden unmöglich gewesen. Was war es nur, das ihn für die vornehme Dame so seltsam anziehend machte? Es mußte in seinen Augen liegen, wenn sie blitzgleich aufleuchteten – in seiner Seele, wenn der Sturm der Leidenschaft sie aufwühlte.

Das neugeprägte Wort »Herrenmensch« fiel ihr ein, als sie ihn durch den Staub der Landstraße ihr entgegenkommen sah: stark und hoch, das Haupt emporgewendet, mit Blick und Seele von der Erde fort das Unendliche, das Unerreichbare suchend. Ohne die schöne Frau in der eleganten Equipage eines Blickes zu würdigen, wollte er vorübergehen. Da rief sie ihn bei Namen, dem Kutscher befehlend, zu halten.

Zaudernd näherte sich der Angerufene dem Wagen. Ebenso unhöflich war sein Gruß. Aber auch in diesem widerwillig erteilten Gruß lag für Josette ein Triumph.

»Sie kommen von Frascati?«

»Von weiter, von Tusculum her. Dort sind Gegenden, die kein Mensch kennt: kein Kulturmensch. Eine Wildnis, sage ich Ihnen. Groß wie der Gott der Sixtinischen Kapelle ist dort die Welt.«

»Trotzdem leiden Sie an Heimweh?«

»Woher wissen Sie das?«

»Wann kehren Sie wieder zurück?«

»Wohin zurück?«

»In Ihr Gletscherland?«

»Kennen Sie es?«

»Nein.«

»Sie gehören auch nicht dorthin.«

»Ganz und gar nicht. Ich wüßte nicht, was ich dort anfangen sollte.«

»Nein, Sie wüßten nicht, was Sie in einer großen Natur anfangen sollten ... Übrigens wird sie jetzt herrlich hergerichtet, kultiviert, verfeinert, gewissermaßen salonfähig gemacht. Man sagte mir: Maloja sollte ein Monte Carlo oder Baden-Baden werden. Das danken wir Ihnen. Ich meine: den feinen Leuten.«

»Weshalb lassen Ihre Landsleute uns herein?«

»Weil sie Krämerseelen sind.«

»Wollen Sie mit mir fahren?«

»Nein. Danke.«

»So steige ich aus und gehe ein Stück Weges mit Ihnen.«

Sivo Courtien antwortete nicht, ließ sie sogar den Wagenschlag selbst öffnen. Seine Unhöflichkeit kränkte sie auch jetzt nicht. Bemerkte sie doch, daß er bleich geworden war und in seinen Augen jenes gewisse Leuchten aufzuckte.

In ihrem englischen Kostüm – selbst die Feindinnen ihrer eigenartigen Schönheit mußten ihr lassen, daß sie sich »gut« anzog – schritt sie neben dem Wildling durch den Staub der Landstraße einher, instinktiv fühlend, daß in seiner Seele ein Aufruhr tobte und er am liebsten davongelaufen wäre, als drohte ihm an ihrer Seite eine Gefahr. Aber er blieb. War er doch nicht der Mann, der vor einer Gefahr geflohen wäre: er, Sivo Courtien, für den die Todesgefahren seiner Heimat bei Lawinensturz und Föhnsturm Lebenselement waren ... Trotzdem wollte er ihr Porträt nicht malen. Weshalb nicht? Sollte sie ihn danach fragen? Heute, wo sie mit ihm durch Roms Campagna wanderte und ihn aller Wahrscheinlichkeit nach das letztemal im Leben sah ... fragen mußte sie ihn; denn sie mußte es wissen. Aber sie schwieg. Es war heute für diese Frage weder der rechte Ort noch die rechte Stunde. Die würde jedoch kommen. Irgendwo würde sie ihm sicher wieder begegnen; denn – es durfte heute nicht das letztemal sein.

Was konnte ihr daran gelegen sein, jene Frage zu tun? Was sie bewegen, auf jene Stunde zu warten? Sie, deren Leben eine Reihe fortgesetzter Triumphe war und sein würde: des Sieges ihrer geheimnisvollen, fast mystischen Schönheit, des Sieges einer unglücklichen Frau; denn – ja, ja, ja, das war sie!

