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21

Sivo Courtien war fort. Wenigstens ließ er sich nirgends blicken. Auch nicht im Hotel. Niemand sah ihn, niemand wußte von ihm. In der großen Fremdenherberge gab es viel Flüsterns.

Der Maler des Engadin war aus dem Engadin verschwunden ...

Die Gräfin Oberndorff erwartete ihn weder den ersten noch den zweiten und dritten Tag. Nach seinem brutalen Benehmen an jenem Abend war sein Ausbleiben natürlich: er hatte sie vor allen Leuten kompromittiert und scheute sich, sie wiederzusehen. Seltsamerweise fühlte sich Josette nicht beleidigt. Der leidenschaftliche Auftritt, der ein Ausbruch war, schmeichelte ihr fast, und das Urteil der Welt kümmerte sie wenig: hatten die Menschen sie doch gelehrt, das Urteil der Welt zu verachten.

Die Szene, die er ihr gemacht hatte und die seine tiefste Niederlage bedeutete, war ihr höchster Triumph – mochte man die Sache noch so »empörend taktlos« finden und die Urheberin des Auftritts noch so diskret bedauern. Im Grunde genommen war der Ruhm ihrer siegenden Schönheit dadurch nur gestiegen ... So konnte sie denken, konnte sie fühlen? Seit wann? Alle ihre Anschauungen hatten sich gewandelt. In ihrer Seele war etwas erstarrt. Nur so konnte es geschehen sein, daß sie das, was sie früher wie einen Schlag ins Gesicht empfunden hätte, jetzt fast wie ein Schmeicheln und Streicheln empfand. Und sie war sich dessen bewußt.

Indem sie über die Wandlung ihres ganzen Wesens in Sinnen verfiel, kam ein Zug um ihren Mund, ein Ausdruck in ihren Blick, der sie entstellte: etwas wie Hohn über das Erhebende, das Läuternde und Verklärende einer großen Leidenschaft; wie Spott über sich selbst, wie Selbstverachtung.

Als Courtien auch am dritten Tage nicht reumütig bei ihr erschien, begann sie ihn zu erwarten: am nächsten Tag kam er sicher! Unmöglich, daß er nicht kam. Er fühlte sich zu fest an sie gekettet, war mit jedem Hauch seiner Seele zu sehr ihr Eigentum. Eher konnte sich von der Margna der Gipfel lösen als er sich von ihr. Also mußte er wiederkommen! Wenn nicht am nächsten, so doch sicher am übernächsten Tag ...

Er kam auch dann nicht.

Jetzt wurde sie unruhig. Obgleich sie ihn nicht mehr liebte, er nur noch ihr »Freund« war und sie zu hundert Malen die Trennung gewünscht und bei sich erwogen hatte, wurde sie jetzt doch unruhig. Dieser Mann spielte in ihrem Leben, das sie bis zu ihrer Ankunft auf Maloja in einem Dämmerzustande hingebracht hatte, eine zu große, zu verhängnisvolle Rolle; denn er lehrte sie den Dämon der Leidenschaft kennen.

Vielleicht hatte er sich getötet? Um ihretwillen! Sie hatte ihn in den Tod gejagt! Diesen Mann, der ein Genius war, jagte seine Leidenschaft für sie in den Tod ... Wie oft geschah das! Sie wußte von Männern genug, die sich selbst getötet; Frauen genug, die den Mann in den Tod gejagt hatten. Wenn sie sich recht prüfte, so hatten derartige Liebesdramen für sie stets einen leisen Reiz gehabt ... Schließlich war erst solcher Liebestod höchste Liebesgewalt.

 

Heute begab sich die Gräfin nach Crap da Chüern, um selbst zu sehen und zu hören. Sie wollte Vital sprechen. Und dann nach den Bildern sehen. Alle Entwürfe und Skizzen, die Courtien von ihr gemacht hatte, die ganze Josettegalerie. Es befanden sich darunter Gemälde, auf die keine fremden Augen fallen durften, verräterische Zeugen ihrer grenzenlosen Hingabe an den Künstler.

Noch nie war die Gräfin diesen Weg gegangen, ohne sich von Courtien erwartet zu wissen. Wie erwartet! Wie ein verzückter Priester das Erscheinen der Gottheit erwartet. Und heute? Es erschien ihr unmöglich, daß er ihr nicht entgegengeeilt kam – mit einem Leuchten auf seinem vergrämten Gesicht. Bei jedem Schritt näher seinem Hause erwartete sie, ihn zu sehen.

Sämtliche Fensterläden des Hauses waren geschlossen, und geschlossen war die Tür. Tot lag das einsame Haus auf dem weißen Fels über dem weißen See: wie aufgebahrt. Tot auch sein Haus! Sie hatte auch seines Hauses Leben getötet. Welch traurige Leiche Sivo Courtiens armseliges Haus war!

