Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

19

Seitdem der Lehrer von Maloja an dem Schnee- und Eissport der Wintergäste teilnahm, war also auch der Maler von Maloja dabei. Er schämte sich nicht mehr seiner Eifersucht, die nun einmal zum Wesen der Leidenschaft zu gehören schien. Der Mensch konnte durch Eifersucht um seine Menschenwürde gebracht werden; sie konnte das Ebenbild Gottes zum reißenden Tiere verwandeln, das tötete – mordete. Courtien hatte von solchen Taten sinnloser Leidenschaft gehört, ohne sie zu begreifen. Das war früher gewesen. Seitdem hatte sich mit ihm eine Wandlung vollzogen, die bewirkte, daß er auch das Unbegreifliche begreiflich fand. Eigentlich geschahen merkwürdig wenig Untaten, wenn man das ganze ungeheure Gebiet der Leidenschaften in Betracht zog. Sinnlose Liebe zum Weibe sollte den Mann viel häufiger zum Mörder machen: entweder an dem Nebenbuhler oder an dem Weibe selbst!

Und der sinnlos Liebende versuchte, alles, was er jemals von derartigen Beispielen vernommen hatte, sich ins Gedächtnis zurückzurufen; alles in seinem eigenen Innern erlebend: vom ersten matten Erglimmen des mörderischen Gedankens bis zum furchtbaren Entschluß, bis zur entsetzlichen Tat. Er beging sie in seiner Einbildung, ohne Grauen, ohne Reue; stellte sich selbst dem Gericht und wurde gerichtet. Aber – keine Reue auch dann!

Wen würde er töten, wenn er so weit gebracht werden sollte? Den Mann oder das Weib?

Mußte der Mann nicht in Schuld verfallen durch des Weibes berückende Schönheit? Jeder, der die wunderschöne Frau sah, die wie ein Kind lächeln und wie ein Dämon küssen konnte, mußte sie lieben: grenzenlos, sinnlos, bis zum Verbrechen ... Der Mann sollte leben bleiben. Dann also – das Weib!

Um von ihr loszukommen, sie töten? Hand an ein Kunstwerk der Schöpfung legen, an des Schöpfers Meisterstück? ... Eher hätte er Leonardo da Vincis Mona Lisa die Brust durchstechen oder der Venus von Milo das Haupt abschlagen können. Aber – zurückschaudernd vor dem ersten Aufdämmern des Gräßlichen, begann seine Phantasie bereits damit zu spielen. Und es war die Phantasie eines Kranken!

Von seinem Fieber getrieben, beteiligte sich Courtien in wachsender Erregung aller Sinne krampfhaft an den Lustbarkeiten der Fremden, die diese bei Tag und bei Nacht in der glanzvollen Festhalte von Malojas Winterwelt und in den Prunksälen des Hotels veranstalteten. Von frühester Kindheit an geübt, auf Schneeschuhen über die gefrorenen Gefilde, über Höhen und Tiefen zu gleiten, erntete er die ungeteilte Bewunderung der Gäste. Er ward plötzlich ein anderer. Sein ihn verzehrender Liebesgram schien abgestreift; seine schwermütigen Augen leuchteten; er trug den Kopf hoch, schlug den Blick auf zum Himmel, dessen verlorener Sohn er geworden. Dionisio Fidora dagegen war in dieser auch den Traurigen frohmachenden Winterlust ein vollkommener Neuling: jenseits des Hochpasses konnten die Winter zwar hart sein, blieben jedoch fast schneefrei. Als der junge Lehrer sich daher zum ersten Male die Schneeschuhe anschnallte, war's ein Unternehmen, das dem Jüngling gefährlich werden konnte. Es ergab sich indessen zum allgemeinen Erstaunen, daß der »Welsche« nicht nur den Malojakindern eine heitere Jugendzeit geben, nicht nur Mandoline spielen, Liebeslieder und Choräle singen konnte, sondern er schleuderte auch auf dem Eise die schwere Holzscheibe wie ein griechischer Diskuswerfer und flog wie ein Norweger über den gefrorenen See bis tief ins Fextal hinein, oder der vereisten Orlenga entlang zum Cavalocciosee und den überschneiten Fornogletscher hinauf, in dessen behaglich durchwärmter Hütte die Gräfin Oberndorff die Herren und Damen des Hotels empfing wie in ihrem Pariser Salon. Wenn die elegante Gesellschaft an Vitals Futterplätzen vorübersauste, verscheuchte sie die hungrigen Gemsen, die gierig das für sie mit unendlicher Mühe freigelegte Gestrüpp benagten. Dann geschah es wohl, daß hinter den Fröhlichen die düstere Gestalt des durch den Pfarrer verjagten Gemeindejägers sich zeigte, eine drohend geballte Hand sich erhob, ein von Haß entstelltes Gesicht, mit Augen, vor deren Blick es zuzeiten wie Blut schwamm ...