Erst jetzt richtete er wieder das Wort an sie: »John Lavary malt Sie? Ich meine: John Lavary malt Ihre Toilette, Ihren Schmuck, Ihr Haar, Ihre Züge, die Farbe Ihrer Augen. Besonders Ihre Toilette malt er: den Schnitt Ihres Kleides, die Falten, Stickereien, Spitzen, Juwelen.«

»Das Porträt wird sehr bewundert.«

»Weil John Lavary es malt. Es wird ja wohl auch glatt und glänzend genug sein. Wer kann Sie malen? Ich wollte sagen: wer kann überhaupt einen Menschen malen? Sein Wesen, seine Seele; eben den Menschen. Die Alten konnten es. Velasquez konnte es. Aber wir Armseligen ... Ich malte meine Mutter. Das konnte ich. Aber meine Mutter kannte ich. Sie machten von dem Bilde großes Geschrei, und Böcklin wollte, ich sollte es ausstellen. Ich tat es, tu es jedoch nie wieder. Überhaupt dieses Ausstellen ... Ich werde nie wieder ein Porträt malen; denn ich werde nie wieder einen Menschen so kennenlernen, daß ich ihn malen könnte ... Sie fragten vorhin, wann ich wieder ins Engadin zurückkehrte? Am liebsten liefe ich morgen von hier fort. Auf bloßen Füßen liefe ich zurück! ... Wissen Sie, weshalb ich in Rom bleibe? Eines Gottes wegen. Sein Haus ist die Sixtinische Kapelle, und sein Name Michelangelo. Jetzt wissen Sie's! Ich komme von dem Buonarotti nicht los. Ich liebe ihn nicht nur nicht, sondern hasse ihn. Der Mann ist eine Gewalt. Ein Element ist er! Und einem Element muß der Mensch sich beugen; er mag wollen oder nicht ... Aber weshalb sage ich Ihnen das? Gerade Ihnen!«

Er sprach wie mit mühsam gebändigtem Ingrimm, weil er ihr, gerade ihr, das sagen mußte. Mit der Gewandtheit der Weltdame erwiderte sie leichten Tones: »Sie sagen es mir, weil Sie fühlen, daß ich Verständnis für Sie habe.«

»Verständnis?«

»Oder Neugier. Vielleicht gefällt dieser Ausdruck Ihnen besser.«

»Er ist richtiger. Inwiefern mache ich Sie neugierig?«

»Neugierde liegt in uns Frauen. Kennen Sie uns sowenig?«

»Ich kenne sie überhaupt nicht.«

»Und Sie wollen uns auch nicht kennenlernen?«

»Gewiß nicht.«

»Wenn Sie es mir nicht sagten, würde ich's nicht glauben.«

»Was nicht glauben?«

»Daß ein Mann die Frauen nicht kennenlernen will.«

»Glauben Sie mir oder glauben Sie mir nicht: ich bin ein solcher Mann.«

»Es scheint so.«

Darauf schwiegen beide; und sie hörte, wie er neben ihr tief Atem holte. Plötzlich fuhr es aus ihm heraus: »Wissen Sie, daß Sie die erste Dame sind, mit der ich rede?«

»Wie ist das möglich?«

»Im Engadin haben wir keine Damen. Nicht in meinem Engadin. Sonst wimmelt es im Engadin davon – dank dem Krämergeist meiner lieben Landsleute.«

Die Gräfin wünschte dem Gespräch eine andere Wendung zu geben: »Wenn Sie keine Porträte malen wollen, also nicht das Interessanteste, was der Künstler schaffen kann: nicht den Menschen – was halten Sie sonst für einen Ihrer Kunst würdigen Gegenstand?«

»Die Natur. Die Natur, wie sie ist. Die Natur meiner Heimat: Gletscher und Fels; Sonnenschein und Mittagsgluten; Schneetreiben und Winterstürme; jagendes Gewölk und ziehende Nebel.«

»Ist das überhaupt zu malen?«

»Ich werde es malen.«

»Ja, denn Sie haben den Glauben an sich selbst.«

Sivo Courtien rief: »Ein Künstler, der nicht an sich selbst glaubt, muß an sich selbst verzweifeln; und Selbstverzweiflung bedeutet Selbstvernichtung. Wenigstens bedeutet es das für mich.«

