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Sivo Courtien ging den ihm wohlbekannten Weg zum Cavalocciosee, und auch diesen einsamen Wanderer begleiteten seine Gedanken. Schon da er den nämlichen Weg als Kind gegangen war, bildeten sie seine einzigen Gefährten.

Vom Hirtenknaben zum Künstler ... Auch das war ein Weg gewesen, einen hohen Berg steil empor, über Felstrümmer, durch Öden, an Abgründen hin. Zumal der Weg dieses Künstlers, der nur unbetretene Pfade schreiten wollte, die breite Heerstraße verlassend, von der Menge sich scheidend, über den Haufen sich erhebend, der Mühsale einer solchen Künstlerlaufbahn nicht achtend – alle Mühsale verachtend. Außer seinem Glauben an sich selbst wirkte in ihm noch eine andere Kraft, ohne die wohl auch dieser tüchtige Bergsteiger ermüdet am Wege hingesunken wäre: die Treue gegen sich selbst.

Eine neue Kunst wollte er den Menschen geben: die Kunst unbestechlicher Wahrheit, unerbittlicher Wirklichkeit. Wer seine Landschaftsbilder sehen würde, sollte vergessen müssen, daß er Leinwand und Farbe sah. Aus dem Gletschermeere sollte dem Beschauer die Kälte des Eises entgegensteigen, der Glanz der Firnen seine Augen blenden, die Felsenöde der Alpen seine Seele mit allen Schauern umfangen. Ihn sollte der Sturm umbrausen, aus dem schwarzen Gewölk sollten zuckende Blitze hart neben ihm einschlagen, jagende Nebel ihn einhüllen –

Und nun vollends sein gewaltiges Drama: die Alpentragödie!

Der Zuschauer selbst sollte der Held derselben sein. Erzählten doch alte Geschichten von den beiden griechischen Künstlern, die im grauen Altertum erreicht hatten, was Sivo Courtien anstrebte: von den Früchten des einen wollten die Vögel naschen; und der zweite wurde gebeten, den Vorhang von seinem Bilde zu heben, damit das Gemälde zu sehen wäre. Etwas anderes, Größeres und Unmöglicheres wollte auch der Engadiner nicht erreichen.

›Wie rette ich mich vor diesem heranziehenden Gewitter, diesem aufsteigenden Gewölk? Im nächsten Augenblick kann der Blitz mich treffen, der Nebel mich begraben!‹ – Das sollte bei dem Gemälde empfunden werden, und Sivo Courtien würde der Welt die neue Kunst geschenkt haben, die doch nur eine uralte war.

Seinem hohen Hause zusteigend, machte er mit jedem Blick, den er auf die Landschaft warf, im Geiste einen Pinselstrich an seinem Gemälde. Sein Sehen war ein beständiges Malen, Verbessern, Verwirklichen; denn sein Auge drückte seinem Gehirn beständig eine unendliche Reihe von Anschauungen ein, die er bei Bedarf nur zu nehmen und auf die Leinwand zu bringen brauchte. Ein leidenschaftlich Liebender kannte das Antlitz der Geliebten, Miene und Ausdruck, Lächeln und Blick nicht besser, als Sivo Courtien jeden wechselnden Schatten, jede Lichtwirkung auf dem Alpenfeld seiner Heimat.

›Wie konnte ich es dort unten nur so lange aushalten? Daß ich in der Enge nicht umkam, in der dumpfen Luft nicht erstickte! Und erst in Rom ... Rom mit seinem ewigen mörderischen Schirokko, seinem widrigen Fremdengewühl. Was schert mich Rom? Das mag für andere die Stadt der Städte sein. Ich bin nur dafür geschaffen, was für die anderen – nicht ist ... Rom, die Via Margutta, und – Was mag aus ihr geworden sein? Ein Gletscherweib, eine männerumstrickende, seelenwürgende Teufelin! Es ist nicht schade um solche, die sich vom Weibe verderben lassen. Aber dieses Weib ... Eine Dame, eine vornehme Dame ... Unsereiner kann sich nicht vorstellen, was für ein Geschöpf das ist. Es sind ganz besondere Wesen mit ihrer verfeinerten Kultur, ihren betäubenden Wohlgerüchen, ihren eleganten Verderbtheiten. Das Gletscherweib vom Monte della Disgrazia ist tausendmal weniger unheilvoll.‹

Ihm wurde heiß. Mit einer Bewegung, als wollte er eine Last abwerfen, riß er sich Weste und Hemd auf, die nackte Brust dem Bergwind aussetzend. Seine Gedanken konnte er jedoch nicht verwehen lassen: ›Malen sollte ich sie für diesen Menschen, dem sie sich verkauft hatte. Ein käufliches Weib, das eine vornehme Dame sein will – pfui, o pfui! Wie kann eine Frau sich anrühren lassen von einem, den sie nicht liebt? Eine stolze Frau doch gewiß nicht? Wie heiß muß eine stolze Frau einen Mann lieben, um von ihm sich anrühren – nur sich anrühren zu lassen ... Ich kann es nicht ausdenken. Eine wahrhaft stolze Frau muß unberührbar sein. Auch der Mann muß es sein. Was gehört dazu, bis ein wahrhaft stolzer Mann sich einer Frau hingibt ... Mir fehlt der Ausdruck dafür. Seinen Leib und seine Seele einem anderen Wesen zu geben: einem ganz fremden, von dem wir nichts wissen, nichts wissen können. Es muß wie Selbstvernichtung sein!‹

