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32

Als Dionisio Fidora von Maira ablassen mußte, erwachten in seiner Seele alle bösen Gewalten. Begierde kämpfte mit Haß, Bewunderung mit Entsetzen. Und zu diesem Chaos wilder Empfindungen als letztes der eiserne Entschluß: ›Sie muß dein werden!‹ Der satanische Jubel: ›Sie wird dein! Nicht jetzt, wahrscheinlich nicht bald, einmal jedoch sicher. Du brauchst nur zu warten, mußt nur Geduld haben.‹

Aus Liebe zu diesem Sivo Courtien zur Mörderin zu werden ... Wo auf Erden war das Weib, das dessen fähig gewesen wäre? Und nicht aus Eifersucht beging sie das Gräßliche, sondern aus einer Empfindung heraus, wie solche nur Fanatikerinnen, nur Märtyrerinnen beseelen konnte. Denn es war etwas anderes, etwas Höheres als irdische Liebe der Frau zum Mann.

Diese schreckliche, diese herrliche Verkünderin höchster und zugleich reinster Frauenliebe sich zu eigen machen, wäre wert gewesen, selbst deswegen zum Mörder zu werden ...

Wie sie aussah, nachdem sie die Tat vollbracht! Das Antlitz der sterbenden Meduse konnte nicht von entsetzlicherer Schönheit gewesen sein. Groß wie Judith stand sie vor ihm. Er sprach zu ihr, und sie hatte für ihn weder Wort noch Blick. Er raunte ihr zu, was jenseits von Gut und Böse war, und sie ließ das Unmenschliche sich zuflüstern. Die Mordwaffe wie das heilige Symbol ihrer Liebe vor sich hertragend, schritt sie von ihm fort, unbekümmert, ob er ihr folgte oder zurückblieb.

Er folgte ihr, blieb ihr zur Seite, blieb dicht neben ihr, dicht neben ihr raunend und flüsternd: »Einmal wirst du doch mein!« Ohne Wort und Blick für ihn schritt sie weiter, vorüber an der Gruft der Verschütteten, deren Tod ihm Gewalt über sie gab. Sie erbebte nicht, schaute nicht auf, schritt vorwärts, stieg aufwärts, unaufhaltsam den Weg, den sie gekommen war, um zu vollbringen, was sie vollbracht hatte. Und er beständig dicht neben ihr, beständig ihr zuraunend.

Dann mußte er aber doch von ihr ablassen wie der Versucher von einer Seele, darüber ein Cherub wacht ... Nun war er allein in dieser Welt des Schreckens, in der die Vernichtung in den Lüften, über dem Haupte des Lebenden schwebte. Grausen trieb ihn über das weite, weiße Totenfeld. Und es hetzten ihn seine Gedanken ... Fühlte er Mitleid mit dem Opfer von dieses Mädchens fanatischer Liebe? ... Die unter eitel Glanz Begrabene war gegen ihn gütig gewesen, wie zuvor niemals ein Mensch Und sie war eine vornehme Frau, eine große Dame, unnahbar für jeden, außer für den einen, den sie zuerst geliebt und zuletzt gehaßt hatte; durch den sie sich zuerst hoch erhoben fühlte und um dessentwillen sie in ein Grab gestürzt wurde.

Der junge Mensch beobachtete sich selbst. Es reizte ihn, sich zu erforschen, als sei er ein fremder Gegenstand, dessen Eigenschaften er ergründen wollte wie der Gelehrte die seines Objekts. Fühlte er Mitleid? ... Nein! Nicht ein Zucken von Mitgefühl für die so grauenvoll aus dem Leben Geschiedene, die ihm Güte erwiesen. Alle Empfindung, deren er fähig war, gehörte dem Mädchen, das ihn nicht eines Wortes, nicht eines Blickes gewürdigt, obgleich es in seiner Gewalt war und wußte: ›Er wird seine Gewalt über dich ausnützen bis zum letzten, äußersten. Und er ist ebenso ohne jedes Erbarmen mit dir, wie du es mit – jener gewesen.‹

Weiter prüfte sich Dionisio Fidora auf diesem Gespenstergang über den Gletscher ... Empfand er auch keine Dankbarkeit gegen die Tote? Sie hatte für ihn – erst kürzlich war es geschehen – in einem Schweizer Bankhause eine Summe deponiert, die für den armen Volksschullehrer ein Vermögen ausmachte. Mit dem Gelde sollte er seine Ausbildung zum Bühnensänger bestreiten. Im Herbst sollte er von Maloja fortgehen: nach Mailand, um ein Schüler von Italiens erstem Gesangslehrer zu werden. Das Geld der Toten sollte ihm die erste Stufe bauen zu der Ruhmesleiter, die er ersteigen wollte und würde.