Unentschlossen, was zu tun, stand sie davor ... Plötzlich vernahm sie, wie von innen aufgeschlossen ward. Ein schwerer Eisenriegel wurde klirrend zurückgeschoben ... Sie hatte es ja gewußt: er befand sich in dem toten Hause, er lebte! Er lebte, um wieder zu ihr zurückzukehren, von ihr sich wieder küssen zu lassen.

»Sivo!«

Nur Gian Vital trat aus der geöffneten Haustür, die er sogleich wieder hinter sich schloß. Ganz unnötigerweise pflanzte er sich mit seinem finsteren Gesicht breit davor auf, als wollte er ihr gewaltsam den Eingang verwehren.

Da er schwieg, mußte sie sprechen. »Courtien ist im Hause?«

Keine Antwort. Die Gräfin mußte fortfahren zu fragen: »Weshalb kommt er nicht zu mir?«

Keine Antwort. Sie verlor ihre Ruhe und rief: »Ich warte auf ihn seit Tagen.«

»Ich auch.«

»Das lügt Ihr.«

»Also lüg' ich.«

»Weshalb ist das Haus geschlossen, als ob – Laßt mich hinein!«

»Ich lasse niemanden hinein.«

»Auch mich nicht?«

»Gewiß nicht.«

»Er ist also im Hause?«

»Nein. Aber ich lüge vielleicht.«

»Wo ist er?«

»Fort.«

»Ihr wißt, wo er ist?«

»Ich weiß es.«

»Sagt's!«

»Nein.«

»Ich will's erfahren!«

»Dann lüg' ich eben.«

Sie mußte in anderer Weise mit dem Wildling reden: vertraulicher, aufrichtiger. So sagte sie denn: »Ihr wißt, daß er mich liebt?«

»Wer wüßt's nicht?«

»Vital, ich bin Eure gute Freundin. Auch das wißt Ihr.«

»Sie wollten mir Gutes erweisen und haben mir Böses angetan: das Böseste, das ein Mensch mir antun konnte. Ebenso machten Sie's mit Sivo Courtien.«

»Wenn sie Euch doch nun einmal nicht mehr will.«

»Dann freilich. Wenn sie mich doch nun einmal nicht mehr will –«

»Ich verspreche Euch, ihr zuzureden; ich werde –«

»Nichts werden Sie und nichts dürfen Sie! Da sie mich nun doch einmal nicht mehr will.«

Sie hörte seinen keuchenden Atem. Da bat sie noch einmal: »Wo ist er? Sagt mir's. Ich will zu ihm.«

Da sagte ihr Vital: »Weil Sie mir Gutes erweisen wollten, werden Sie von mir nicht erfahren, wo er ist; denn Sie sollen keine neue Schuld auf sich laden.«

»Ist es meine Schuld, daß er –«

Aber sie verstummte unter des Türhüters Blick.

Nach einer Weile begann sie von neuem: »Verschweigt mir also seinen Aufenthalt. Was tut das? Er kommt ja doch wieder zurück.«

»Zu Ihnen?«

»Gewiß, zu mir.«

»Er darf nicht zu Ihnen wieder zurückkommen!«

»Wollt Ihr ihn hindern?«

»Ich? ... Nein.«

»Also!«

»Courtien hindern, zu Ihnen zurückzukehren, wird jemand anders.«

»Maira?«

»Maira à Mara!«

Immer wieder dieses Mädchen! Josette fand keine Erwiderung. Sie mußte ihre ganze Weltdamengewandtheit aufbieten, um die heftige Wallung zu bezwingen. Welche Demütigung, wenn dieser Mensch ihr anmerken sollte, was in diesem Augenblick durch ihre Seele ging. Demütigte es sie doch genug vor sich selbst ... Als sie sich gefaßt hatte, stellte sie ihre letzte Frage: »Werdet Ihr Euren Freund sehen?«

»Vielleicht.«

»Solltet Ihr ihn sehen, so sagt ihm –«

»Nicht eine Silbe.«

»Sagt ihm von mir, daß ich in seiner Heimat auf ihn warte: so lange, bis er zurückkommt – wenn auch nicht zu mir.«

»Warten Sie also.«

Damit trat er ins Haus zurück und schloß hinter sich zu. Sie hörte, wie der schwere Eisenriegel klirrend vorgeschoben ward ... Länger vor dem toten Hause stehenzubleiben, hatte keinen Sinn. Also ging sie. Immerhin hatte sie das eine erfahren: Er lebte!

Da er lebte, so würde er zurückkehren: zurück nach Maloja, zurück zu ihr!

Wenn aber nicht zu ihr? ... Nun, dann –

Schon einmal war sie nach Sivo Courtiens hohem Hause unterwegs gewesen. Nur daß sie dieses Mal den Weg nicht bei Nebel gehen würde.