Hoch über Sivos Haupt kreiste ein Adlerpaar. Auch dieser königliche Vogel hauste zu zweien in Himmelshöhen. Aber Sivo Courtien wollte allein sein.

Der Mann, der es verschmähte, auch in dem Allermenschlichsten, in der Liebe, ein Mensch wie alle zu sein, mußte sich gefallen lassen, daß das Bild der Frau aus Rom in der Bergwildnis mit ihm ging und nicht von ihm abließ.

›Sie weiß, daß ich sie verachte. In das Gesicht hinein sagte ich es ihr. Es muß sie wie ein Schlag getroffen haben. Sehr fein war es nicht von mir, nicht gerade sehr ritterlich ... Aber weshalb sprach sie mich auf der Landstraße an? Sie hatte ja doch aus meinem eigenen Munde gehört, daß ich sie nicht malen wollte. Das allein war eine Beleidigung. Trotzdem ließ sie den Wagen halten, stieg aus mit aller ihrer Vornehmheit und ging mit mir durch den Straßenstaub: die elegante Dame mit dem bäurischen Engadiner. Mich packte eine wahre Wut, und – da sagte ich ihr's. Freilich hätte ich mir gleich darauf selbst ins Gesicht schlagen mögen. Schändlich war's von mir. Wie konnte ich nur gegen eine wehrlose Frau ... Pfui, o pfui! Schäme dich, Sivo Courtien!‹

Er wollte ihr leuchtendes Bild dadurch aus seiner Seele bannen, daß er das Gefühl seiner Verachtung für sie in sich heraufbeschwor. Und jetzt mußte es ihm geschehen, daß bei der Erinnerung an die letzte Begegnung mit der schönen Frau die Scham wie ein Gluthauch in ihm aufstieg. Er mußte stehenbleiben und Atem schöpfen, als hätte er bereits einen beschwerlichen Weg zurückgelegt. Erst nach einer Weile ging er weiter; und mit ihm weiter gingen seine Gedanken: ›Sie hat es nicht vergessen. Immer noch gedenkt sie des Frühlingsabends auf der römischen Landstraße. Während sie sich bewundern und feiern läßt, brennen ihr meine Worte im Herzen. Sie kann mir nicht verzeihen; sie muß mich hassen. Das ist gut. Sie hat mit mir ebensowenig gemein wie ich mit ihr. Wir zwei sind getrennte Welten. Ich käme leichter über einen Alpenabgrund als hinüber zu ihr. Zwischen uns beiden besteht Rassenhaß.‹

Aber er begriff, daß andere sie liebten, denn: ›Jeder, der sie sieht, muß sie lieben – jeder, der anders beschaffen ist als ich. Da sie sich dem ersten verkauft hat, schenkt sie sich gewiß dem zweiten. Also auch Ehebrecherin. Das soll bei diesen Leuten nichts Schändliches sein ... Was für ein Bauer bin ich doch, das nicht zu begreifen ... Mir sollte ein Mädchen sich verkaufen! Oder eine Frau mir die Ehe brechen! Oder die Frau eines anderen mit mir die Ehe brechen ... Das würden nun wieder diese Leute nicht verstehen. Um so schlimmer für sie.‹

Plötzlich fiel ihm Maira ein, an die er sonst selten dachte: ›Ja sie – Maira! Sie gehört zu den Unberührbaren. Nicht um ein Königreich würde sie von einem Manne sich anrühren lassen ... Sie müßte denn den Mann lieben – leidenschaftlich, über alles Maß, mit einer Liebe, stärker als der Tod ... Maira und einen Mann lieben. Unmöglich! Weshalb unmöglich? Daß ich daran niemals gedacht habe! Sie lebte nicht immer hier oben ... Unmöglich sage ich! Ich kenne keinen, von dem ich mir vorstellen könnte, daß – Er kann jeden Tag kommen. Irgendein Fremder, der im Hotel wohnt und sie zufällig sieht, kann es sein. Im nächsten Winter soll das Hotel überhaupt nicht geschlossen werden. Es soll darin zugehen wie in London, Paris und Rom: Liebschaften, Hasardspiele, Bälle, Konzerte, Theater. Auf dem gefrorenen See wollen sie Feste geben: Schlittenfahrten ins Murettotal, Karneval auf dem Fornogletscher. Schändlich, schändlich! Nein – ich bleibe den ganzen Winter dort oben!‹

Er gelangte zum Cavalocciosee, einem kleinen Gewässer mit dunkler regungsloser Flut, von einer Schwermut und Trauer, als würde die fühllose Natur gepackt von dem Jammer der Menschheit und schlüge an dieser Stätte ein weinendes Auge auf. Am Ufer lag noch Schnee. Aber wo die starre, weiße Decke gewichen war, blühten auf den bräunlichen Matten zartviolette Krokus und goldgelbe Primeln.