Denn nicht allein Sivo Courtien hatte einen gewaltigen Willen ... Ein gewaltiger Willen, den ein Frauenmund dem Manne aus der Seele küßte! Der armselige Volksschullehrer hohnlachte über des berühmten Künstlers Willensgewalt. Die seine sollte nichts brechen. Selbst Maira à Maras heroische Hilflosigkeit nicht.

Die Gräfin Oberndorff war tot; ihr Geld verhalf ihm zu einem Leben, das ein einziger Rausch sein würde, ein Künstlerrausch! Denn sein Leben würde Ruhm sein, Ruhm und Frauenliebe! In diesen beiden höchsten Gütern des Mannes würde er schwelgen.

Ruhm! Den seinen wollte er hinnehmen, wie er die Krone aus blauen Blumen hinnahm: als etwas ihm Gebührendes. Genau so selbstverständlich sollte der Lorbeer sein Haupt kränzen: dieses leuchtende Jünglingshaupt, das geschaffen war, Kränze zu tragen. Die symbolischen Worte hatte zu ihm die Tote gesprochen. Nun wohl – ihre Worte erfüllten sich! Sie erfüllten sich durch die Tote ...

Frauenliebe! Auch sie würde Dionisio Fidora nehmen, wie man eben nimmt, was geboten wird; und was man ebensogut verschmähen oder wieder wegwerfen kann. Alle Frauenliebe, die er nehmen und wieder wegwerfen würde, war für ihn des Wegwerfens wert im Vergleich zu dem, was er von Maira empfing: nicht jetzt; auch noch nicht bald; aber doch einmal. Seine größten Zukunftssiege sollten ihm nichts bedeuten gegen den Triumph über das Mädchen, das eine Mörderin war.

Aber das Geld der Gräfin Oberndorff! Er würde es nehmen und mit dem Gelde der Toten sein neues Leben beginnen ... Nein! Er bedurfte nicht dieses Geldes, er verschmähte es. Nicht nur Sivo Courtien sollte den Glauben an sich selbst haben können – der Glaube an sich selbst, an seine große Begabung zum Sänger, dieser Talisman war auch Dionisio Fidora zuteil geworden – auf dem öden Maloja, wo Sivo Courtien den seinen verloren. Das sollte dem Sohne notleidender Seidenweber aus dem Bergell nicht geschehen! Sivo Courtien, der einem Alpenkönig glich, sollte auch hierin von dem Jüngling besiegt werden, den die Götter mit einer fast frauenhaft zarten Anmut begabten. Wer von beiden war wohl der Stärkere?

Das Geld der Gräfin Oberndorff, für die Dionisio Fidora weder Mitleid noch Dankbarkeit fühlte, stolz verschmähend, glaubte er sich schon jetzt die Krone des Lebens aufzusetzen, die zu erringen er der Toten in kindischem Größenwahn vor der Tür der Malojakirche verheißen hatte.

 

Zum Gemeindevorsteher kam Dionisio Fidora: »Ich zeige dem Vorsteher meinen Austritt an.«

Obgleich die Kinder von Maloja den jungen Lehrer liebten und ihm anhingen, nahm der Vorsteher die Meldung mit großer Gelassenheit auf. Als die Lehrerin, die von den Kindern gescheut wurde, bei der die Kinder schlecht lernten, ihren Austritt anzeigte, hatte die Sache den sonst so bedächtigen Mann fast erregt. Dem allgemein beliebten Lehrer antwortete er mit der kurzen Frage: »Sie wollen gewiß gleich fort?«

»Gleich. Ich erlebte hier Schreckliches, und die Kinder haben immer noch Ferien.«

