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3

An demselben Tage, an dem die schöne Gräfin unbekümmert um die Gefahr, über den von Lawinen bedrohten Albulapaß in das noch fremdenleere Engadin fuhr, schritten auf Maloja ein hochgewachsener, jugendlicher Bergsteiger und ein der aufrechten Gestalt ebenbürtiges junges Mädchen durch die von blühenden Nelken rosig gefärbte Seewiese dem alten Dorfkirchlein zu. Die beiden paßten in die große Alpenlandschaft, in eine Welt von Fels und Firn, von Schweigen und Einsamkeit: ein Mann und ein Weib, für solche starre und stolze Natur geschaffen, also füreinander geschaffen. Aus beider Mienen sprach eine leidenschaftliche Willenskraft. Beider Augen hatten einen schwermütigen, fast düsteren Ausdruck, und den Mund zeichnete ein gemeinsamer Zug, als könnten diese zwei Menschen weder scherzen noch singen. Auch nicht lächeln.

Das Haupt trugen beide hoch, den Gipfeln, der Sonne zugewendet. Es waren Menschenhäupter, die kein Sturm – und brauste er auch aus dem Bergell als wütender Föhn herauf – zu beugen vermochte.

»Du willst schon jetzt fort und hinauf?«

Das Mädchen stellte die Frage. Ihre Stimme klang herb, fast hart. Daß diese Frauenstimme einen weichen oder gar einen zärtlichen Ton haben, daß sie Liebesworte flüstern, einen Laut des Entzückens stammeln könnte – das sich vorzustellen war die Phantasie des Mannes außerstande. Übrigens kam es ihm nicht in den Sinn, seine Einbildungskraft dafür anzustrengen. In seiner Stimme lag etwas von der Ungeduld, von der Sehnsucht, die er empfand, »fort und hinauf« zu kommen, als er der Fragenden zur Antwort gab: »Heute will ich nur nachsehen, wie lange ich noch warten muß, bis ich das Haus beziehen kann.«

»Du wirst dich nach dem Hause durch den Schnee graben müssen.«

»Was tut das?«

»Nichts.«

Sie schwiegen. Dann nach einer Weile der Mann: »Diesen Winter bleibe ich überhaupt droben, lasse mich einschneien und male den ganzen Winter über an meinem Bilde.«

»Du willst etwas Unmögliches.«

»Ich will das, was ich kann.«

»In deiner Kunst gewiß. Aber den ganzen Winter über in der Gletscherhütte –«

Heftig rief der Mann, der alles konnte, was er wollte: »Würdest du dich etwa um mich sorgen, daß ich dort oben verhungern, erfrieren oder lebendig begraben werden könnte?«

Um des Mädchens Mund zuckte eine plötzlich aufsteigende starke Empfindung. Sie bezwang sich jedoch und sagte in ihrer gewöhnlichen ernsthaften Weise: »Jedenfalls dürfte meine Sorge dich nicht abhalten, zu tun, was du für das Richtige hältst.«

»Du brauchst keine Sorge zu haben; denn du weißt eines.«

Er sagte ihr nicht, was dieses eine sei. Sie wartete eine Weile, fragte ihn alsdann und erhielt zur Erwiderung: »Du weißt, daß ich ein Gefeiter bin. Ehe ich mein Werk nicht vollendet habe, kann mir nichts geschehen. Auch nicht dort oben in Todesgefahr. Das weißt du. Wer könnte es besser wissen?«

»Ja.«

Kein weicher Ton in dieser herben Stimme! Aber wie das Mädchen das eine kleine Wort aussprach: die Bestätigung ihrer unerschütterlichen Zuversicht zu ihres Freundes Unüberwindlichkeit, klang ihr »Ja« wie ein feierliches Bekenntnis: »Ich glaube an dich!«

Die beiden hatten sich zufällig am Seeufer bei den Hütten von Cresta getroffen. Maira befand sich auf dem Spaziergang, den sie, bevor sie ihre Lehrtätigkeit begann, Winter und Sommer bei Wind und Wetter an jedem frühen Morgen unternahm; Sivo war unterwegs vom Crap da Chüern nach dem Cavalocciosee, um in der Ausrüstung eines Hochtouristen nach den Schneeverhältnissen des Fornogletschers zu sehen. So waren sie denn miteinander weitergegangen: den nämlichen schmalen Wiesenpfad, der sie als Kinder jeden Sonntag in das Kirchlein zum Hochamt geführt hatte. Ihre dunklen Gestalten schienen über der Nelkenblüte auf einer rosenfarbenen Flur zu wandeln, die der Morgenwind leise bewegte. Das Spiel gelber Schmetterlinge umgaukelte, die Musik summender Insekten umtönte sie. Von der smaragdgrünen Fläche des Malojasees, aus den Schluchten des Piz Materdell brauten von der Sonne durchstrahlte Nebel auf, und aus dem leuchtenden Dunst des jungen Tages streckte die große Margna ihr schneeiges Haupt in den Azur des Himmels, der über kein Alpental der Schweiz mit solchem Glanz sich spannt wie über das Engadin.

Courtien blieb stehen, das Schauspiel der hin- und herwogenden Nebel beobachtend. Seine Züge nahmen dabei einen gespannten, gequälten Ausdruck an, als müßte er mit seinem Blick das Geheimnis ergründen: wie seine Hand diese wogenden und wallenden, diese flutenden und flatternden, bald auseinanderströmenden, bald ineinanderrinnenden Dämpfe und Dünste auf die Leinwand bannen könnte. Maira stand daneben, schweigend und scheinbar gleichgültig. Aber auch in ihre Züge kam etwas von dem gequälten Ausdruck in dem Gesicht ihres Jugendfreundes ... Nach einer Weile setzte der seinen Weg fort; doch schien er im Geiste noch immer mit dem Problem beschäftigt, wie das Hin und Her, das Auf und Ab der brauenden Nebel auf der Leinwand darstellbar sei.

An dem Waldkirchlein vorüber gelangten die beiden nach dem Kirchhof Malojas. Das war eine trostlose und zugleich herrliche Stätte: trostlos durch ihre Verwahrlosung, ihre Verlassenheit; herrlich durch ihre Einsamkeit und Feierlichkeit. Es war ein grüner Platz, von einer bröckelnden Mauer umfriedet, von Arven, Wacholder und Alpenrosen überwachsen, mit einigen morschen schwarzen Kreuzen und versinkenden Grabsteinen inmitten der schimmernden Pracht von Schneegipfeln und Gletschern.