Weihnachten nahte. Das heilige Fest sollte auch in der Hütte am Crap da Chüern gefeiert werden; denn die Gräfin versprach, dort am Nachmittag zu erscheinen. Abends mußte sie im Hotel sein, wo ein prächtiger Baum angezündet werden und eine reiche Bescherung für die Schulkinder stattfinden sollte. Bereits seit dem Herbst strickten die Damen an warmen wollenen Kleidungsstücken für die frierenden Kleinen. Das übrige und Hauptsächliche wollte man aus Sankt Moritz beschaffen. Natürlich begleitete der Lehrer die Kinder. Auch die Lehrerin durfte dabei sein.

Das war übrigens ein eigentümliches Frauenwesen! Nur wenige kannten sie. Wer sie in der Kirche sah oder ihr zufällig auf einem Spaziergange begegnete, stets auf den einsamsten Wegen, auf den machte das Mädchen starken Eindruck. Sie war sehr schön. Und sie war – Es ließ sich schwer sagen, was sie außerdem war. Fremdartig, obgleich eine Einheimische; unjugendlich, obgleich noch jung; Miene und Blick so umdunkelt, als könnte kein Sonnenglanz sie aufhellen. Sie schien immer allein zu sein; mutterseelenallein, wie man von solcher armen Seele sagt. Und mit diesem Wesen lehrte sie Kinder! Einer lebte in Maloja, der genaue Auskunft über sie geben konnte: war er doch der Jugendfreund des seltsamen Mädchens! Für die Lehrerin war er mehr. Sie sollte ihn lieben. Unglücklich natürlich! Denn Sivo Courtien –

Die Arme! Übrigens bekam sie Chancen! Denn Sivo Courtien –

Und man flüsterte, lächelte, zuckte die Achseln. Ja; und eines Abends wurde Sivo Courtien im Hotel wegen Maira à Mara förmlich zur Rede gestellt.

Auch der Lehrer war anwesend, so weltgewandt plaudernd, als wäre er nicht mit dem Ränzlein auf dem Rücken im Schweiße seines Angesichts angewandert gekommen, um das wenige Geld für einen Platz in der Post zu sparen. Plötzlich wandte sich eine Dame der Gesellschaft zu dem schweigend dasitzenden Maler und nannte ihm den Namen, der in seiner Gegenwart nicht genannt werden durfte: Maira à Mara.

Dionisio verstummte und schaute Courtien erwartungsvoll an. Das tat auch die Gräfin. Alle taten es; denn alle hatten gesehen, wie er bei Nennung des Namens zusammenfuhr. Alle sahen jetzt, wie er mit sich kämpfte, wie er litt. Er dauerte keinen. Dieser Mann hatte nichts an sich, was Mitleid erregte.

Unter den Blicken sämtlicher Anwesenden bezwang er sich. Er selbst sah von allen Gesichtern nur eines: das schöne, leuchtende Antlitz der geliebten Frau, auch in diesem Augenblick lächelnd, wo sie doch wußte, daß er Qualen ausstand. Seine Augen unverwandt auf die Gräfin gerichtet, daß alle es sehen mußten, beantwortete Courtien die an ihn gestellte Frage. Er sprach sehr langsam, sehr ruhig: »Über Maira à Mara wollen Sie von mir hören? Was soll ich Ihnen sagen? Ich müßte Ihnen eine ganze Geschichte erzählen, und ich bin ein schlechter Geschichtenerzähler.«

»Erzählen Sie! Wir werden an Ihren Lippen hängen! Bitten Sie doch auch, liebe Gräfin.«

Es wurde gerufen: »Bitten auch Sie! Wenn Sie Herrn Courtien bitten, wird er erzählen: die Geschichte von Maira à Mara. Der Name allein klingt wie ein Märchen.«

Der Blick, mit dem Courtien sie vor allen diesen Leuten betrachtete, reizte die Gräfin zu sagen: »Sie hören, was man von Ihnen verlangt. Auch ich soll Sie bitten: um die Märchengeschichte von Maira à Mara ... Also, lieber Freund –«