Courtiens Weg von Maloja bis zum See hinauf begleitete die feierliche Frühlingsmusik der Alpen: dumpfer Lawinendonner, vieltönigen Widerhall weckend. Mit dem Zerfließen der Morgennebel und der steigenden Sonne wurden die Schneestürme häufiger, massiger, dröhnender. Donner folgte auf Donner. Es rollte und grollte, als tobte bei wolkenlosem Himmel ein Gewitter in den Schluchten. Durch den silbrigen Schleier der weichenden Dünste sah der Bergsteiger von den leuchtenden Wänden ein Stück des Schimmers sich lösen: ein Strom von Glanz floß lautlos nieder, einen Sprühregen flimmernder Flocken verbreitend. Er wuchs von Augenblick zu Augenblick, schwoll mächtig an, riß neue Massen Schnees mit sich nieder, dazu Felsblöcke und loses Erdreich.

Ein Sausen und Brausen in den Lüften wie heranjagender Orkan! Dann – mit schwerem Falle schlug die Lawine auf dem Felsengrund auf. Weißes Gewölk stäubte empor, und das Echo erwachte. Drei-, vier-, fünfmal warfen die Wände den Donner zurück, bis der letzte Laut allmählich erstarb.

Aber schon blitzten in der Höhe neue Glanzwellen auf: hier und hier, dort und dort! Ringsum löste es sich von Grat und Gipfel. Die Berggeister schienen zu kämpfen, und grimmig tobte die Schlacht, als stritten Giganten wider Götter.

›Auch das kann der Mensch nicht malen! ...‹ Und durch Sivo Courtiens Seele lief ein leises Erbeben.

 

Auf dem Dache seines aus Lärchenholz gezimmerten Blockhauses kauerte Gian Vital, der »Kapuzinerjäger«, und besserte die Schäden, die der grimmige Malojawinter dem festen Bau zugefügt hatte. Schindeln und Steine – wahre Felsblöcke – flogen um die hünenhafte Gestalt des Jägers von Maloja, der Mönch hatte werden sollen und den die Gemeinde als Hüter des gemsenreichen Malojareviers angestellt hatte, weil er sonst der verwegenste Wildschütz im Lande geworden wäre. Längst hatte der Dachausbesserer den einsamen Bergsteiger, mit dem ihn Landsmannschaft und Jugendgenossenschaft verbanden, von seinem hohen Posten aus erspäht und über ihn seine Betrachtungen angestellt: ›Das ist einer, der am liebsten die himmlische Sonne herunterholte und der eines schönen Tags über einen Stein stolpern wird.‹

Erst als Courtien, bereits nahe beim Hause, ihn laut anrief, richtete sich der Philosoph auf dem Dache in seiner ganzen Länge in die Höhe, den Ankömmling mit einem Lachen grüßend, so mächtig, daß es den Widerhall hatte wecken können: »Willst du mir helfen auf der Margna Bären jagen, weil du mit Seil, Eispickel und Schneeschuhen zu mir heraufkommst? Die Büchse kannst du von mir haben.«

»Ich will nach meinem Hause sehen, und du sollst mich begleiten. Kann aber auch allein gehen.«

»Oho, Bürschlein! So schnell lass' ich mich von solchem Knirps nicht abtun. Mußt mich schon mitnehmen, damit jemand da ist, der dich aus dem Schnee wieder herausholt, wenn du steckenbleibst.«

»Du scheinst mich für einen rechten Narren zu halten.«

»Daß ich ein Narr wäre! Gerade deine Narrheit gefällt mir an dir. Die Verständigen kann ich nicht ausstehen.«

Damit sprang er auf den Boden, als ob das hohe Dach ein Schemel wäre, und stand nun gleich einem Riesen vor dem Maler, dem er die Hand schüttelte, als wollte er ihm den Arm ausrenken.

Courtiens Rechte hielt Widerstand. Er mußte bei dem Händedruck des Wildlings an die Geschichte denken, die die Malojaleute von Gian Vital erzählten: er habe, da er noch ein Knabe war, auf der großen Margna eine Bärin, die ihn anfiel, bei der Kehle gepackt und so lange gewürgt, bis das mächtige Tier unter seinem Druck verröchelt war.

Mit aufrichtigem Wohlgefallen betrachtete der Maler den Naturmenschen, in dessen braunen Krauskopf eine Tonsur hatte geschnitten werden sollen. »Da du so zudringlich bist, muß ich dich wohl oder übel mitlaufen lassen.« Mit diesen Worten ließ sich Courtien die Begleitung des jungen Giganten gefallen – als ob er ihn nicht selbst aufgefordert hätte, mit ihm zu gehen.