»Wenn sie das auch nicht hätten – bei uns kommt es nicht so sehr darauf an. Sie können also gleich austreten.«

»Danke.«

»Unnötig.«

»Ich denke wiederzukommen.«

Den Ausspruch überhörend, erkundigte sich der Vorsteher so gleichgültig, als fragte er nach dem Wetter: »Sie gehen nach Mailand?«

Dionisio Fidora, durch die sichtliche Nichtachtung des Mannes gereizt, sagte mit erhobener Stimme: »Da ich denke wiederzukommen, möchte ich hier ein gutes Andenken zurücklassen.«

»Weshalb?«

»Und auch sonst. Selbstverständlich auch sonst.«

»Der Herr Pfarrer hält große Stücke auf Sie.«

Der Gekränkte rief aus: »Sie werden bald in einem anderen Ton mit mir reden!«

»Ist mein Ton dem Herrn nicht recht?«

»Er ist beleidigend!«

»Wie der Herr es eben aufnimmt.«

»Hören Sie also! ... Die auf dem Fornogletscher verunglückte Gräfin Oberndorff hinterließ mir eine ziemlich bedeutende Summe Geldes.«

»Ich wünsche dem Herrn Glück.«

»Dieses mir hinterlassene Geld will ich nicht annehmen.«

»Nicht?«

»Ich will das Geld der Gemeinde von Maloja übergeben ... Der Gemeindevorsteher scheint darüber wenig erfreut zu sein.«

»Die Gemeinde wird es gewiß sein!«

»Und Sie? Es ist ein ganzes Vermögen!«

»Ich bin nicht die Gemeinde ... Wie wünscht der Herr soll die Gemeinde über das viele Geld verfügen?«

»Eine Schule soll davon gebaut werden.«

»Eine Schule ... Für die Gemeinde ist es eine große Sache.«

»Ich will's meinen! ... Wird das Geld zu dem von mir bestimmten Zweck angenommen oder nicht?«

»Ich habe kein Recht, das Geld nicht anzunehmen.«

»Sonst würde der Vorsteher es ablehnen?«

»Auf den kommt's nicht an ... Der Herr wünscht gewiß, daß die Gründung seinen Namen tragen soll?«

»Einen ganz anderen Namen.«

»Welchen wünscht der Herr?«

»Den Namen der Gründerin der ersten Malojaschule.«

»Also?«

»Die Maira-Schule ... Was meint der Herr Vorsteher dazu?«

»Ist der Name eine Bedingung des Gebers?«

»Ja.«

»Der Vorsteher, der kein Herr ist, sondern ein Malojabauer, meint: die Gründerin der ersten Schule auf Maloja müsse zuerst gefragt werden, ob sie genehmigt, daß die Stiftung des Herrn ihren Namen erhält.«

»Und wenn sie nicht ›genehmigt‹?«

»Müßte die Gemeinde bedauern, die Schenkung des Herrn nicht annehmen zu können!«

»Ich verstehe. Aber –«

»Was soll alsdann mit dem vielen Gelde des Herrn geschehen?«

»Ich will mir's überlegen.«

»Wohin darf ich dem Herrn eine Mitteilung zukommen lassen?«

»Nach Mailand.«

Er gab dem Vorsteher seine Adresse.

»Gute Reise, Herr ... Der Herr wird das viele Geld in Mailand gewiß für sich selbst brauchen.«

»Möglich.«

Ohne Gruß entfernte sich der Abgewiesene.

 

Ganz anders gestaltete sich für Dionisio Fidora sein Abschied von Maloja im Grand Hotel.

Die Kunde von dem edlen Verzicht des Lehrers auf das Geld der Verstorbenen – es war zu einer Hinterlassenschaft geworden – drang bis in die große, glanzvolle Fremdenherberge am Seegestade und erregte dort Bewunderung, die sich durch die hübsche Person des Verzichtenden bei den Damen zu Begeisterung steigerte. Um sich von dem beklemmenden Eindruck des tragischen Todes der schönen Gräfin zu erholen, inszenierte die Hofgesellschaft – das Wetter war föhnig und daher sommerlich warm – am Seeufer ein Vollmondfest, zu dem bis nach Sankt Moritz und Pontresina Einladungen ergingen. Eine Einladung erhielt auch der scheidende Lautenspieler und Sänger. Ja, er durfte sich gewissermaßen als Ehrengast betrachten. Ungebeten brachte er seine Mandoline mit, um auf Maloja ein letztes Mal Tosti und italienische Volkslieder zu singen, bevor er auszog, um dort draußen, in der weiten, weiten Welt ein aufgehender Bühnenstern zu werden. Als wäre er als neues Gestirn am Himmel der Kunst schon aufgestrahlt, wurde Dionisio Fidora bei diesem eleganten Nachtfest gefeiert.

