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17

Gottesdienst auf Maloja!

Die Morgenröte entzündet auf dem silberschimmernden Altar der Wintererde die Kerzen. Hoch droben, in Himmelsnähe, zeigt sich plötzlich eine mystische Glut. Sie wächst, ergreift die höchsten Gipfel, steckt die Eisgefilde in Brand, wälzt sich über die weißen Klippen, loht geheimnisvoll auf, wird zu flammendem Purpur.

Violette Schatten decken die Tiefen, veilchenblaue Dünste steigen auf. Wo sie in das himmlische Feuer quellen, verwandeln sie sich zu glühenden Dämpfen, welche die lodernde Alpenkette umbrauen. Der Himmel färbt sich über dieser Welt winterlichen Morgenglanzes mit dunklem Widerschein. Der fernste Gipfel wird zum Fanal. Über den verschneiten Seen von Maloja und Silvaplana zeichnet sich auf der schimmernden Scheibe des Äthers der edle Umriß der Crestalata ab.

Die Gluten erblassen ... Plötzlich schießen über dem Bacone gewaltige Strahlen auf, eine biblische Glorie! Die lauschende Seele vernimmt in der Feierstille das Brausen der Sphären.

Sonnenaufgang!

Noch bleibt die hohe Himmlische dem Auge unsichtbar; aber ihr flutendes Gold umrieselt bereits die Alpenspitzen, die noch soeben in Morgenröte erstrahlten. Über dem weißen Gipfel leuchtet es auf. Zuerst nur ein Punkt. Jetzt schon ein Streifen. Und jetzt – alles ist Glorie und Glanz!

Die Sonne, die Sonne!

Das Allerheiligste schwebt feierlich, siegreich über Maloja empor. Aber die kleine Gemeinde der Alpenbauern, für deren Leiden Christus am Kreuz starb, will das Allerheiligste in der Kirche haben, in dem dürftigen Bethause auf der Hügelwelle, die der Schnee geebnet hat.

Das Glöcklein ertönt; und die Mühseligen und Beladenen ziehen herbei. Aus den Hütten, die Höhlen gleichen, kommen sie hervor in den Glanz des Wintersonntags zu der großen Feierstunde ihres Lebens, in der auch für sie der Wein sich wandelt in göttliches Blut, auch für sie aller Wunder wunderbarstes und wundervollstes sich vollzieht. Es kommt die Lehrerin von Maloja, die ihr Kreuz trägt, ohne daß ihr der Herr dabei hilft, aus eigener Kraft. Sie muß sich gefallen lassen, daß sie nicht allein kommt. An der Seite des fremden Jünglings schreitet sie, als wäre sie in der Heimat eine Fremde und müßte einem inneren Zwange folgen. Gefallen lassen muß sie sich, daß alle auf sie blicken. Sie weiß, alle empfinden: ›Obgleich du eine der Unseren bist, gehörst du nicht zu uns!‹ Und alle empfinden den Gegensatz zwischen den beiden jungen Menschen – selbst diese biederen, dumpfen Malojaleute! Selbst sie blicken scheu dem Mädchen in das von einer dunkeln Seele umschattete Gesicht und freuen sich über das Leuchten in dem Antlitz des Jünglings, der ihre Kinder Melodie und Lied lehrt. Sie sollen ihn heute in der Kirche singen hören: einen Hymnus der Lebensfreude zum Preise der Gottheit.

Die Kirchgänger grüßen Lehrer und Lehrerin. Aber nur der junge Mann dankt, nach allen Seiten hin nickend und lächelnd, als empfinge ein Fürst die Huldigung seines treuen Volks. Er hat die Souveränität der Jugend und Schönheit, dieser Sohn armer Seidenweber aus dem Bergell. Maira merkt nichts von dem, was um sie vorgeht. Sie blickt so tief in sich hinein, daß sie von der Welt nichts gewahrt; nicht einmal die heilige Morgenschönheit des Sabbats.