Beide hatten an dieser Stätte denselben Gedanken. Er betraf jene zwei Gemälde Sivo Courtiens: »Totenvolk von Maloja.« Das eine Bild in phantastischem Knabenspiel auf der hartgefrorenen, winterlichen Schneefläche umrissen; das andere in Farben auf Leinwand: das erste bewußte Werk des jungen Künstlers, die Offenbarung eines Genies, leidenschaftlich bewundert, leidenschaftlich getadelt und schließlich preisgekrönt. Des Mädchens Seele hätte bei dieser Erinnerung an die Vergangenheit stiller Stolz, ein geheimes, großes Glück bewegen können: ›Du hast ihn auf den Weg gebracht! Und es ist ein Weg zur Höhe, zum Gipfel empor!‹ Sie hatte jedoch niemals an sich selbst gedacht, würde niemals an sich selbst denken. Daß seine jetzige ernsthafte Begleiterin es gewesen war, die seine ersten künstlerischen Schritte geleitet hatte, fiel auch Sivo Courtien nicht ein, der niemals an andere, sondern immer nur an sich selbst dachte, vielmehr: immer nur an seine Kunst; denn diese war er selbst. Aber der sonst so verschlossene Mann wurde durch seine Gedanken bewogen, von sich zu reden: zu dem Mädchen, dessen Mund kein Liebeswort sprechen konnte: »Sie wollen mich nicht. Ich bin ihnen zu besonders, zu abgesondert. Ein Einsamer bin ich. Einer, der mit ihnen nichts gemein hat – nichts gemein mit der Herde. Sie hassen mich und möchten mich am liebsten aus der Welt schaffen. Ich bin für sie ein Sturmbringer, Umstürzler, Empörer. Weil ich nicht zu ihren Götzen bete, soll ich keinen Gott haben. Ich werde ihnen den Gott zeigen!«

»Ja.«

Auch dieses Mal sprach die Lehrerin von Maloja das vielsagende kleine Wort durchaus einfach und selbstverständlich, dabei auch dieses Mal so feierlich wie ein Kredo. Courtien fuhr fort, aus seinem Innersten zu sprechen. Die Leidenschaftlichkeit seiner Empfindung bebte in seiner Stimme, flammte in seinem Blick: »Aus der Tiefe stieg ich hinauf: über Schneefelder und Gletscher zu Gipfeln. Dort baute ich mir das Haus. So einsam und stolz gründete sich niemals ein Mensch seine Behausung. Es gibt auf Erden kein königlicheres Wohnen, den Adler als meinen Mitbewohner, als Gefährten die Winde, die Wolken und alle Gestirne. Was ich dort oben erlebe, stelle ich dar. Ich male, was ich sehe, wie ich es sehe. Sie schreien über mich; denn sie sehen mit ihren Augen und ihrem Geist, der ein Geist der Tiefe ist. Auf meinem Gemälde lasse ich die Berge des Engadin aufsteigen; ich lasse die Lüfte des Engadin um die Gipfel blauen, die Sonne des Engadin leuchten. Sie sind nicht imstande, es mir nachzumachen; und weil sie das nicht vermögen, gelte ich ihnen als Sturmbringer, Umstürzler, Empörer. Deshalb hassen sie mich. Aber ebensosehr wie sie mich hassen, fürchten sie mich; denn sie sind schwächer als ich.«

»Du bist stark!«

»Und wodurch bin ich das?«

»Wodurch –«

»Du bist der einzige Mensch, der es wissen müßte.«

»Weil ich dich kenne!«

»Weil du das nämliche bist.«

»Das nämliche wie du?«

»Ein eben solch einsamer Mensch.«

»Dann wäre ich eine schlechte Lehrerin. Ich muß von Kindern umgeben sein.«

»Auch deine Kraft besieht in der tiefen Einsamkeit deiner Seele. Diese behältst du für dich. Den Kindern gibst du nur einen kleinen Teil deines Wesens.«

Als müßte sie sich dagegen verteidigen, daß sie Sivo Courtien ähnlich sei, rief das Mädchen: »Es muß mein bester Teil sein, den ich den Kindern gebe.«

Durch das in verrosteten Angeln hängende hölzerne Tor traten die beiden in den Kirchhof, diesen Totengarten der Alpenwildnis. Sie standen auf demselben Platz, wo sich auf dem preisgekrönten Gemälde des Engadiner Malers das Grab des neuvermählten Geisterpaares öffnete: der kranzlosen Braut und des Bräutigams mit der Todeswunde auf der Stirn – Maira à Mara und Sivo Courtien: Es lag mit den Häupten der Kirche und dem See von Maloja, mit den Füßen dem sonnigen, wonnigen Süden zugewendet: dem in weicher Schönheit prangenden Bergell.

Hingerissen von der Macht des Augenblicks wagte Maira die Frage nach Courtiens neuem, großen und so geheimnisvollen Werk, daran er bereits zwei Sommer in seinem Alpenhause malte: hoch über dem hohen Maloja, auf einem Felseneiland, einer sogenannten Isola inmitten des Gletschermeeres, das mit erstarrtem Wogenschlage die Gipfelgruppe des Monte Sissone und Monte della Disgrazia umwogt.

»Mein neues Werk? Es ist mein Lebenswerk. Du sollst es sehen.«

»Ich darf zu dir kommen?«

»Eines Tages, wenn ich dich rufe ... Du allein darfst zu mir kommen! Von allen Menschen nur du: die Einsame zu dem Einsamen.«

Es überlief sie bei seinen Worten. Eines Tages würde er sie rufen; sie, als einzige ... bei ihm bleiben zu dürfen; immer, immer bis zur Todesstunde! Sie als einzige, die Einsame bei dem Einsamen ... Aber selbst ihre Stimme zwang sie zur Ruhe, als sie sich erkundigte: »Wann wird dein Bild fertig sein?«

»Fertig? Vielleicht in einem Jahr; vielleicht in fünf, sechs Jahren. Vielleicht niemals.«

»Dein Lebenswerk niemals fertig! Dann bliebe dein Leben selbst unvollendet.«

Jetzt klang es aus der ruhigen Frauenstimme wie geheime Angst. Schwer und langsam gab Courtien zur Antwort: »Es wird vollendet werden.«

»Da du es vollenden willst ... Gabst du deinem Gemälde bereits einen Namen?«

»Alpentragödie.«

»Es klingt groß.«

»Es ist groß!«

Sie bat ihn: »Wenn du mir erzählen könntest –« Und er erzählte ihr – auf dem Kirchhof von Maloja, an der nämlichen Stelle, wo seine gewaltige Phantasie für sie beide, die sich im Leben nicht angehören sollten, das gemeinsame Grab bereitet hatte. Zu ihr sprechend, sprach er jedoch nur zu sich selbst:

»Eine Riesenleinwand! Michelangelo hätte daran seine Freude gehabt und sie für eine weiße Wand genommen. Die Tragödie der Alpen des Engadin, Malojatragik: die Welt von dort oben, wo es kein Menschengeschlecht gibt. Es ist eine Welt, in der das Menschengeschlecht, wenn es mühselig herauskriecht, Gewürm gleicht; ist die vereiste Welt des letzten Tages, des Weltuntergangs.

Eine Vollmondnacht ist's, und Sturm braust auf. Er treibt ein Gewitter vor sich her, reißt Nebel aus den Schluchten, jagt sie zu den Gipfeln empor, über den Mond hinweg.

Es sind die aufsteigenden, jagenden Nebel, deretwillen ich das Bild male.

Man muß sie nämlich aufsteigen sehen!

Jetzt umziehen sie einen Grat, umhüllen einen Gipfel, bedecken einen Abgrund – jetzt lichtet sich das dunkle Gewölk, zerreißt, wallt weiter, einem anderen Grat, einem anderen Gipfel, anderen Abgrund zu, neue Nebelnacht verbreitend.

Aus der Wetterwolke, die über den Mond hintreibt, zuckt ein Blitz. Du mußt auf den Donner lauschen; mußt glauben, ihn zu hören ...

Und siehe – in dieser zu Eis erstarrten, ungeheuerlichen Welt, in dieser sturmdurchrasten, blitzdurchzuckten, gespenstigen Mondnacht ein atmendes Wesen, ein Mensch.

Er scheint auf Erden der letzte Mensch zu sein, kämpfend mit den Elementen, mit den Göttern.