»Schön Dank, Bübchen. Ich muß sowieso auf der Isola nachsehen, wie es mit meinen Gemsen aussieht. Gewiß schlimm genug. Das war wieder einmal ein hübsches Winterchen. Auf meinem Dach lag der Schnee zehn Schuh hoch. Da kann auf deinem Haus ein ganzer Berg gelegen haben.«

»Meine Eisenbalken tragen ihn.«

»Du bist eben ein gescheiter Narr. Je weiter fort von den Menschen, um so schöner die Welt! Wenn zu den Menschen nur nicht auch die Frauenzimmer gehörten.«

»Ohne die für dich der Himmel selbst kein Himmel wäre. Und solch einer sollte Kapuziner werden!«

»Sollte, Jüngelchen.«

Und der Bergriese lachte auf, daß es wie ein Dröhnen klang. Dann machte er mit bestem Anstand den Wirt: »Erst sitz nieder und iß. Seeforellen gibt's, frisch gefangen. Geräuchertes Bärenfleisch wär' auch da, wenn du warten kannst, bis es weich gesotten ist. Inzwischen könnte der Weg zu deinem Haus hinauf schneefrei werden.«

Aber der Maler meinte: »Etwas zu lang dauerte mir's doch. Also muß ich für dieses Mal auf den Bärenbraten verzichten.«

Während der buntgesprenkelte Fisch, an einen Wacholderstecken gespießt, kunstgerecht über dem offenen Feuer briet, schaute Sivo zu, wie vom Herde der Rauch als zartes, blaues Gewölk durch die offene Tür in den sonnigen Tag hinauszog, lauschte auf die Symphonie der Lawinen und wiederholte plötzlich gedankenlos, was er vor einer Viertelstunde gesagt hatte: »Und ein solcher sollte Kapuziner werden!«

»Mit Leib und Seele.«

»Weil deine Mutter es wollte?«

»Weil in der Familie ein Ehrwürdiger sein sollte. Wäre ein kurioser Heiliger geworden.«

»In der Kutte stecktest du schon?«

»Fuhr aus der Kutte wieder heraus. Sie war mir viel zu kurz und zu knapp.«

»Dem Kloster entliefst du?«

»Hätten mir aus dem Kloster nachlaufen können: von Chiavenna bis zur großen Margna. Und die große Margna hinauf. Wären gleich zurückgelaufen und nicht wiedergekommen.«

»Weshalb wurdest du eigentlich nicht Mönch?«

»Weshalb wurdest du eigentlich nicht Ziegenhirt?«

»Es war wider die Natur.«

Da fuhr der Mann am Herde auf, daß der bereits sich bräunende Fisch fast in die Flammen gefallen wäre: »Ja, Sivo Courtien, wider meine Natur war's! In eine Zelle wollten sie mich sperren, nicht größer als ein Mauseloch. Vergittert! Aus dem Fasten hätte ich mir weiter nichts gemacht. Aber beten, beten, beten. Statt Bäume auszureißen und Felsblöcke aufzuheben – beten; statt Gemsen nachzuklettern, Bären aufzulauern und junge Adler aus dem Horst zu nehmen – beten, beten! Dazwischen Litaneien singen und Knie beugen. Denke doch, Sivo Courtien: wie ein altes Weib knicksen und sich bücken! Statt Alpstock, Eispickel und Seil den Rosenkranz. Mit solchen Armen, solchen Fäusten! Zu Tode geschämt hätte ich mich. Und der Herrgott selber würde mich aus dem Himmel gewiesen haben, wenn ich einmal als Kapuziner hineingekommen wäre und er mich gefragt hätte: ob ich mit solchen Armen und Fäusten nichts Besseres tun konnte als den Rosenkranz halten? Aus dem Himmel gejagt hätte mich Gottvater; denn – es ist wider meine Menschennatur, die mir der Himmel selber gegeben.«

»Jedenfalls bist du gründlich aus der Kutte heraus. Übrigens braucht man nicht gerade Mönch zu werden, um wegen der himmlischen Liebe der irdischen zu entsagen.«

»Oho, Mönchlein!«

Und der Fischbrater riß mit heftigem Ruck den Spieß vom Feuer zurück, hob ihn wie eine Waffe und schritt damit drohend auf seinen Gast zu.