Auch jetzt schaut sie nicht auf. Aber sie scheint zu fühlen, wer ihnen in der Nähe der Kirche auf dem weißen Pfade entgegenkommt. Dionisio gewahrt es sofort; und er weiß: jetzt verspürt sie einen Schmerz, als würde ihre Seele gesteinigt; jetzt erschauert die ruhige Gestalt an seiner Seite, die für ihn wie in Wolken gehüllt dahinwandelt, in seiner nächsten Nähe unnahbar für ihn, unberührbar selbst für den Hauch seines Mundes. Er freut sich der Qualen, die sie leidet. Sein Lächeln und ganzes Wesen wird womöglich noch sonniger. Ein nichtswürdiges Empfinden ist's! Der junge Mensch ist sich dessen vollkommen bewußt. Er wirft jedoch alle Schuld dafür auf sie, die es ihm einflößt. Sie hat ihn dahin gebracht! Und sie wird ihn noch zu anderem Schlechten und Schändlichen bringen.

Diese Gedanken und Gefühle auf dem Gange zur Kirche, wo er als Gottessänger dem Herrn dienen soll ... Plötzlich weiß er: die vornehme Dame, deren Nähe seine Begleiterin erbeben machte, geht zur Kirche, um ihn singen zu hören. Es schmeichelt ihm nicht – bei aller seiner Eitelkeit nicht! Singt er doch in der Kirche nicht etwa für den Herrn des Himmels und der Erde, sondern für Maira à Mara. Nur für sie! Und nur ihretwegen freut es ihn, daß die Geliebte Sivo Courtiens kommt, um seinen Gesang zu hören; denn auch Maira wird die Ursache ihres Kommens erraten, und es muß Eindruck auf sie machen: selbst von dieser vornehmen Frau wird der Mann geehrt, der für die Tochter des Mesners nicht auf der Welt ist ...

Maira sah auf. Aber sie dachte bei dem Anblick der Gräfin nicht, daß die schöne Frau gekommen sein könnte, um sie durch ihr Erscheinen zu demütigen. Sie sprach im Geiste die in der Schönheit einer Liebesgöttin leuchtende Nebenbuhlerin an: ›Du Glückliche! Du siehst ihn, hörst ihn. Tag für Tag! Du lebst in seinem Anblick, in dem Klang seiner Stimme, die dir zärtlich zuflüstert, heiße Worte zu dir spricht, Beteuerungen, Schwüre. Dir gehört er. Du kannst über dein Eigentum schalten. Er ist ganz dein. Und du weißt nicht, was dir gehört; denn du zerstörst ihn. Sieh, ich muß dich hassen. Nicht deshalb, weil er dein eigen ist, sondern weil du seine Verderberin bist. Und darum, Gräfin Oberndorff, wird der Tag kommen, an dem ich ihn dir abfordern werde. Er muß bald kommen. Der treue Mann hat recht.‹

Ihre Augen begegneten dem Blick der Rivalin, ihrem lächelnd auf sie gerichteten Blick! Und ihre Gedanken gaben zur Antwort: ›Lächle nur. Ich sehe den Freund nicht; aber ich weiß, er vergeht vor dem Glanz deines Lächelns. Es ist dein bestrickendes Lächeln, das dir das Urteil spricht; denn du hast ihn damit um sein Unsterbliches gebracht, das seine Kunst war.‹

Ein Zufall wollte, daß beide Frauen im gleichen Augenblick vor der Kirchentür anlangten. Die Gräfin schien zu zaudern, schien Maira ansprechen zu wollen. Aber die Lehrerin verweigerte der großen Dame die Anrede und trat vor ihr ein.

Die Abgewiesene bewahrte ihre Haltung; und nur ein Zucken, das über ihr Gesicht glitt, verriet ihre Empfindung. ›Jetzt weiß ich, warum ich ihn nicht lassen will, obwohl ich ihn nicht mehr liebe. Denn – nein, nein, nein: ich liebe ihn nicht mehr! Ihn lassen, hieße: ihn dir lassen. Und dir lasse ich ihn nicht! Nicht du sollst ihn haben, die du, in den Stolz deiner Tugend gehüllt, mir voranschreitest. Nicht du darfst von uns beiden Siegerin sein!‹

Im Augenblick wird diese Gedankenfolge unumstößlicher Entschluß ... Plötzlich vollkommen beruhigt, wollte sie der Nebenbuhlerin nachgehen, blieb jedoch zurück.