Eismauern vor ihm, hinter ihm. Abgründe neben ihm. Wenn der Sturm die blitzschleudernde Gewitterwolke über ihm nicht herabreißt, kann er Sieger werden. Aber der Sturm zerrt den schwarzen Himmel auf die weiße Erde nieder, peitscht die verderbenbringenden Dünste auf den Einsamen zu. Sie werden ihn einhüllen, zudecken, begraben.

Und ich sage dir: du mußt das alles vor deinen Augen sich erfüllen sehen, mußt meine Alpentragödie erleben.«

 

In diesem Ausbruch seiner im Innersten verschlossen gehaltenen leidenschaftlichen Empfindung sprach sich der ganze Mensch aus: Sivo Courtien, mit den Augen des Sehers sein Werk erfüllt schauend, sein »Lebenswerk!«; Sivo Courtien, der als Kind die Schneeflächen seiner Heimat zu seiner Zeichentafel gemacht hatte; der als Künstler die Berge seiner Heimat, die Lüfte und die Sonne des Engadin darstellte in einer Wirklichkeit, daß es die Menschen erschreckte und sie seine Schöpferkraft scheuten. Es war der Ausbruch des Übermenschen Sivo Courtien, der über Gletschern wohnte und in seiner Königseinsamkeit des liebenden Weibes zur Gefährtin, zur Gehilfin nicht bedurfte.

Der Menschen und der Götter nicht bedurfte! Nur der göttlichen Natur, die er auf seiner Leinwand wiederschuf: eine Natur, die ihm gleich war.

Sein südlich blasses Gesicht mit den lichten, sprühenden Augen, umrahmt von der Wirrnis schwarzen Haares und dem wallenden Mosesbart, ließ ihn in diesem Augenblick wie den dämonischen Genius des Ortes erscheinen. Das junge Weib, dessen Liebe und Leben Sivo Courtien nicht bedurfte, stand bei ihm und schaute ihn aus tiefen Augen schweigend an. Dann sagte die Liebende leise: »Gehören zu einer Tragödie nicht zwei? Du hast auf deinem Gemälde nur einen: nur den Mann.«

»Nur ... Gerade, daß es nur der Mann ist, macht mein Bild zu einem Drama. Verstehst du das nicht?«

»Vielleicht werde ich es später verstehen.«

»Sicher wirst du das. Nicht einmal das Gletscherweib darf den Mann aus seiner Einsamkeit fortlocken. Ewiges Eis, Felsenmauern und Abgründe; Sturm, Gewitter und Gewölk sind die Gewalten, mit denen er ringt. Es ist ein Titanenkampf.«

Maira, ihm in die Augen sehend, sprach seine Worte nach: »Nicht einmal das Gletscherweib ... du maltest es damals in Rom.«

»In Rom ... Damals.«

»Es ist dein bestes Bild. Du willst es jedoch nicht ausstellen?«

»Nein.«

»Auch nicht verkaufen, obgleich –«

Sie schwieg und wandte sich von ihm ab.

Sivo sprach für sie weiter: »Du meinst: obgleich es mir gewaltig not täte ... Das Bild ist unverkäuflich.«

»Du machtest Schulden, um dein Gletscherhaus bauen zu können.«

Er fuhr auf.

»Ich verkaufe nicht, was ein Stück von mir selbst ist.«

Da schaute sie ihn wieder an: »Ist das Gletscherweib ein Stück von dir selbst?«

»Etwas davon war einmal in meiner Seele. Ich riß es heraus. Immerhin ... zehnmal hätte ich das Bild hergeben können: für viel Geld. Schon damals in Rom. Aber welcher Künstler verkauft, was Seele von seiner Seele ist?«

»Dann wirst du niemals ein Bild verkaufen. Deine Alpentragödie am wenigsten.«

Leidenschaftlich rief der Künstler: »Daran denke ich auch nicht. Nicht an Verkauf! Willst du etwa, daß ich daran denken soll?«

»Gewiß nicht. Aber –«

Er ließ sie nicht ausreden.

»Erinnere dich an mein ›Totenvolk von Maloja‹.«

Als ob sie das jemals vergessen könnte! Vergessen, daß er sein Bild, das den Kantonspreis erhalten, gleich darauf selbstmörderisch zerstört hatte. Überwältigt von der Erinnerung rief Maira aus: »Es war grausam gegen dich selbst!«

Er aber triumphierte, als hätte er mit der Zerstörung seines Bildes eine große Tat begangen: »Ich zerstörte mein Werk, weil mein Vaterland es nicht haben wollte. Zuerst machen sie davon ein Geschrei, und dann wollen sie es nicht! Ich hätte es ihnen schenken können. Denn geschenkt hätten sie es genommen, die Krämerseelen! Ich weiß, was du sagen willst: daß es Totschlag war. Es ist jedoch barmherziger, sein Kind totzuschlagen, als es betteln gehen zu lassen. Was übrigens meine Schulden betrifft – Arnold Böcklin gab mir und gibt mir. Ich bezahle ihm meine Schulden mit meinem Gemälde, mit meiner Alpentragödie. Für mich male ich sie und ihm soll sie gehören. Inzwischen hungere ich, wenn es sein muß. Was tut das? Arnold Böcklin versteht mich – er! Ist das ein Kerl – Herrgott! Ein ganzer Künstler und ein ganzer Mensch! Von einem solchen zu nehmen ist keine Schande. Das macht im Gegenteil stolz. Er glaubt an mich. Erst vorige Woche schrieb er mir: ich sollte an nichts anderes denken als an mein Bild, und malte ich zehn Jahre lang daran. Wenn es fertig ist, will er dafür in Zürich ein eigenes Haus bauen lassen ... Mein Bild fertig! Aber daran will ich nicht denken! Arbeiten will ich – malen. Diesen Herbst lasse ich mich oben einschneien. Und dann – eines Tags –, wenn ich dich brauchen sollte ... Würdest du kommen?«

»Ja.«

»Durch Schnee und Eis; über Gletscherspalten und Abgründe; durch Sturm und Nebelnacht, Verderben und Todesgefahr kämst du herauf zu mir, wenn ich dich rufe?«

»Ich komme.«

Er näherte sein Gesicht dem ihren und prüfte mit seinem Adlerblick jeden Zug ihres Gesichts. Nach einer Weile schweigenden Anschauens sagte er leise, wie staunend: »Ich glaube wahrhaftig, du kämst.«

Und als sähe er sie zum erstenmal, rief er plötzlich: »Weißt du eigentlich, daß du schön bist?«

Innerlich erbebte sie. Aber ihre Stimme klang wie immer, als sie die einfache Antwort gab: »Ich weiß es nicht, freue mich jedoch, wenn du es findest.«

Courtien war nicht so leicht beruhigt. Kein Auge von ihr lassend, bemerkte er: »Schöner bist du als selbst das Gletscherweib. Freilich ist deine Schönheit von ganz anderer Art. Immerhin hätte ich sie früher sehen müssen.«

»Weshalb hättest du das?«

»Weil ich ein Künstler bin ... Aber hier stehen wir und schwatzen, und ich muß mich durch den Schnee zu meinem Hause hinaufgraben.«

»Verzeih, daß ich dich aufhielt. Du läßt dich doch vom Kapuzinerjäger begleiten?«

»Von dem seltsamen Heiligen! Wenn ich ihn in seiner Zelle nur antreffe. Das ist auch einer!«

»Ein Echter und Rechter! ... Guten Berggang, Sivo!«

»Du gehst nun und lehrst die Kinder?«

»Für mich ein großes Glück.«

»Schon als Kind träumtest du davon. Dein Kindertraum hat sich erfüllt.«

»Ja, Sivo.«

»Und warum hat er sich erfüllt?«

»Warum?«

»Weil du es wolltest. Das eben ist es mit dir und mir: dein Wille und mein Wille sind Geschwister.«

Dabei lächelte er. Niemals zuvor hatte die Lehrerin von Maloja ihren Jugendfreund lächeln sehen. Aber selbst das Lächeln dieses Mannes war traurig.