»Weshalb schiltst du mich Mönch?«

»Weil du wegen deiner himmlischen Liebe der irdischen entsagen willst; weil das wider die Natur ist, und weil alles, was wider die Natur ist, einem Frevel gleichkommt wider den Heiligen Geist. Wider die heilige Natur sündigst du, obgleich du mit deinen Malereien ihr Verkündiger bist. Gib acht, wenn die Strafe kommt. Überdies bist gerade du der rechte Mann, um auf ganz menschliche Weise irdisch zu lieben.«

»Wieso gerade ich?«

»Wirst es schon einmal erleben.«

»Niemals!«

»Verschwör's nicht.«

Aber Sivo Courtien erklärte: »Wenn ich auch Künstler bin, kann ich trotzdem den katholischen Priester verstehen. Wäre ich Mönch geworden, so wäre ich Mönch geblieben. Der Mensch braucht seine Seele nur mit etwas Großem und Göttlichem zu füllen, um des Irdischen nicht zu bedürfen.«

»Nennst du die Liebe zum Weibe etwas Irdisches, du Gotteslästerer?«

»Es gibt etwas, das mehr vom Himmel ist.«

Da bekam der Künstler seine Kapuzinerpredigt: »Vom Himmel versteh' ich nicht viel, verstand wenig davon, als ich im Kloster und dem Himmel nahe war. Aber das eine sag' ich dir: wenn ich bei meinem Mädchen bin, fühl' ich mich dem Himmel näher als im Kapuzinerkloster zu Chiavenna ... Jetzt komm und iß, obgleich dir meine guten Forellen zur Strafe deiner Missetaten gar nicht schmecken sollten.«

Trotz dieses wenig christlichen Wunsches wurde Sivo der größte und am leckersten gebräunte Fisch auf blankgescheuertem Holzteller vorgelegt. Ein Stück nicht sehr frischen und nicht sehr weißen Brotes bildete die kräftige Zukost zu dem lukullischen Gericht, dem der Verächter der irdischen Liebe übrigens alle Ehre antat: in seinem Eispalast gab es keine frischgerösteten Seeforellen, und der frühe Gang hatte auch den Aszeten hungrig gemacht. Erst nach dem letzten Bissen stellte Courtien dem Gefährten aus der Kinderzeit die Gewissensfrage: »Sage mir nur, weshalb heiratest du dein Mädchen nicht?«

»Weil auch das wider die Natur wäre – wider meine Natur.«

»Steht's so mit dir?«

Da bekannte der Gemeindejäger von Maloja: »Es ist schlimm, aber es ist so. Ein Schuft, wer sich besser macht, als der Himmel ihn schuf.«

»Und wie schuf er dich?«

»Daß ich kein Weib mit mir betrügen kann. Deshalb nehme ich kein Weib.«

»Und dein Mädchen?«

»Halte ich wie mein Weib. Gleich das erstemal sagte ich: ›So bin ich und nicht anders. Ich will dich als mein Weib halten, kann dich aber nicht zum Weib nehmen. Du kannst mich also fortschicken. Ich rühre dich nicht an, wenn du nicht willst. Und du wirst nicht wollen – da du jetzt Bescheid weißt.‹«

»Sie schickte dich nicht fort?«

»Nein. Da ging ich von selber.«

»Und?«

»Und stieg hinauf, so hoch ich konnte, jagte Bären, Gemsen und Adler, soviel ich konnte, und – kam nicht wieder zu ihr.«

»Das war brav.«

»Da kam sie zu mir. Nach langer Zeit! Lange Zeit hatte sie auf mich gewartet. Und – da kam sie eben zu mir, konnte nicht anders.«

»So sehr liebte sie dich?«

Mit einem Aufleuchten in seinen Augen, aber mit leiser Stimme erwiderte der Wildling: »Sie kann von mir nicht lassen.«

»Trotzdem nimmst du sie nicht zur Frau?«

»Trotzdem nicht. Versteh's, wer kann.«

Alsdann brachen sie auf. Die Hütte ließ Vital offen. Hätte es darin auch etwas zu stehlen gegeben, so gab es doch auf Maloja keinen Dieb.

 

Courtien drang mit dem Gefährten tiefer und tiefer in das Mysterium der Alpenwelt ein. Die Felsen waren Granit, darüber ein rosiger Schein lag. Oder die Wände überzogen gelbe Flechten, daß sie wie vergoldet strahlten.

Das Felsental, das sie durchschnitten, bildete den Vorhof des höchsten Heiligtums. Die weißen Gipfel stiegen als Kuppeln auf, die Gletscher erhoben sich als die in Edelsteinglas funkelnden Altäre, und der Donner der Lawinen war die Stimme des Predigers in dieser Wüste von Fels zu Eis.

Um von den abstürzenden Schneemassen nicht verschüttet zu werden, mußten die Wanderer wie auf Schleichwegen emporsteigen, häufig unter senkrechten Schroffen hin, deren Rand die gefrorenen Schollen oft weit überragten. Wäre der Bärenjäger des Malers Todfeind gewesen, so hätte er nur seine Büchse von der Schulter zu reißen und abzufeuern brauchen, um aus den Lüften den »weißen Tod« niedersausen zu lassen. Die beiden wären freilich zusammen begraben worden.

Sie gelangten zum Fornogletscher und überquerten das Eisfeld, beständig vorsichtig prüfend, ob die Schneedecke, die Scharten und Gründe überbrückte, auch trage. Senkrechte Wände hinauf, in welche die Sprossen einer eisigen Leiter eingehauen werden mußten, führte der Weg zu dem Alpenhaus, das ein Maleratelier war.