Unter dem kleinen Vordach stand, vor der offenen Kirchentür ehrerbietig der vornehmen Frau Platz machend, mit einem eigentümlichen Ausdruck der junge Lehrer, von dem sogar die Fremden im Hotel sprachen, dessen wundervolle Stimme Aufsehen erregte und den singen zu hören Courtiens schöne Freundin diesen sonntäglichen Kirchgang tat. Der Sänger schien am Eingang auf sie zu warten, mit einem Lächeln, wie sie selbst es haben konnte, wenn sie bezaubern wollte – wie sie es noch nicht hatte, als sie damals in Rom den auch für sie verhängnisvollen Atelierbesuch machte.

Die Gräfin Oberndorff sprach Dionisio Fidora an: »Wir begegneten uns schon einmal.«

»Es war im Sommer, und die Enzianen blühten.«

»Auf der Alpenwiese war's. Sie trugen eine blaue Blumenkrone.«

»Ein Knabenspiel!«

»Ihr Haupt ist geschaffen, um Kränze zu tragen.«

»Kronen des Lebens!«

Josette wurde aufmerksam. Ein eigentümlicher Mensch! Ein Dorfschullehrer, und führte solche Sprache! Dazu die Schönheit eines Epheben ... Wie kam er hierher? Was wollte er hier? Weswegen blieb er hier bei seiner seltenen Begabung? ... Er stand leicht von ihr abgewandt, daß sie den klassischen Schnitt seines Profils bewundern konnte, und schaute in die Kirche hinein. Der Gräfin Blick folgte dem seinen und traf die hohe dunkle Gestalt der Lehrerin. Maira hatte hart bei der weißen Wand Stellung genommen, neben einem mühseligen, alten Weiblein, dem sie ihren Platz überlassen zu haben schien; und sogleich wußte die Gräfin, aus welchem Grunde der junge Mensch mit dem strahlenden Lächeln und der glanzvollen Zukunft auf Maloja blieb. Es reizte sie, dem Verliebten etwas zu sagen, das ihn versuchen sollte. Noch vor einem halben Jahre wäre ihr nicht in den Sinn gekommen, diesen jungen Unbekannten anzusprechen. Was kümmerte er sie? Und jetzt gab sie ihm gegenüber einer unedlen Empfindung Ausdruck. Sie sagte: »Sie sind Künstler! Was haben Sie mit diesen Bauern zu schaffen? Sie sollten machen, von hier fortzukommen und Ihre Stimme ausbilden zu lassen.«

»Das will ich.«

»Wann?«

»Sobald ich –«

Er stockte. Auch während er mit der vornehmen Dame sprach, hing sein Blick unverwandt an der schlanken Mädchengestalt, die so regungslos neben der weißen Wand stand, als wäre sie eine Bildsäule: eine Statue der Unbefleckten selbst – so edel waren die Linien des jungfräulichen Leibes.

Als wollte sie den Jüngling nicht aus seinem verzückten Anschauen reißen, meinte die Gräfin leise: »Ich komme, um Ihren Gesang zu hören. Aus dem Hotel kommen Ihretwegen viele an diesen heiligen Ort: Sie machen uns Weltleute fromm. Dennoch dürfen Sie nicht in solcher Öde bleiben.«

»Nein.«

»Wenn ich Ihnen helfen kann, von hier fortzukommen –«

»Gnädige Gräfin sind sehr gütig,«

»Also vielleicht auf Wiedersehen.«

»Vielleicht.«

Dionisio wußte kaum, was er seiner neuen Gönnerin zur Antwort gab, sah kaum, daß sie, huldvoll ihn grüßend, an ihm vorüber in die Kirche ging, hatte nur Augen und Sinn für die Madonnengestalt neben der weißen Wand ... Sie mußte doch empfinden, was soeben am Eingange geschah, mußte sich umwenden ... Wenn sie ihn dann mit der Frau sprechen sah, von der sie gehaßt ward ... Mit dieser vornehmen Dame hätte er leichteres Spiel gehabt, obgleich –

Dionisio mußte sich Gewalt antun, um nicht verächtlich aufzulachen. Auch über den Mann, der ein großer Künstler sein wollte und an einer Gräfin Oberndorff zugrunde ging, während die himmlische Liebe selbst nach ihm ihre Anne ausstreckte. Ein Wahnsinniger der Mann, der sie nicht sehen wollte ... Ein Wahnsinniger aber auch der, für den sie sich niemals öffnen würden und der trotzdem darauf wartete ... Wirklich niemals? Das Leben war so wunderlich! Was konnte sich in diesem wunderlichen Leben nicht ereignen? Deshalb wollte er noch eine Weile in der Öde ausharren ...