 

Sivo Courtiens Lächeln in der Seele, setzte ihren Weg allein fort: scheinbar ruhig, als hätte sie heute nicht das Größte ihres ganzen Lebens erfahren. Er sprach zu ihr aus seinem Innersten heraus: von seiner Kunst, seiner geheimnisvollen Arbeit, seinem Lebenswerk. Eines Tages durfte sie zu ihm kommen: über Abgründe, durch Sturm und Gewitter, Nebelnacht und Todesgefahr. Zu ihm kommen durfte sie, wenn er sie rief. Aber – würde er sie rufen? Und wann?

Gewiß erst nach langer Zeit.

Er fand sie schön. Zum erstenmal sah er heute, daß sie schön war ... Seltsam, daß sie schön sein sollte ... Ihr Wille und sein Wille waren Geschwister. Also waren ihre Seele und seine Seele Geschwisterseelen. Ihre Seelen waren vereinigt – wenn er auch nicht ihrer Liebe und ihres Lebens bedurfte.

Des eben Erlebten gedenkend, überkam sie ein Gefühl, als müßte sie den Gipfel des Maloja ersteigen und, dort oben stehend, beide Arme aufheben, um in Sonnennähe das Wort zu jubeln, das niemals über ihre Lippen kommen durfte: das Geständnis ihrer Liebe, das sie nicht einmal sich selbst abzulegen wagte. Und es war doch eine Liebe, die sich zum Opfer dargebracht hätte, ohne nur zu wissen, daß es ein Opfer war: ein Menschenopfer, bei dem Herzblut floß.

Inmitten der Nelkenflur blieb sie stehen und sah vor sich hin mit einem Blick, in dem ein stiller Glanz lag. Plötzlich bückte sie sich und pflückte Blumen – einen großen Strauß. Das hatte sie seit ihren Kinderjahren nicht mehr getan: nicht mehr seit jenem Winter, in dem sie Sivos Schneegemälde mit immergrünem Alpenkraut heimlich bekränzt hatte. Ohne an ihrem Wege eine Blume zu pflücken, war sie ihren einsamen Pfad durch das Leben gegangen. Das fiel ihr erst ein, als sie den rosigen Strauß, von dem ein schwerer Wohlgeruch ausging, in Händen hielt. Ihr ganzes Wesen erglühte. Plötzlich entfielen ihr die Blumen. Sie schlug beide Hände vor ihr Gesicht und ließ das Wundersame über ihr Gemüt hingehen wie einen Sturm. Als sie die Hände wieder sinken ließ, waren ihre Züge still und streng wie immer. Aber sie war sehr bleich.

Dann ging sie weiter durch den Frühlingstag, das Leuchten der Malojafirnen, den Glanz der Malojalüfte über ihrem Haupte. Und wie Strahlen von oben herab quollen durch ihre Seele die Gedanken: ›Schön findet er mich. Seine Künstleraugen sehen eben an mir etwas, das sonst niemand sieht. Ich bin glücklich. Es ist doch etwas Wundersames um das Leben.‹

Jetzt lächelte auch sie, wie vorhin Courtien gelächelt hatte. Aber auch über ihrem Lächeln lag es wie ein Schleier, wie der Morgendunst über den Wassern des Malojasees, diesem leuchtenden, die Schönheit der Welt spiegelnden Auge der Alpen.

Maira erhob sich über ihre Gedanken, die mit ihr selbst sich beschäftigten. Des Freundes gedachte sie, der Arbeit, die sein Lebenswerk war: ›Alpentragödie‹ – ›Wie er aussah, als er mir den Namen nannte! Wie von einer inneren Sonne durchleuchtet. Das ist seine Künstlerkraft ... Dort oben will er sein Werk vollenden: in der Urwelt, am Herzen seiner Heimat, wo diese am einsamsten und unnahbarsten, also am göttlichsten ist. Es ist ein Gottversuchen. Und wenn er nun nicht ... Daran darf ich nicht denken: er vollendet dort oben sein Werk! Wenn ich Zweifel daran hege, begehe ich ein Verbrechen an seinem Genius. Er will sein Werk vollenden; also wird er es. Wer auf der Welt könnte das verstehen, wenn nicht ich, die ich von seinem Willen, von seiner Seele bin. Sollte es daher geschehen, daß sein Wille dort oben in der grauenvollen Einsamkeit schwach und krank wird, so habe ich meinen Willen, der ihm helfen wird, den seinen wieder stark und machtvoll zu machen ... Was denke ich nur heute? Sein Wille schwach und der meine eine Kraft, die ihn unbezwinglich machen soll! Ich glaube, das Glück dieses Tages stieg mir zu Herzen, daß sein heißer Schlag mir die Besinnung nimmt.‹

Sie näherte sich dem Dorfe. Neben den Hütten, die schon die Vorfahren der Leute von Maloja errichtet, in deren Mauern viele Geschlechter des Alpenvolks dem Wüten des Föhns und dem Wintergrausen getrotzt hatten, wurden stattliche Neubauten aufgeführt, mit hübschen Schnitzereien verziert, fromme oder weise Sprüche in das blanke Holzwerk geschnitten. Mit den neuen Häusern hielt die neue Zeit auf Maloja triumphierenden Einzug. Obgleich Maira selbst die neue Zeit in ihren Heimatsort bringen half – die erste Schule auf Maloja! –, so schaute sie doch unfreundlich auf die machtvoll redenden Zeugen einer anbrechenden Epoche, die auf Maloja selbst von den Steinen verkündet wurde.

Es waren reiche Fremde, die zwischen den Hütten der armen Malojaleute ihre kostbaren Berghäuser aufführen ließen ...

Maira fuhr in ihrem Gedankenmonolog fort: ›Sivo haßt die fremden Eroberer. Allein schon ihretwillen würde er hingehen, wo das Engadin noch einsam ist. Hoch muß er steigen, um dem Gewimmel entrinnen zu können ... In welchem eigentümlichen Ton er heute von Rom sprach. Er muß in Rom etwas erlebt haben. Was kann es wohl sein? In Rom malte er das Gletscherweib. Er sagte heute: etwas davon sei damals in seiner Seele gewesen. Also etwas, das mit seinem Bilde zu tun hat – mit dem Gletscherweib ... Wer sie gewesen sein mag? Eine von diesen wunderschönen Römerinnen, die keine Seele haben sollen? Und die Sivo Courtien geliebt hat? ... Sivo Courtien lieben ... Er sagte ja doch, daß er nur eine Gottheit haben darf und haben will! Niemals ein Weib, niemals eine Geliebte ... nein, nein! Dieser Mann muß vom Weibe so frei bleiben wie ein katholischer Priester. Bleibt er das nicht, so vollendet er nicht sein Werk, welches sein Lebenswerk sein soll ... Frei bleiben vom Weibe – das liegt nun einmal in seiner Natur, und des Menschen Natur ist sein Schicksal.‹

Über der kleinen Ortschaft, unweit des Sees, zwischen den Hütten von Cresta und den Felsen des Piz Lunghin, ragte ein neues Haus auf, mächtig und prächtig wie ein Palast. Es war das Malojahotel, eine kühne Unternehmung, die in dem mit eleganten Fremdenherbergen überreich gesegneten Lande ihresgleichen nicht hatte. Ein vornehmer Herr, ein belgischer Graf, war der Gründer, der – Spekulant. Den Luxus europäischer Großstädte hatte der Mann vereinigt und auf den wilden Maloja gebracht. Wie die Burg eines siegreichen Feindes überragte das neue Haus die armseligen Wohnstätten der Malojaleute, deren »Krämerseelen« den gefährlichen Gegner hineinließen in ihr freies, von geldgierigen Spekulanten bis dahin noch unberührtes Gebiet.