Auf dem Gletscher sahen die beiden, tief verschneit, die Fornohütte am Fuße der Cima di Rossi. Auch sie war eine Gründung des vornehmen belgischen Herrn. In dieser Gletscherwelt ein mit allem Luxus ausgestatteter Pavillon, darin die Gäste des Palasthotels wie in einem Restaurant an der côte d'azur ihren afternoontea nahmen, serviert mit kleinen, noch heißen Kuchen, Sandwiches und Horsd'oeuvres.

Da sich die beiden an einer Stelle befanden, wo keine Lawinengefahr drohte, konnten sie einander bessere Gesellschaft leisten. Sie sprachen von dem Teehause am Rande des Gletschers, von den eleganten Herren und Damen, die es im Sommer besuchten, und welch eine fremde, über das wilde Hochtal Gold ausstreuende Welt mit ihnen nach Maloja gekommen war: eine Welt des Luxus, der Verfeinerung, des Lasters. Denn man raunte: es bestünde die Absicht, aus Maloja ein Monte Carlo zu machen.

»Bis jetzt wagen sie's noch nicht: bis jetzt nehmen sie noch eine Maske vor. Wie lange wird's dauern, und sie zeigen ihr wahres Gesicht. Ein Erdbeben sollte ihre Lasterhöhle vernichten wie ein Kartenhaus!«

»Da es auf Maloja keine Erdbeben gibt und weder der Piz Lunghin noch die Salecina über Maloja zusammenstürzen, so –«

Der aus dem Kloster entlaufene Mönch brach ab. In seiner Stimme, in diesem unterdrückten heiseren Ton lag etwas, das Courtien veranlaßte, seinem Begleiter ins Gesicht zu sehen. Er sah die fahle, verzerrte Miene eines Fanatikers.

»Was ist dir? Woran denkst du? Wie kommst du zu solchen Gedanken?«

»Zu welchen Gedanken?«

»Zu mörderischen, teuflischen. Besinne dich!«

Vital besann sich. Schwer Atem holend stieß er hervor: »Ich versteh's auch nicht. Bisweilen kommt's über mich. Dann besinn' ich mich auf nichts mehr. Nicht auf Gott, nicht auf mich selbst. Im Kloster geschah mir's zum erstenmal: als sie mich eingesperrt hatten; als ich beten, immerfort beten sollte; als ich meine Sünden beichten sollte und keine Sünde wußte; als sie mir den Geißelstrang gaben; als sie mich behandelten wie einen Verbrecher und Mörder – darum wie einen Verbrecher, weil ich an mir selbst kein Verbrechen begehen, meinen eigenen Menschen nicht totschlagen wollte. Da kam's über mich.«

»Sollte es wieder einmal über dich kommen, so steige auf den höchsten Gipfel unserer Berge, hebe dein Gesicht auf, der Sonne entgegen, und es wird von dir weichen.«

»Ich will dir sagen, was ich zu tun pflege, wenn über mich der Dämon kommt, der mich zum erstenmal in heiligen Mauern heimsuchte. Dir wird's jedoch grausen.«

»Ich bin dein Freund. Also sprich.«

»Wenn meine dunkle Stunde kommt, geh' ich, wie du mir rätst, hinaus und hinauf. Aber nicht, um auf Gipfeln zu beten. Ich nehme meine Büchse und töte – morde. Es sind unschuldige Tiere, die ich niederschieße, könnten indessen ebensogut Menschen sein. Ich muß Blut sehen. Ob Jagdzeit oder Schonzeit – ich töte, morde. Ich verdiente, keine Büchse tragen, keinen Schuß tun zu dürfen; verdiente Strafe und Gefängnis, Verachtung und Schande. Verachte mich also.«

»Ich bedaure dich.«

»Sag mir: ist's möglich, daß so etwas in einer Seele sich zutragen kann?«

Mit leiser Stimme erwiderte Courtien: »Ich kenne wenig vom Menschen, glaube aber, es gibt nichts, was der Mensch nicht sein oder tun könnte – nichts Unmenschliches. Auch in einem sogenannten guten Menschen ist alles sogenannte Böse möglich.«

Da rief Gian Vital: »Wenn's so ist, hätte Gott die Menschheit nicht schaffen dürfen. Und er soll doch nicht nur ein allwissender, sondern auch ein allgütiger Gott sein. Und dann – wie sieht's wohl damit? Durch seinen Kreuzestod soll Jesus Christus uns erlöst haben. Wo aber ist unsere Erlösung? Wir sind nach wie vor arme Sünder, werden nach wie vor unserer Sünden wegen verdammt. Unsere Sünde heißt die Erbsünde. Was können wir also dafür? Und wie war es auf der Welt, bevor Christus durch seinen Tod die Christen ›erlöst‹ hat? Waren zuvor alle Menschen verdammt? Auch die Guten und Reinen? Und weshalb sind nur die Christen durch Christi Tod erlöst? ... Diese Fragen stellte ich denen im Kloster. Sie gaben mir darauf keine Antwort. Oder doch nur schlechte Antwort. Das ist auch eine der Ursachen, weshalb es so weit mit mir kam. Jetzt such' ich den Menschen, der mir sagen könnte: Was und wie ist unsere Erlösung? Es ist auf der Welt bei dem alten Jammer geblieben. Bist du vielleicht der Mensch, den ich suche und der mir Bescheid geben kann?«