 

Als die Gräfin vom Crap da Chüern zurückkehrte, begegnete ihr Dionisio Fidora und grüßte sie ehrfurchtsvoll. Sie wollte an dem jungen Menschen vorübergehen. Da er jedoch gesehen haben mußte, woher sie kam, so sprach sie ihn an. Es kostete sie Überwindung. Des jungen Mannes respektvoller Gruß erschien ihr wie Hohn: ›Er entgeht dir doch!‹

»Ich war am Crap da Chüern, um mich selbst bei Vital nach Courtien zu erkundigen.«

»Courtien ist fort.«

»Ich weiß.«

»Natürlich kommt er bald wieder.«

»Vielleicht.«

»Sicher.«

»Jedenfalls bleibe ich hier.«

»Um ihn hier zu erwarten?«

»Ja ... Sie erhielten doch die Einladung für unsere Christbescherung am Weihnachtsabend?«

»Jawohl.«

»Auch Ihre Kollegin kommt.«

»Sie wird sich sehr freuen.«

»Glauben Sie?«

»Nun ja.«

»Sie wissen sehr genau, daß Fräulein Maira lieber die große Margna bestiege, als zu uns ins Hotel hinabzukommen.«

»Allerdings –«

»Warum sagen Sie also, was nicht wahr ist? Warum sagen Sie es mir?«

»Wenn gnädige Gräfin befehlen – ich kann auch aufrichtig sein. Übrigens ist schließlich alles konventionelle Lüge.«

»Alles?«

»Sehr vieles.«

»Also lügen Sie einmal nicht konventionell.«

»Gnädige Gräfin beehren mich mit Ihrem Vertrauen.«

»Durchaus nicht. Ich will Sie nur fragen, was Sie von Sivo Courtien wissen?«

»Nur, daß er in der Tat fort ist.«

»Sehr plötzlich, in der Tat ... Sie wissen wirklich nicht mehr?«

»Ich weiß noch mehr.«

»Wenn Sie mir's sagen können, so –«

»Gewiß. Fräulein Maira macht durchaus kein Geheimnis daraus. Sivo Courtien selbst übrigens auch nicht.«

»Woraus kein Geheimnis?«

»Nachdem Sivo Courtien der Gesellschaft im Hotel seine Geschichte erzählt hatte ... Ich fand sie, nebenbei gesagt, etwas sehr phantastisch.«

»Fanden Sie?«

»Der Herr ist eben nicht nur ein großer Maler, sondern auch ein großer Dichter.«

»Vor allem ein großer Mensch.«

»Vor allem! ... Als er dann so überraschend, so plötzlich aufbrach, begab er sich nicht nach Hause.«

»Sondern?«

»Hinauf.«

»Woher wissen Sie das?«

»Ich sah ihn von seiner Freundin fortgehen: nach Mitternacht. Sie begleitete ihn, kam erst am Morgen von ihm zurück.«

»Auch das wissen Sie?«

»Auch das ... Gleich am nächsten Morgen war er fort.«

»Er suchte seine Freundin noch in der Nacht auf, um ihr zu sagen –«

»Um von ihr Abschied zu nehmen. Es kann auch anders gewesen sein.«

»Inwiefern?«

»Es kann gewesen sein, daß sie ihn zum Fortgehen bewog.«

»Ach so ... Sie könnten recht haben! Erst sie wird ihn – Denn er – Ich danke Ihnen.«

»Es war, wie gesagt, kein Geheimnis. Ich war also nicht indiskret.«

»Durchaus nicht ... Sie machen einen Spaziergang?«

»Ich wollte nach Sils Maria ... Darf ich gnädige Gräfin nach dem Hotel begleiten?«

»Ich will Sie nicht aufhalten ... Wir bekommen wieder einen herrlichen Tag. Dieser Malojawinter ist ein Schneewunder und Sonnenzauber zugleich.«

Sie grüßte ihn, wie eine große Dame einen kleinen Schullehrer zu grüßen pflegt. Noch niemals hatte die Gräfin Oberndorff den jungen Mann, den die vornehme Hotelgesellschaft gütigerweise akzeptiert hatte, so herablassend gegrüßt. Sein Gegengruß war um so ehrfurchtsvoller ... Dann stand Dionisio Fidora auf der Landstraße und sah der schönen Frau nach. Langsam, wie lustwandelnd, setzte sie ihren Weg fort. Bekannte aus dem Hotel kamen ihr entgegen. Die Herrschaften blieben stehen, plauderten, lachten. Dionisio hörte die Sirenenstimme der Gräfin, hörte ihr Nixenlachen, sah sie von Sonnenglorie umglüht und murmelte: »Grüße mich nur wie einen Lakaien, nachdem du mich benutzt hast! Wirf mich nur fort wie einen schlechten Handschuh! Ich habe dich heute doch gedemütigt! Gedemütigt mit ihr! Mit dieser kleinen Dorfschullehrerin, gegen deren Frauenherrlichkeit deine ganze Weltdamenmajestät verblaßt. Halte uns nur für Plebejer, für Proletarier. Die Stunde wird doch für uns schlagen, wo wir – wir die Großen, Mächtigen, Herrschenden sind.«

Und der junge Volksschullehrer, der im Grunde seines Herzens ein wütender Anarchist war, lachte, der Gräfin Oberndorff nachschauend, auf offener Landstraße ein Lachen, das sein dionysisches Antlitz entstellte.


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