Unter solchen Betrachtungen begab er sich an seinen Platz auf dem dunklen, engen Chor, um mit dem Wohllaut eines Cherubs den Preis des Höchsten anzustimmen: nicht Gott zur Ehre, sondern weil das Mädchen ihm zuhörte, das den Sivo Courtien liebte und von Dionisio Fidora geliebt wurde; noch immer!

Viele kamen aus dem Grand Hotel, um den Lehrer von Maloja beim Hochamt singen zu hören: Herren und Damen der großen Welt. Sie füllten das kleine Gotteshaus und drängten die Malojaleute aus dem dürftigen Heiligtum, das von ihrer Armut erbaut, von ihren Seufzern geweiht, ihrer Erdennot und Lebensqual geheiligt war. Vor der offenen Tür standen sie, stolz auf den Ruf ihres Gottesdienstes, auf den Zulauf der Vornehmen. Im Schnee sanken sie auf ihre Knie, wenn drinnen das Glöcklein ertönte und das ewig neue Wunder der Wandlung auch für sie sich vollzog, begleitet von dem Jubelgesang der jungen, schmelzenden Männerstimme.

Gerade ging Gian Vital vorbei. Als der ehemalige Klosterschüler und Gemeindejäger die von den Fremden hinausgedrängte Schar andächtiger Beter gewahrte, blieb er wie gebannt stehen und schaute steif hinüber, mit einem Blick, als stiege vor seinen Augen eine Blutwelle auf; mit einem Zucken seiner Hand, als wollte er nach der Waffe greifen, die an der Wand von Courtiens Elternhause hing ... Erst nach einer Weile setzte er seinen Weg fort, der den von der Gemeinde Verbannten ins Murettotal führte, in sein altes Jagdgebiet, und dort so hoch hinauf, wie er auf seinen Schneeschuhen unter schwerer Mühsal gelangen konnte: bis an die Grenze der Vegetation, wo auf dem Felsboden nur noch mühselig hinkriechende Föhren und spärliches Alpenkraut gedieh. Aber schon unterwegs verrichtete er das seltsame Werk, deswegen er den Aufstieg unternahm: mittels scharfer Hacke lockerte er die zu Eis gefrorenen Schneemassen und legte Buschwerk und Gestrüpp frei. Das tat er jetzt Tag für Tag vom frühen Morgen bis zum späten Abend. Es war des Arbeitslosen Lebensbeschäftigung, sein »Lebenswerk«, im Schweiße seines Angesichts vollbracht, bei Todesgefahr: genügte doch bei Föhnwind der Schall der Axt, um eine Lawine ins Rollen zu bringen und dem seltsamen Schneeschaufler das Grab zu bereiten. Hatte er ein gutes Teil seines Tagwerkes vollbracht, so gönnte er sich, hinter einem Strauch verborgen, wohltuende Rast, die zugleich seiner harten Arbeit Lohn war, und harrte der hungrigen Gäste, für die in der grausamen Winterwelt die Tafel bestellt. Wenn sie dann kamen, leuchteten seine Augen auf. Es war jedoch ein anderer Blick als der, bei dem Sivo Courtien ein Grauen anwandelte. Leuchtende Freude war's, helles Frohlocken.

Das Wild, das der wilde Jäger nicht mehr schießen durfte – nicht mehr schießen wollte –, wurde von ihm liebevoll gehegt und durch seiner Hände Arbeit gefüttert. So spärlich das Futter war, kaum etliche Brosamen von dem verschneiten Tisch der Natur, war es doch freigelegt durch eine heimliche Liebestat. Sie konnte als Sühne gelten für die Mordlust des Mannes, der zuzeiten Blut sehen »mußte«.


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