Maira wandte sich ab von dem Anblick des neuen Maloja. Aber auch dem Dorfe kehrte sie den Rücken, dem väterlichen Mesnerhause zuschreitend. Es lag am äußersten und höchsten Punkt der Felsenhalde, die sich vom See hinauf nach der Paßhöhe erstreckte, und war das älteste Gebäude auf dem ›maloggio‹, an der Stelle errichtet, wo einstmals ein Wachtturm der Urbewohner gestanden. Trümmer dieses Bollwerks gegen die in die Alpenwildnis vordringenden Römer hatten dem ersten Erbauer des Mesnerhauses als Material gedient, und das graue Gemäuer beherrschte auch jetzt noch den Ausblick sowohl ins Bergell, nach Italien, wie nach dem Engadin, in die Schweiz: eine Umschau, der würdige Sitz eines Alpenkönigs.

Da Maloja noch kein eigenes Schulgebäude besaß, so hatte die Gemeinde die Schule in das Haus der Gründerin verlegt, darin sich einige unbenutzte Räume befanden. Es waren zwei gewölbte und getäfelte Zimmer, zur Schule nicht für die verschiedenen Geschlechter, sondern für die verschiedenen Alter bestimmt. Das junge Unternehmen gedieh so kräftig, daß die Gemeinde beschloß, der strebsamen Lehrerin einen Hilfslehrer beizugeben. Das war gerade jetzt geschehen und die Wahl auf einen jungen, der ladinischen Landessprache mächtigen Bergeller gefallen, der den Malojaleuten jedoch bereits als »Welscher« galt. Die Ankunft des neuen Lehrers wurde seit Tagen erwartet.

Indem sie der Paßhöhe zuschritt, kehrten Mairas Gedanken abermals zu dem Gespräch mit dem Jugendfreunde zurück. Ihre bewegte Seele spann daran weiter wie an einem lichten Gewebe, darin sie sich in grauen Zeiten einhüllen wollte. Es war indessen ein dunkler Einschlag dabei: ›Das Unheilsweib vom Monte della Disgrazia – er behält es bei sich, damit niemand es sehen, niemand wünschen soll, es zu kaufen. Weshalb trennt er sich nicht von dem Bilde? Gewiß hat es damit eine eigene Bewandtnis. Auch mir gegenüber bleibt er stumm. Als spräche er jemals zu mir von Dingen, die er selbst sinnt! Nur heute. Als könnte ich von ihm fordern, sich mir anzuvertrauen! Er muß auch der Freundschaft fernbleiben, der Dankbarkeit. Dankbarkeit. Von ihm zu mir gesprochen, ist es ein häßliches Wort. Gegen Arnold Böcklin darf er dankbar sein ... Seine Schulden an ihn bezahlt er mit seinem Lebenswerk: sowohl seine Ehrenschulden wie seine Liebesschuld. Trotzdem sollte er das Bild mit dem rothaarigen Weibe verkaufen. Es zu behalten, ist von ihm nicht recht; es ist – schwach.‹

Sie erschrak. Der Gedanke, der Courtien der Schwäche zieh, war eine Beleidigung des Freundes. Und sie war es, die ihm eine solche zufügte, wenn auch nur in ihren geheimsten Gedanken. Konnte auch in dieses Mannes Seele menschliche Schwäche sein? Gewiß, da auch dieser Mann ein Mensch war.

Sivo Courtiens Schwäche, an die Maira heute schon zum zweitenmal denken mußte, gab ihr eine ganz neue, qualvolle Vorstellung. Sollte er wieder einmal ihr gegenüber eine gute Stunde haben, so wollte sie ihm ihre Gedankensünde beichten und ihn zugleich bitten, das Bild zu verkaufen, um von seiner Doppelschuld an Arnold Böcklin die eine zu zahlen. Gewiß überwand er seine Schwäche und trennte sich von dem unheimlichen Bilde. Wer sein Haus dort oben baute, wohin der Weg durch sturmgepeitschtes, von Blitzen durchzucktes Nachtgewölk führte, über Gletscherspalten hinweg, an Abgründen entlang – diesen Mann sollte menschliche Schwäche wie Schwindel befallen können?

Sie stand jetzt selbst auf freier Höhe. Unter ihr das grüne Bergell, durchzogen von der weißen, weithin schimmernden Straße, die hinabführte, wo die Luft milder wehte, die Sonne heißer schien, die Welt voller Anmut war. Niederwärts blickend vernahm sie fernes, leises Rauschen. Es war die Stimme der Maira, die auf Maloja entsprang und nach der sie genannt worden war. Tiefer unten sollte das wilde Gletscherkind im Schatten von Kastanienhainen zwischen Rebgefilden sanft dahinfließen; wohlgestaltete, fröhliche Menschen sollten an seinem Ufer wohnen, und in schönen Sommernächten lauschten Liebesleute auf seine leise Musik, die dort unten gewiß eine zärtliche Melodie hatte.

Das Mädchen, das Sivo Courtien liebte, würde niemals solche süße Weisen hören ... deshalb tauschte es doch nicht mit den Glücklichen in der sonnigen Tiefe.

Später am Tage schickte der Gemeindevorsteher einen Boten nach dem Schulhause hinauf: der welsche Lehrer sei eingetroffen. Ob er beim Mesner Quartier bekommen könnte? Der Herr Pfarrer, bei dem deswegen angefragt worden, habe sagen lassen: ihn gehe die Schule nichts an. Wohin also mit dem Lehrer? Es sei ein feiner Mensch, blutjung. Und der Gemeindediener fügte hinzu: »Der richtige Welsche! Weshalb wir wohl hier oben die Welschen brauchen?«

»Weil für das Geld, das die Gemeinde dem Manne zahlt, von dem sie ihre Kinder unterrichten läßt, kein Ladiner zu uns heraufkommt. Wir müssen daher für unsere Kinder einen Fremden haben. Franzosen, Amerikaner und Engländer bringen uns das Geld, und die Italiener bauen unsere Straßen, mähen unsere Wiesen und sollen jetzt auch unsere Kinder für den kärglichsten Lohn unterrichten. Des Geldes wegen haben wir hier oben die Fremden: solche, die uns das meiste bringen, und solche, die uns das wenigste nehmen. Der Lehrer, der ein feiner Mensch sein soll, erhält einen Hungersold. Müßte er davon auch noch seine Wohnung zahlen, könnte ihn die Gemeinde bald begraben lassen. Also mag er bei uns wohnen.«