»Also gehen Sie Ihrer Selbstvernichtung entgegen, wenn Sie darstellen wollen, was darzustellen unmöglich ist: ein Bild der Natur, wie sie ist. Sagten Sie nicht so?«

»Alles andere ist Stümperei, ist Verrat an der Natur, Entheiligung. Ich will anbeten.«

Auch als Künstler war dieser Mann anders als alle anderen, die so genannt wurden und die sie kannte. Sie mußte ihn unwillkürlich ansehen, wie er so stolz sprach; mußte zu ihm aufsehen ... In seinen Augen leuchtete etwas von dem Glanz der sonnenbeglänzten Firnen des Engadins. Wie mußte es sein, wenn dieses Mannes Blick aufflammte in leidenschaftlicher Liebe zu einer Frau –

Aber Sivo Courtien wollte nicht die Frau in seinem Leben. Nicht die Liebe wollte dieser Mann, nicht die Leidenschaft ... Wirklich nicht die Leidenschaft? Dieser Mann, der in jedem Nerv, jedem Atemzug Leidenschaft war; in dessen Seele die Leidenschaft tobte wie ein Orkan, wie der Föhnsturm, der Felsen zersplitterte und die Riesenfichten des Engadins brach! Dieser Mann unterfing sich, die Leidenschaft vom Manne zum Weibe für sich »nicht zu wollen«? Die Natur wollte er an sich reißen und umfassen wie eine Geliebte. An ihrer Brust wollte er sein glühendes Antlitz bergen, seine leidenschaftliche Seele mit der ihren verschmelzen. Was aber, wenn es ein vergebliches Ringen sein sollte? wenn die Göttin von dem Menschen sich nicht fassen ließ? Auch nicht von diesem Manne, der nicht die Frau lieben, sondern die Natur anbeten wollte: die Gottheit in der Natur, in der Wahrheit.

Sie näherten sich der großen Stadt, die in der Geschichte die ewige hieß. In einiger Entfernung vor dem Tore blieb die Gräfin stehen, sagte leise und weich: »Ich danke Ihnen.«

»Wofür?«

»Daß Sie mich für Ihre gute Freundin hielten; denn nur zu einer Freundin spricht man so! Sehr bald verlassen wir Rom und gehen nach London zur ›season‹. Sie verstehen nicht, was das bedeutet. Fragen Sie meinen Mann. Die ›season‹ in London ist das Höchste im Leben. Als Dank für Ihre freundlichen Worte sage ich Ihnen: leider verlassen wir Rom sehr bald.«

Sie hörte seine mühsamen Atemzüge, hörte ihn mit stockender Stimme antworten: »Ich werde Ihren Mann nicht fragen. Es ist mir gleich, was für Ihren Mann das Höchste bedeutet. Es war ja doch wohl Ihre freie Wahl, das ›Höchste‹ im Leben mit Ihrem Manne zu teilen? Also wünsche ich Ihnen glückliche Lebensfahrt zu den Höhen des Daseins empor.«

Was war das? Seine Stimme hatte einen Klang, der ihr alles Blut aus dem Gesicht trieb, so daß sie auf offener Landstraße mit todbleichem Gesicht vor dem Manne stand, dessen Stimme einen Ton von Verachtung hatte: weil es ihre freie Wahl gewesen war, die Gräfin Oberndorff zu werden.

Er zog seinen Hut, ging, ließ sie stehen. Mitten auf der Landstraße stehend, sah sie ihm nach, bis seine hohe Bündnergestalt in dem dunklen Eingang des Tores verschwand.

Sivo Courtien verachtete die Gräfin Josette von Oberndorff! Er verachtete sie, weil sie zu ihm, dem Fremden, im verächtlichen Ton von dem Manne gesprochen hatte, dessen Namen sie trug; er verachtete sie, weil sie verraten hatte, daß sie nicht nur ohne Liebe, sondern auch ohne Achtung die Frau des Grafen Oberndorff geworden war.

Welche Demütigung für sie! Und sie hielt sich doch für eine stolze Frau.

Durfte eine Frau stolz sein, die sich nicht nur ohne Liebe, sondern auch ohne Achtung einem Manne gab? Sivo Courtien verneinte die Frage.


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