Sivo Courtien gab ihm Bescheid: »Ich bin's nicht.«

 

Die Bergsteiger erreichten die »Isola«. Sie lag in dem gewaltigen Gebirgsstock des Monte Sissone und Monte della Disgrazia und bestand in einem großen, vielfach zerklüfteten Felsenriff inmitten des Gletschermeers, das hier in hohem Wogengang emporschlug: grüne und graue, blaue und violette sturmgepeitschte und plötzlich durch einen Zauber erstarrte Wogenkämme, den Firnschnee als blassen Gischt. In langen Ketten sich aufbäumend, verharrten sie regungslos in den Lüften; einzelne Wellen schienen emporzusprühen und wie gebannt nicht wieder in die Tiefe zurücksinken zu können.

Das wilde Felseneiland war Schutzgebiet: »Gemsfreiheit«. Es wimmelte von Wild, das sich hier vor Gian Vitals unfehlbar treffenden Kugeln sicher wußte. Nicht einmal, daß die sonst so scheuen Tiere bei dem Nahen der Männer sich in die Klüfte zurückzogen.

Auf einer ebenen Stelle des Riffs stand die »Sivo-Courtien-Hütte«, ein hoher Bau aus Felsblöcken und Eisenwerk. Die Fenster einer großen Glashalle waren für den Winter mit starken Brettern verschalt. Dieses höchste und gewiß seltsamste Maleratelier schien inmitten des Eismeeres auf einer Scholle zu treiben, die bei einem Orkan in Gefahr stand, gegen die Wände des Monte Sissone geschleudert zu werden, an denen sie zerschellen mußte, und in dieser arktischen Welt hauste ein Künstler!

Es war so, wie Sivo vorausgewußt hatte: um bis zu seinem Hause zu gelangen, mußte durch die gefrorenen Schneemassen ein Pfad gehauen werden. Nach vielen Mühen gelang es, die Tür zu öffnen. Vor der offenen Tür stehend, sagte der Hausherr: »Ich erweise dir schlechte Gastfreundschaft; denn ich lade dich nicht ein, mit mir einzutreten. Ich möchte allein nach meinem Bilde sehen. Nimm mich für den, der ich bin: für einen Narren, so wird dich meine Ungastlichkeit nicht kränken.«

Gleichmütig versetzte der Abgewiesene: »Ich kenne ja doch Sivo Courtien. Übrigens bin ich nicht leicht zu kränken, um so leichter jedoch zu beleidigen. Während du dein Bild betrachtest, will ich nach meinen Gemsen sehen.«

»Laß die Büchse hier.«

»Was denkst du von mir?«

»Ich denke daran, daß es vorhin ›über dich‹ kam.«

»Die Isola ist Schutzgebiet, Sivo Courtien!«

Gian Vital sagte es mit heiserer Stimme, wandte sich rasch ab und schritt davon, auf dem weißen Gefilde eine hochragende, schwarze Gestalt. Courtien stand und schaute ihm nach, als ob er zauderte, die Schwelle zu überschreiten, die zu seinem Lebenswerk führte. Mit einem schweren Atemzug betrat er endlich sein Haus. Geisterhaft leuchtete ihm durch die Dämmerung die Riesenleinwand seines Gemäldes entgegen.

Um besser sehen zu können, mußte er einige der Bretter vor der Glashalle entfernen ... Jetzt erst trat er vor sein Bild. Eine Stunde brachte er davor zu. Als er das Haus wieder verließ, war er sehr bleich.

Vor der Tür wartete der Jäger auf ihn, sah ihm ins Gesicht und fragte: »Ist deinem Bilde etwas geschehen?«

»Weshalb fragst du?« Und ohne eine Antwort abzuwarten, erklärte er: »Nichts ist an meinem Bilde geschehen. Ich fand alles in bester Ordnung. In zwei Wochen kann ich das Haus beziehen.«

Er schloß hinter sich zu.

 

Als die Gletscherwanderer die Hütte am Cavalocciosee wieder erreichten, brach die Dunkelheit herein und deckte die weiße Alpenwelt schwarz und schwer zu. Vital forderte den Maler auf, bei ihm zu übernachten, ein gutes Lager aus getrocknetem Alpengras und ein zweites leckeres Fischgericht verheißend: geräucherte Lachsforelle in einen Eierkuchen gebacken, eine festtägliche Fastenspeise der frommen Väter von Chiavenna. Courtien, der auf dem Rückweg kein Wort sprach, wollte jedoch mit sich allein sein. Also trennten sie sich nach kurzem Gruß.