Maira erteilte diesen Bescheid in ihrer gewöhnlichen gelassenen Art. In ihrer Stimme sowohl wie in ihrem ganzen Wesen mußte jedoch heute etwas Besonderes liegen; denn der alte Mesner, der den Gemeindeboten zu seiner Tochter gebracht hatte, meinte erstaunt: »Was hast du nur heute? Du ärgerst dich wohl über den Pfarrer, weil er den Lehrer nicht bei sich wohnen lassen will? Es ist nun einmal so, daß dem geistlichen Herrn dein Schulwesen nicht recht ist. Ich habe deswegen genug von ihm auszustehen. Jetzt nimmst du gar den Lehrer ins Haus, damit wir ihm in allem entgegen sind.«

Die Getadelte entgegnete herb: »Über den Pfarrer spreche ich nicht. Er wandelt seinen Weg zum Himmel, und ich gehe den meinen auf der Erde. Das sind zwei Straßen, die nirgends und niemals zusammentreffen. Nicht einmal in der Kirche beim Hochamt.«

Der Alte klagte: »Du trotzest dem Pfarrer, und dein Vater ist Mesner. Das nimmt kein gutes Ende.«

Maira brach das Gespräch ab und kam wieder auf den Ankömmling zu reden: »Da ich nun einmal für die Schule einstehe und da sie in keinem anderen Hause den Mann, der ihre Kinder unterrichten soll, ohne Bezahlung aufnehmen, so bitte ich dich, ihn bei uns wohnen zu lassen. Wir haben ja das Zimmer der Mutter leer.«

»In diesem soll der Fremde wohnen?«

»So tut die Mutter noch im Tode Gutes. Gib also deine Einwilligung.«

»Was hülfe mir's, gäbe ich sie nicht? Selbst der Pfarrer wird verstehen, wenn ich ihm sage: ›Meine Tochter Maira wollte den Lehrer im Hause wohnen haben.‹ Wo ist er jetzt?«

Der Gemeindediener berichtete: »Ich brachte ihn zum geistlichen Herrn und ließ ihn dort, obwohl er gleich anfangs mit mir heraufkommen wollte. Er muß wohl von der Lehrerin gehört haben. Denn er fragte mich beständig nach ihr aus; und ob es wahr sei, daß –«

Die Lehrerin fiel dem Redseligen verweisend ins Wort: »Ich frage Euch nicht nach ihm aus.«

Der Mesner war neugierig geworden. »Weshalb brachtet Ihr den Welschen eigentlich zum Pfarrer, dem die Schule ein Ärgernis ist? Ihr hättet ihn gleich zu uns führen sollen.«

»Der Vorsteher wollte es so«, entschuldigte sich der Gemeindediener. »Es scheint ihm schicklicher, wenn der Lehrer bei dem Herrn Pfarrer wohnen würde.«

Maira verstand die Meinung des Vorstehers nicht gleich; aber sie wiederholte unwillkürlich: »Schicklicher? – Und jetzt ist der Lehrer noch immer bei dem Herrn Pfarrer?«

»Und wartet dort auf Bescheid. Er ist, wie gesagt, blutjung. Und bildhübsch. Wäre er woanders Lehrer, würden ihm die Frauenzimmer nur so nachlaufen. Bei uns hier oben ist nicht Brauch, was sonst überall Brauch ist, wo es junge Burschen und junge Mädchen gibt. Wir hier oben kennen keine Liebschaften.«

Der Mann lachte. Aber die Tochter des Mesners machte zu seinem Scherz ein ernstes, fast finsteres Gesicht. Das machte sie freilich immer. Deshalb scheuten die Kinder sie auch, die sie doch lieben sollten ... Der Bote erkundigte sich: ob Vater und Tochter die Sache mit dem Lehrer überlegt hätten und er den Fremden wirklich heraufholen sollte? Der Mesner warf seiner Tochter einen unsicheren Blick zu; Maira jedoch erteilte dem Boten den Bescheid: »Ihr hörtet, daß für den jungen Mann im Hause Platz ist. Was fragt Ihr noch?«

»Es ist ja nur der Leute wegen. Freilich gibt es bei uns keine Liebschaften.«

Der Mann wollte wieder lachen; aber der Blick der Lehrerin, den sogar die Kinder scheuten, machte ihn verstummen.

Jetzt erklärte der Mesner, selbst zum Pfarrer zu gehen, um mit dem Hochwürdigen ein Wort über den Lehrer zu reden. Da er ein feiner Mensch sein sollte, hatte der geistliche Herr vielleicht Gefallen an ihm gefunden und behielt ihn doch bei sich in seiner großen Einsamkeit – was immerhin besser und schicklicher sein würde. Doch äußerte er nichts von dieser leisen Hoffnung.

Maira rief die ladinische Magd, um inzwischen für den unerwarteten Gast das Zimmer richten zu lassen. Es war seit dem Tode der Mutter nicht benutzt worden. Die verstorbene Mesnerfrau hatte darin ihren Webstuhl aufgestellt gehabt, an dem jetzt während des langen Winters in der großen gemeinsamen Wohnstube die alte Dienerin mit steifen Händen das Schifflein warf. Als das junge Mädchen die Tür öffnete, schlug ihr eine dumpfe Luft entgegen, so daß sie in der offenen Tür unwillkürlich stehenblieb und schwer Atem holte ... War es klug, die Tür, die so lange verschlossen blieb, für einen Fremden wieder zu öffnen? Sie fragte jedoch niemals nach dem, was klug sei, sondern nur nach dem, was recht war. Und unter den gegebenen Verhältnissen war es das Rechte, dem erbärmlich besoldeten Lehrer die Wohnungskosten zu sparen. Also überwand sie ihr Unbehagen, trat entschlossen in den dämmerigen Raum und stieß den Fensterladen auf. Plötzlich strömte Licht, Luft und Schönheit herein, die ganze leuchtende Malojaherrlichkeit. Aus dem Fenster blickte man tief in das grüne Bergell hinab, nach dem wonnigen Italien hinüber, und in schlaflosen Nächten konnte der Bewohner des Zimmers auf das Rauschen der jungen Maira lauschen, die an ihrem Ursprung nur wilde Weisen hatte. An Sommertagen übertönte jedoch das schrille Gezwitscher der Schwalben jeden anderen Laut. Die traulichen Vögel schossen zu Scharen vor dem Mesnerhause über dem Abgrund hin und her, wie in angstvoller Flucht vor einem unsichtbaren Feinde.

Maira ließ an das Fenster einen Tisch stellen. An diesem Tisch konnte der junge Lehrer schreiben und arbeiten. Richtig – er war jung. Auf Maloja gab es keine jungen Männer. Die männliche Jugend von Maloja verließ ihren hohen, wilden Heimatsort. In alle Fernen zog sie aus, zu fremden Nationen, um bei Fremden Geld zu erwerben, was sie auf Maloja nicht konnte. Geld erwarben auf dem öden Alpenpaß nur diejenigen, die am Ufer des Sees den Riesenpalast erbauten, um aus Malojas erhabener Schönheit, seiner Alpenluft und seinem Firnenglanz Millionen zu prägen.

Es gab auf Maloja keine jungen Männer ... War Sivo Courtien kein junger Mann? Bei ihm dachte niemand an seine Jugend, sondern nur daran, daß er anders, ganz anders sei, als sonst junge Männer sind: eben – Sivo Courtien!