Am Seeufer waren Teppiche ausgebreitet und Zelte aufgestellt. Ein kaltes Büfett war errichtet. Vornehme Frauen boten Erfrischungen und verteilten Blumen. Am Gestade tanzten Elfen. Über den See kam die »Engiadina« im Gefolge der Geister des Engadin nach Maloja gezogen. Ein Feuerwerk wurde abgebrannt, und obgleich Mondschein war, erstrahlte auf dem See und am Ufer ein grüner und blauer, ein rubinroter Lichtzauber. Vom Monte della Disgrazia kam das Gletscherweib niedergestiegen. Über das schleppende, schimmernde Gewand der schönen Frau ergoß sich die Flut ihres Haares, das ein Kranz aus Edelweiß durchleuchtete. Sie lockte und lächelte, wurde frenetisch beklatscht und bejubelt, und – überreichte dem scheidenden Dionisio Fidora ein goldenes Zigarrenetui, darauf die Initialen der vornehmen Spenderinnen in Juwelen geschrieben waren.

Der beglückte Sänger übertraf sich an diesem Abend selbst. Besonders effektvoll gelang ihm das »reizend« gefundene »Vorrei morir«.

Die Damen umringten Dionisio Fidora nach seinem Gesange: »Wenn die arme Gräfin Sie heute abend gehört hätte!«

»Ich denke beständig an sie!«

»Morgen früh verlassen Sie uns wirklich?«

»Ich komme wieder.«

»Wann?«

»Das kann ich nicht sagen.«

»Jedenfalls wird man bald von Ihnen hören.«

»Sie sind sehr gütig.«

»Fahren Sie mit der Chiavennapost?«

»Zu Fuß als armer Wanderer kam ich; zu Fuß als armer Wanderer zieh' ich fort.«

Bald darauf ein anderes Gespräch: »Was werden die Kinder von Maloja ohne ihren geliebten Lehrer beginnen?«

»Es sind – Kinder.«

»Wir hörten, die Schule wolle Ihnen morgen das Geleit geben. Sämtliche Knaben und Mädchen! Auch die Jüngsten. Es ist wie in einer Ballade.«

»Sie bleibt ungedichtet.«

»Weshalb?«

»Der Gemeindevorsteher verbot es den Kindern.«

»Der Mann soll ein Bauer sein.«

»Eben ein Mann von Maloja. Dafür geleitet mich der Pfarrer ein Stück Wegs.« Und Dionisio mußte lächeln über die große Komödie des Lebens. –

Zu dem einsamen Hause am Crap da Chüern stiegen die Raketen, glänzte der bunte Lichtschein herüber. Und herüber klangen Saitenspiel und der Gesang einer Männerstimme von bestrickendem Wohllaut: »Vorrei morir«.

Die Nerina wollte sterben – so schwer waren ihre Wehen. Gian Vital war bei ihr, schaute sie aus toten Augen an und beschwor die Frau, die sterben wollte: ihm bei seiner alten, gewaltigen Liebe zu ihr des Schurken Namen zu sagen.

Die Frau aber schwieg ...

Und immer noch festlicher Lichtschein; immer noch Klang und Gesang vom anderen Seeufer herüber: »Vorrei morir ...«

Der Sänger mußte das »reizende« Lied da capo singen.

In Gian Vitals schwerem Leben war es seine schwerste Stunde. Denn wenn die Nerina gestorben wäre, ohne jenen Namen zu nennen, so hätte er dem Leben geflucht.

Die Nerina gebar in dieser Nacht unter Qualen einen Knaben, der den Namen seines Vaters nicht tragen sollte.

Die Mutter blieb leben.

Also würde Gian Vital den Namen doch erfahren!


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