Diesmal durchfuhr Courtien bei diesem Namen nicht der brennende Schmerz wie sonst: war er doch seit langem andere Qualen gewöhnt! Qual wollte sie ihm auch jetzt bereiten, indem sie ihn aufforderte, vor allen diesen Leuten von Maira zu sprechen. Sie selbst bat ihn darum! Er wollte ihre Bitte erfüllen. Mochte sie zusehen, wie sie die Erfüllung ertrug. Also begann er: »Da ist hier, auf Maloja, hinter dem Monte Forno und Monte Sissone, ein gewaltiges Gletschergebirge, davon es unter uns Malojaleuten eine wilde Sage gibt. Sie mag ihren Ursprung in dem Unheil haben, das auf dem Unheilsberge häufig geschieht – häufiger als auf jedem anderen unserer Gipfel und Gletscher. Jedes Jahr verschlingen die Wogen seines Eismeeres unvorsichtige Bergwanderer; die Nebel, die aus den Schlünden aufsteigen, umhüllen den einsamen Steiger und führen ihn dem Abgrund zu. Selbst die Toten gibt der Monte della Disgrazia nicht wieder heraus. Und so sagt denn das Volk von Maloja –«

Noch immer wandte Courtien kein Auge von der Frau, die ihn bat, zu erzählen, und die seinen Blick lächelnd erwiderte. In diesem Augenblick haßten sich die beiden, die sich geliebt hatten.

Vor allen diesen Leuten erzählte Courtien weiter: »Das Volk von Maloja sagt von dem Berge: es sei das Haus eines wunderschönen Weibes, einer Unholdin, eines Dämons. Von Zeit zu Zeit steigt sie aus ihrem Eispalast zur Oberwelt, um sich unter den Söhnen des Engadin ein Opfer zu suchen; denn von Zeit zu Zeit muß sie eine Menschenseele haben, um sich unsterblich zu erhalten. Sie steigt empor, und der Gletscher beginnt zu singen, der Fels zu klingen. Sie lächelt zu der Musik des Berges. Ihr Lächeln loht und leuchtet über die Schneegefilde, webt Strahlen durch die Luft, glänzt und gleißt. Mit dem Glanz ihres Lächelns zieht sie den Mann zu sich ... Ich erzähle erbärmlich!«

»Wie ein Dichter ... Was aber hat das schreckliche Gletscherweib mit dem jungen Mädchen zu tun?«

»Sie werden gleich hören.«

»Erzählen Sie! Bitte. Bitte!«

Er sah Josette an ... Hätte sie ihm jetzt in die Augen gesehen, mit einem Blick, der ihn bat: ›Erzähle nicht weiter!‹ – vor allen diesen Leuten hätte er sie um Verzeihung gebeten ... Aber kalt, gleichgültig, fremd ruhte ihr Blick auf ihm. So erzählte Courtien denn weiter: »Eigentlich läßt es sich nicht erzählen! Man muß es erlebt haben.«

Und er gedachte des Grafen Oberndorff: wie der Mensch in seinem römischen Atelier vor ihm stand und ihn dafür pries, daß er das Gletscherweib vom Monte della Disgrazia nicht erlebt hatte. Es war der Mann, dem sich die wunderschöne Frau verkauft ... Seitdem hatte er der nämlichen Frau seine Seele verkauft, hatte er das Gletscherweib vom Monte della Disgrazia erlebt.

Er mußte weiter erzählen: »Da weilt man in dunkler Tiefe und sehnt sich hinauf zur Höhe, zum Licht, nach dem Gipfelglanz göttlichen Glücks. Man steigt empor, schaut den Schein, wird davon eingehüllt, davon umstrickt, wird hingezogen, wird hin abgezogen und ist allem Glanz und Glück, ist der Gottheit verloren.«

Courtien schwieg ... Vor allen diesen Leuten diese Geschichte, die seine eigene war, was alle diese Leute wußten! Er hatte seine eigene Geschichte erzählt, den Blick in den der Gräfin gebohrt. Und alle hatten es gesehen!

Es war ein Eklat!

Eines Dramas vierter Akt war's!

In der tiefen Stille, die zu unterbrechen niemand den Mut fand, ertönte plötzlich die Stimme des Erzählers von neuem: »Sagte ich nicht, der Mann wäre der Gottheit verloren? ... Er wurde der Gottheit gerettet! In der alten Malojasage heißt es nämlich: eines reinen Weibes Schwesterliebe könne den Mann aus dem Abgrund, darein seine Leidenschaft ihn gestürzt, zur Gottheit wieder emporziehen. Es müsse jedoch eine Liebe sein mit einem Glauben, der Berge versetzt; einer Kraft, die Wunder vollbringt; einer Stärke, die den Tod bezwingt ... Solcher Liebe würde das Mädchen, nach dem Sie mich fragten, fähig sein, wenn sie den Mann fände, der solcher Liebe wert wäre. Sie findet ihn nicht ... Gute Nacht, Herrschaften.«

Er ging.


 << zurück weiter >>