Die junge Lehrerin von Maloja kannte also keinen jungen Mann. Jetzt würde sie einen kennenlernen. In wenigen Stunden sollte das alte Haus auf der Paßhöhe einen Mitbewohner bekommen, den ihr Wille in das Haus brachte. Würde das junge Leben dem alten Hause zum Segen gereichen?

Das Zimmer für den Unbekannten herrichtend, mußte sie wider Willen sich vorstellen, wie er wohl aussehe? Ein feiner Mensch sollte er sein; nicht nur blutjung, sondern auch bildhübsch. Gewiß würden die Kinder ihn liebgewinnen. Die Kinder! Darauf kam es an; darauf allein. Der junge Lehrer mußte den Kindern seinen ganzen Menschen geben; sie mußten von ihm lernen, ihre Seelen von ihm vorbereiten lassen für das Leben, das auf Maloja hart und rauh war. Denn was der geistliche Herr an den Seelen der Kinder tat, war für das Leben nicht genug – obgleich es Gottes Wort war: das strenge, starre Bibelwort, Buchstabe für Buchstabe. Zu einer guten Vorbereitung für das Menschenleben gehörten auch Menschenworte. Deshalb hatte sie Lehrerin werden wollen. Aber ihr Wissen, das Wissen eines jungen Weibes, das die Welt nicht kannte, war zu gering. Es galt, aus Knaben Männer zu erziehen. Das vermochte nur der Mann. Also hatte sie nicht geruht, bis sie ihrer Schule für die Knaben den Mann beschafft.

Würde dieser für Maloja der rechte sein? Blutjung nannte ihn der Bote. Ein Älterer wäre besser gewesen. Auch »schicklicher« als Hausbewohner – nach der Meinung der Leute. Die Leute würden reden. Über wen? Über sie und den blutjungen, bildhübschen Lehrer, der zu ihnen herauf aus »Welschland« kam, wo die Maira zum Geflüster glücklicher Paare zärtliche Melodien rauschte. Sie wollte den Leuten von Maloja zeigen, was das Gerede ihr galt. Als hätte sie an nichts anderes zu denken! Als wäre die Frau, die eine große Liebe in ihrer Seele trug, nicht gefeit und geweiht! Was die Leute reden und flüstern würden, wenn sie erst wüßten –

Die Magd hatte das Bett gerichtet, war hinausgegangen, kam jetzt zurück, die Schürze voller Wacholderzweige. Sie fand die Herrin mitten im Zimmer stehen, mit verlorenem Blick, verträumtem Lächeln vor sich hinschauend, kaum merkend, daß die Dienerin die blanke Diele mit dem graugrünen Blattwerk bestreute und leise wieder hinausging. Das ärmliche Gemach sah in dem Schmuck der Zweige fast festlich aus.

Mit dem verlorenen Blick und verträumten Lächeln vor sich hinsinnend, geleitete Mairas Seele den Freund durch Schnee und Lawinengefahr zu seinem hohen Hause hinauf: ›Jetzt wird er oben sein. Hoffentlich traf er am See Gian Vital, den Kapuzinerjäger, der »auch einer« ist. Vielleicht konnte er trotz dessen Hilfe nicht ganz hinaufgelangen. Dann käme er schon morgen wieder zurück ... Schon morgen wieder zurück kommt er bestimmt. Will er heute doch nur nachsehen, ob sein Haus überhaupt zu erreichen ist ... Wie schön, daß er wieder zurückkommt! Wie schön, einen geliebten Menschen erwarten zu dürfen! Schön auch dann, wenn dieser geliebte Mensch selbst nichts davon weiß. Wozu braucht er's zu wissen? Als ob es ihn etwas anginge?‹

Indem sie des fernen Freundes gedachte, legte sich ihre Unruhe über die Ankunft des Fremden. Nein – ihre Liebe ging den Geliebten nichts an. Die Vorstellung: er könnte davon jemals erfahren, besaß für sie etwas unsäglich Quälendes. Ihre Liebe mußte ihr Geheimnis bleiben. Mit solchem Geheimnis in der Seele lebt eine Frau mitten im Gewühle der Welt und gebannt in die Tiefe wie auf Alpengipfeln. Es würde sie hinunterreißen, hörte ihre Liebe auf, Geheimnis zu sein ... Es sollte für die Frau schwer sein, ihrer Liebe zu entsagen, sollte das schwerste aller Martyrien sein, ein lebendiger Tod. Es gab jedoch Frauen, die eines solchen lebendigen Todes sterben und dabei lächeln konnten.

So denkend, lächelte Maira ...

In diesem Augenblick hörte sie auf dem Flur ihren Vater nach ihr fragen und gleich darauf eine fremde Stimme voller Weichheit und Wohllaut – die Stimme des neuen Hausgenossen. Niemals hatte Maira solche Männerstimme gehört. Es lag Musik darin, die seelenumstrickende Anmut des Südens. Sivo Courtien würde die weiche, klangvolle Stimme nicht leiden können, würde sie unmännlich, weibisch finden, Und wie die Stimme würde ihm sicher der ganze Mensch widerwärtig sein. Wie ungerecht von ihr, daß auch sie, bei dem bloßen Klang der fremden Stimme, eine heftige Abneigung gegen den Mann empfand, der ihr Hausgenosse sein sollte, den sie selbst dazu gemacht hatte. Es hatte etwas Erschreckendes, wie jeder ihrer Gedanken, jede ihrer Empfindungen von ihrer Liebe beherrscht wurde; und zwar in einem Maße, daß es sie zu Ungerechtigkeiten verleitete. Dagegen mußte sie sich wehren. Wozu hatte sie denn ihren Willen, der in ihr ja doch eine Kraft war? Ihr Wille lehnte sich auf gegen ihr Gefühl, das dem Fremdling unfreundlich begegnen wollte.

Jetzt traten die beiden Männer in das Zimmer. Mit vergnügtem Gesicht rief der Mesner seiner Tochter zu: »Hier bringe ich ihn! Er heißt Dionisio Fidora und freut sich wie ein Kind, daß er bei uns wohnen darf. Ich sagte ihm, du wünschtest es so, und was du wünschtest, müßte sein. Darüber wollte er sich totlachen. Er lacht immer. Auch Mandoline spielt er und singt. Denke doch – bei uns oben ein Mensch, der immerfort lacht, spielt und singt! Der Pfarrer hätte ihn gewiß nicht fortgelassen, wenn er nicht der Lehrer wäre ... Das also ist meine Tochter Maira, und dieses Ihr Zimmer.«

Während der Mesner ganz gegen seine Gewohnheit fröhlich schwatzte – nicht anders, als hätte der Jüngling mit dem dionysischen Namen dem mürrischen Alten etwas von seiner sonnigen Heiterkeit gegeben –, standen Maira und der »Welsche« einander gegenüber und sahen sich an: schweigend, beobachtend, prüfend.

Trotz der Ärmlichkeit seines Anzugs war der Fremde wirklich ein »gar feiner« Mensch. Auch »bildhübsch«. Das Mädchen von Maloja hatte nicht gewußt, daß ein Mann etwas so Anmutiges und Leuchtendes haben könnte. Aber ohne ihren Vorsatz, nicht voreingenommen zu sein und keine Ungerechtigkeit zu begehen, würde sie den Fremden entschieden mit den Augen Sivo Courtiens angesehen haben, den die fast frauenhaft zarte Schönheit des jungen Lehrers sicher abstieß. Trotz ihres Vorsatzes konnte sie eine Wallung von Erregung nicht unterdrücken, als sie in dem unverwandt auf sie gerichteten Blick des Jünglings unverhohlene Bewunderung las; etwas wie Staunen darüber, daß sie die Lehrerin von Maloja sein sollte und daß sie noch so jung und – so schön sei.