Nur einem Sohn des Landes war es möglich, bei der Finsternis durch die Schlucht den Weg zu finden, und selbst diesen kostete es Mühe, vorwärts zu gelangen. Sivo ließ sich von dem Rauschen der jungen Orlenga geleiten. Die Sicherheit, mit der er dem Lauf des Eisbaches folgte, besaß etwas von der Unfehlbarkeit eines Nachtwandlers. Von Zeit zu Zeit blieb er stehen, nicht um die Richtung zu suchen oder auszuruhen, sondern gleichsam, um besser auf die Stimme zu hören, die in ihm erwacht war und ihm beständig mit Geisterton zuraunte: »Die Nebel steigen nicht auf: sie haften an der Leinwand! Das Gewitter zieht nicht heran: es bleibt stehen! Du fühlst nicht den Sturm, der die Dünste emportreibt und vor sich hinjagt. Es ist weiße und graue, schwarze und blaue Farbe; ist nichts anderes als Farbe auf Leinwand!«

Courtien ging an dem Rande der brausenden Orlenga hin, an den Abgründen, diesen offenen Grüften, vorüber und murmelte, als gäbe er seiner inneren Stimme zur Antwort: »Ich beginne von neuem. Das nächste Mal wird es mir besser gelingen. Das nächste Mal wird die Farbe Nebel sein, den der Sturm peitscht; wird sie mit Blitzen geladenes Wettergewölk sein, das herangebraust kommt. Ich will, daß es das nächste Mal mir gelinge!«

Und immer wieder in ihm die Geisterstimme: »Nichts anderes als Farbe auf Leinwand ...«

Sivo wollte auf die Frühlingsmusik der Alpen lauschen, um die innere Stimme nicht hören zu müssen. Aber die Lawinen sangen bei der Nachtkälte nicht mehr ihren Donnergesang; und als er bei den ersten Hütten von Ordeno die Richtung änderte und den Wildbach verließ, ward die Nacht lautlos. In seiner schwermütigen Stimmung erschien ihm bei dem tiefen Schweigen die Schöpfung der Finsternis noch göttlicher. Aber es war ein furchtbarer Gott, der diese Alpennatur schuf, sie mit Todesgefahr und allen Schrecken der Elemente erfüllend, um die Menschen von ihr fernzuhalten, als sollte sie von dem schwülen Hauch der Menschheit unberührt bleiben, in unnahbarer Majestät. Sivo erkannte jetzt die Umrisse eines jeden Grates, jeden Gipfels: blasse Linien auf schwarzem Grunde, an dem die Sterne funkelten. Sie schienen aus den weißen Häuptern der Bergriesen zu sprühen und als leuchtende Funken in die Unendlichkeit geschleudert zu werden.

Wiederum gelangte Sivo zu dem stillen Ort, wo die Toten von Maloja schliefen, in ihren von Alpenrosen und Wacholder überwucherten Grüften der Auferstehung harrend. Hatte er doch das darstellen können: gespenstische Gestorbene, denen man ansah, daß sie einstmals gelebt hatten. War seiner Kraft bereits damals ein solches Vollbringen möglich gewesen, mußte ihm doch jetzt etwas flatterndes Gewölk gelingen. Schon als kindischer Knabe hatte er das erstrebt; also würde er es doch als Mann erreichen können. Es galt ja nur einige aufsteigende wallende Nebelstreifen darzustellen ...

Er stand bei der bröckelnden Kirchhofsmauer und starrte auf die eingesunkenen Grabstätten mit einem Blick, als müßten vor seinen Augen die Grüfte sich öffnen und ihre Toten herausgeben: seine Toten von Maloja! Gleich würde an dem einsamen Gotteshause die Uhr die Mitternachtsstunde schlagen, gleich würde die Glocke zu läuten beginnen –

Als das Schweigen andauerte und die Gräber geschlossen blieben, setzte Sivo seinen Weg fort: über die Felsenhalde, durch die Nelkenflut nach Cresta und zum See hinunter. Alsdann an der Fremdenherberge vorbei und hin zu der Landstraße, die nach Crap da Chüern und zu seinem dunklen Hause führte.

Im ersten Stockwerk des Grand Hotel war Licht. Fremde mußten angekommen sein, die ersten Gäste.

Die Fenster des Eckzimmers, die nach dem See und dem Kirchhof hinausführten, waren geöffnet. Courtien sah den Schimmer einer Seidentapete, sah die vergoldete Stukkatur des Plafonds, sah –

Eine weibliche Gestalt erschien am Fenster. Die Dame lehnte sich hinaus, blickte hinüber nach dem See, an dessen Ufer der Einsame stand, zu dem jetzt keine innere Stimme warnend sprach: »Hüte dich!«


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