Unter den bewundernden Blicken des Fremden erbleichend – als Sivo Courtien ihr heute sagte, daß sie schön sei, stieg ihr eine heiße Blutwelle ins Gesicht –, wollte sie zurücktreten und sich abwenden. Aber Dionisio Fidora brach plötzlich in ein helles Lachen aus. Maira hatte noch niemals einen Menschen so hell lachen hören, hatte gar nicht gewußt, daß ein Mensch so sonnig lachen – überhaupt so sonnig jung sein könnte. Es klang so siegreich, als ob von dem Lachen des Fremden ein Zauber ausginge. Vielleicht, daß diesem nur Frauen verfielen. Jedenfalls waren es dann Frauen von einer anderen Art als sie ... Was für weiche, rote Lippen er hatte! Sie glühten förmlich in dem südlich bleichen Gesicht ... Ein Unheil konnte von diesem großen Knaben für das Mesnerhaus übrigens keinesfalls kommen; und die Kinder würden den jungen Lehrer lieben – gerade um seines leuchtenden Lachens, seines Lautenspiels und Gesanges willen. Der Jüngling mit dem Namen des großen griechischen Gottes würde inmitten der Kinderschar sitzen, ihnen Mandoline vorspielen, Lieder vorsingen; würde Melodien, Jugend und Lebenslust nach Maloja bringen, drei göttlich schöne Dinge, die sie selbst den Kindern von Maloja nicht geben konnte. Aber sie freute sich, daß ein anderer gekommen war, das schöne Liebeswerk an den jungen Seelen zu vollziehen.

Das Lachen des Lehrers flog wie ein Sonnenstrahl durch das Zimmer. Erst jetzt schien dieses seinen Schmuck zu erhalten; und Maira hatte doch vorhin geglaubt, die duftenden Zweige hätten des Gastes Kammer festlich gemacht.

Der Tochter des Hauses die Hand entgegenstreckend, sagte Dionisio Fidora: »Jetzt weiß ich, weshalb es mich nach Maloja hinauftrieb: weil Sie hier oben sind!«

Maira hatte die ihr entgegengestreckte Hand genommen und wollte die ihre sogleich wieder zurückziehen, fühlte sich jedoch festgehalten. Der »große Knabe« hatte eine Hand so weich und zart, als könnte sie nur die Laute spielen. Aber ihr Druck war so stark, daß Mairas Hand schmerzte, als sie diese gewaltsam aus der Umklammerung löste.

Der heutige Tag hatte für Mairas Seele Sturm gebracht. Ihrer Gewohnheit gemäß suchte sie Beschwichtigung des inneren Aufruhrs in der Natur. Stets gab ihr dieses Allheilmittel die Ruhe zurück, und ihre Ruhe war jene Kraft, um derentwillen ihr Freund sie hochhielt. So ging sie denn hinaus.

Das von den Gluten des Sonnenuntergangs entzündete Schneegebirge spiegelte sich in der veilchenblauen Seeflut, auch diese in Brand setzend. Himmel und Erde waren voll der feierlichen Schönheit des scheidenden Tages, und allen Menschen schien die Botschaft verkündigt: Friede auf Erden! Sivo Courtien hätte an diesem Abend keine Beobachtungen für sein Lebenswerk anstellen können: es war eine Welt, darin Stürme und jagende Nebel Traumgebilde zu sein schienen.

Von ihrer Sehnsucht nach dem Entfernten getrieben, suchte Maira sein Haus auf, jene Hütte des toten Gemeindehirten am Crap da Chüern. Auf dem Wege dahin kam sie an dem »Grand Hotel« vorüber. Der steinerne Palast lag noch öde da, doch war alles für den Empfang vieler Gäste vorbereitet. Das junge Mädchen warf im Vorübergehen einen flüchtigen Blick in die prächtige »hall«. Unter blühenden Orangenbäumen waren orientalische Teppiche gebreitet und englische Möbel aufgestellt. In der von Glaswänden umschlossenen Galerie promenierten die wie Kammerdiener gekleideten Kellner, und ein betreßter Portier faulenzte im Portal.

›Diese ungeheure Fremdenherberge ist für Maloja unheilvoller als der Monte della Disgrazia‹ – dachte Maira voller Groll und warf einen feindseligen Blick auf den Koloß.

Wo die Landstraße hart am Seeufer hinführte, kam der einsamen Spaziergängerin eine Extrapost entgegen. Die Pferde jagten förmlich, so daß Maira unwillkürlich beiseitetrat, um den Wagen vorüberzulassen.

›Wer war das? Welch eigentümliches Gesicht! Weshalb sah die Dame mich an? Es war ein böser Blick. Wäre ich aus dem schönen Lande Italien, würde ich glauben, sie hätte den Malocchio und dieser mich getroffen. Sivo müßte dann ein großes Unglück geschehen; denn nur das wäre auch eins für mich ... Ob sie schon ein Gast für Maloja ist? ... Welches Haar, welche Augen! Und schön wie – die Sünde! ... Welche törichte, häßliche Redensart! ... Wer mag sie sein?‹

Maira stand und blickte dem Wagen nach. Er fuhr nicht die Straße, die nach der Paßhöhe hinaufführte, sondern bog ab, dem Hotel zu. Sie sah, wie Portier und Kellner herausstürzten, wie der Wagen hielt, wie der Direktor herbeieilte und die schöne Frau mit den unheimlichen Augen empfing, vor ihr sich verneigend, als wäre sie eine Fürstin.

›Sie scheint erwartet zu sein, scheint zu bleiben. So einsam in dieser Einsamkeit! ... Wüßte ich nur, an wen sie mich erinnert? Ich kenne ja doch niemand, der ihr gleichen könnte; kenne überhaupt keine Dame. Und gar solche ... Ich werde dieses Gesicht, diesen Blick niemals vergessen!‹

Erst nach Anbruch der Nacht kam Maira nach Hause. Schon von weitem klangen ihr Mandolinenspiel und Gesang einer weichen Männerstimme entgegen. In dem alten ruinenhaften Hause auf der wilden Paßhöhe Spiel und Gesang!

Was sang der Fremde mit dem sonnigen Lachen, der sie heute aus erstaunten Augen mit bewundernden Blicken betrachtet hatte und der fortan mit ihr unter einem Dache leben sollte: jahraus, jahrein; während des kurzen, traumhaften Sommers und während des endlos langen, trostlos traurigen Winters?

Während des Winters, wo Sivo Courtien nicht auf Maloja war, sondern sich droben begrub unter Schnee und Eis, an seinem Lebenswerk, seiner »Alpentragödie« arbeitend.

Und dieser Fremdling spielte und sang, lachte und –

Und würde sich sterblich verlieben, wenn er nicht auf Maloja Lehrer wäre, wo es keine Liebespaare gab.

Plötzlich ertappte sich das junge Mädchen, das Sivo Courtien liebte, dabei, daß sie in der dunklen Nacht vor dem Hause stand und, mit einer Sehnsucht im Herzen, daß es ihr Herz zu zersprengen drohte, dem Spiel und Gesang des dionysischen Jünglings zuhörte:

»Ti vogli ben assai,
E tu non pensi a me ...«


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